China im Bann der grossen Komplikationen
Die chinesische Uhrenindustrie ist nicht nur Synonym für schlechte Qualität oder Fälschungen. Die Qualität der in China produzierten Luxusuhren nimmt zu. Eine Reportage über Hersteller, die für die Schweizer Uhrenindustrie zur Konkurrenz werden könnten.
Die mächtige, eindrückliche, makellose Statue von Mao Tse-tung wacht über dem Eingang der Pekinger Uhrenfabrik (Beijing Watch Factory) im Distrikt Changping, im Norden Pekings.
Aber sie ist nur noch ein Relikt einer vergessenen Zeit, sicher symbolisch für ein eroberungslustiges China, das aber fortan weltoffen und nach den Regeln der freien Marktwirtschaft funktioniert.
Die 1958 gegründete Uhrenfabrik wurde 2004 privatisiert. «Seither laufen die Geschäfte viel leichter», sagt Direktor Miao Hongbo gegenüber swissinfo.ch. «Als wir ein Staatsbetrieb waren, musste ich 1000 Dienstherren zufriedenstellen. Jetzt bin ich es, der entscheidet.»
Der Direktor trägt am Handgelenk einen Prototyp, der im Herbst dieses Jahres an der Uhrenmesse von Shenzhen präsentiert werden soll. Das Zifferblatt aus Zellenemail zeigt einen Teil der grossen chinesischen Mauer sowie das neue Gebäude des chinesischen Staatsfernsehens.
Das Lederarmband hat die Struktur des Vogelnestes von Peking, des Olympiastadions. «Das macht unsere Einzigartigkeit aus, was uns von der Konkurrent unterscheidet», erklärt Miao Hongbo. «Wir kombinieren chinesische Kultur mit Technologie, um aus unseren Uhren ‹Kulturobjekte› zu machen.»
Die andere Besonderheit der Betriebs in Changping liegt indessen darin, dass sie 1996 die erste Uhrenfabrik in China war, die Tourbillons produzierte. Heute beschäftigt sie 610 Angestellte.
Sie stellt ausschliesslich mechanische Uhren her, 2011 waren es deren 10’000, davon mehrere hundert mit hoher Komplikation (Zusatzfunktionen des mechanischen Uhrwerks wie Datumsanzeige, Jahreskalender, Wecker, Chronograph usw.) und 800’000 Uhrwerke.
Die Produktion ist ausschliesslich auf den chinesischen Markt ausgerichtet, wo die Nachfrage nach Produkten höherer Qualität explodiert. Beim Unternehmen Beijing Watch kosten die günstigsten Tourbillon-Modelle 5700 Franken, die kostbarsten 69’000 Franken.
Werkzeugmaschinen aus der Schweiz
Die Fabrik aus rotem Backstein stammt aus den 1950er-Jahren. Der Geruch von Schmieröl und die Aufreihung der Werkzeugmaschinen, wovon die meisten aus der Schweiz kommen, erinnern an die Ambiance der Fabriken in den Tälern des Juras.
«Aber wir sind noch weit weg von der Schweizer Qualität, die ich beneide», gesteht Miao Hongbo. 3% des Umsatzes investieret der Fabrikdirektor in Forschung und Entwicklung, und er bedauert das Fehlen von Ausbildungsmöglichkeiten für Qualitätsuhrmacher in China.
«Die Schweizer Uhrmacher haben den Chinesen zu verstehen gegeben, dass Uhren nicht nur Instrumente zum Zeit ablesen sind, sondern auch Kunstwerke und technologische Wunderwerke. Ich danke ihnen dafür», sagt Miao Hongbo.
Er ist der Ansicht, die Schweizer müssten sich nicht vor der chinesischen Konkurrenz fürchten – noch nicht. Aber «in 10 oder 20 Jahren» werde es anders sein.
Die Fälschungen? Er leidet nicht darunter, seine Marke ist nicht genügend bekannt, wenn sie kopiert würde, wäre das ein Zeichen der Anerkennung. Seine schärfsten Konkurrenten seien Chinesen, nicht Schweizer: hauptsächlich die Marke Sea-Gull.
