Chinesische Gegenwartskunst – Spiegelbild des Wandels
Der neue Wohlstand, der Konsumwahn, die geistige Leere, die Einsamkeit der Einzelkinder sowie die neue Mobilität und Selbstbestimmung hätten auch in der chinesischen Kunst Spuren hinterlassen, schreibt Kathleen Bühler, Kuratorin am Kunstmuseum Bern. Dort und im Zentrum Paul Klee werden in diesen Tagen unter dem Titel "Chinese Whispers" bedeutende Werke von chinesischen Künstlern wie Ai Weiwei oder Zhuang Hui gezeigt, die Einblick in die Welt Chinas geben.
«Chinese Whispers» (wörtlich «chinesisches Geflüster»), «Telefon» oder «Stille Post» heisst das Spiel, bei dem sich im Kreis aufgereihte Kinder durch Flüstern eine Nachricht weitergeben. Das Spielvergnügen entsteht durch die zunehmende Verfälschung der Ausgangsnachricht vom ersten bis zum letzten Flüstern. Als pädagogische Übung demonstriert das Spiel die Entstehung von Gerüchten oder Missverständnissen und macht die Unbeständigkeit von mündlichen Überlieferungen im Allgemeinen deutlich. Deshalb eignet es sich in besonderem Mass als Metapher für die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst aus China – einer Kunst, die uns einerseits durch kulturelle, historische und politische Differenzen fremd ist und andererseits zunehmend vertraut wird, weil die weltweite Vernetzung sowie der Hunger des Kunstmarkts nach neuen Ausdrucksformen die chinesische Gegenwartskunst längst in den Westen gebracht haben.
Seit der ersten wirtschaftlichen Öffnung Chinas unter dem reformistischen Parteiführer Deng Xiaoping im Jahr 1978 erlebte China einen umwälzenden Wandel, der in der jüngeren Menschheitsgeschichte einmalig ist. Nochmals verstärkt durch die «Politik der offenen Tür» in den 1990er-Jahren wurde alles modernisiert, ganze Städte wie Beijing und Shanghai wurden umgestaltet und die Menschen so zu weitflächiger inländischer Migration getrieben. Im Gegenzug zum wachsenden Wohlstand, zu verbesserten Bildungs-, Arbeits- und Gesundheitsbedingungen wurden die Spuren des kommunistischen und des traditionellen China ausradiert und Familien