«Unsere Produkte leiden sehr unter dem Problem der Fälscnungen», sagt dagegen Ma Guangli, Chefingenieur bei Sea-Gull. Diese Fabrik hat eine andere Dimension, sie beschäftigt fast 3000 Personen in ihren brandneuen Räumlichkeiten im Industrievorort Tianjin, einer 150 Kilometer von Peking entfernten, boomenden Hafenstadt.
Mit Sea-Gull wurde 1955 die erste Uhrenfabrik in China eröffnet. Das Staatsunternehmen stellte 2011 rund 200’000 Uhren her, alles mechanische, davon über 10’000 mit grosser Komplikation (Tourbillons, Minutenrepetition, kalendarische Anzeigen usw.).
Zehnmal billiger
Auch im Bereich der Komplikationen sind die Schweizer Uhrmacher weiterhin die unumstrittenen Meister. «Verglichen mit ihnen sind wir Primarschüler», sagt Ma Guangli. Die Chinesen würden jedoch schnell lernen, betont er.
«Unser Ziel ist es, in den nächsten zehn Jahren die Qualität von Schweizer Produkten der mittleren Stufe zu erreichen sie danach zu übertreffen.» Sea-Gull investiert 7% des Umsatzes in Forschung und Entwicklung. Das chinesische Modell einer Uhr mit Komplikation sei im Durchschnitt zehnmal billiger als das gleiche Schweizer Modell, erklärt der Ingenieur (Eine Sea-Gull Tourbillon der unteren Skala kostet 5700 Franken).
Ma Guangli hofft auf eine Zusammenarbeit mit Schweizer Fabrikanten. Bisher haben Sea-Gull-Produkte vor allem Misstrauen erweckt. «Bei jeder unserer Teilnahmen an der Baselworld wurden gegen unsere Produkte Klagen (mehrere von Swatch) wegen Verletzung von geistigem Eigentum erhoben. Wir erhielten aber immer recht.»
Ma Guangli erklärt, er habe den Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie (FH) und durch ihn Swatch-Chef Nick Hayek eingeladen, die Fabrikräumlichkeiten von Sea-Gull in Tianjin zu besuchen.
Das Risiko, in gefälschten Uhren mit Schweizer Gütezeichen Uhrwerke von Sea-Gull oder Beijing Watch zu entdecken, wird von den Branchenakteuren indessen als wenig wahrscheinlich beurteilt.
Auch wenn die Uhrenfabriken nicht die volle Kontrolle über alle Aktivitäten ihrer Käufer haben, sind die Uhrwerke dieser beiden Spitzenmarken der chinesischen Uhrenindustrie leicht als solche erkennbar, und die Täuschung wäre rasch aufgedeckt, insbesondere die sichtbaren Elemente wie das Tourbillon.
1795 vom Schweizer Uhrmacher Abraham Louis Breguet erfunden, erlaubt ein Tourbillon, durch die Schwerkraft verursachte Fehler der Laufgenauigkeit einer Uhr auszugleichen.
Während ein Tourbillon zu Beginn die Präzision von Uhren verbesserte, ist es heute mehr ein Symbol der Meisterschaft eines Uhrmachers und der Qualität einer Marke, denn häufig finden sich diese in Luxusuhren.
Andere Komplikationen sind namentlich die so genannte Minutenrepetition sowie komplizierte kalendarische Anzeigen.
Laut dem Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie (FH) war China letztes Jahr der weltgrösste Exporteur von Armbanduhren, mit über 682 Einheiten zu einem durchschnittlichen Preis von 1,90 Franken.
An zweiter Position folgte Hongkong mit etwas über 400 Mio. Einheiten.
Dritte war die Schweiz mit fast 30 Mio. Einheiten, die jedoch einen Durchschnittspreis von 650 Franken erreichten.
Das katapultierte die Schweiz mit einem Umsatz von fast 20 Mrd. Franken wertmässig an die unangefochtene Spitze der Uhrenexportländer.
Damit lag sie weit vor Hongkong (8,4 Mrd. Fr.) und China, gefolgt von Deutschland und Frankreich.
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)
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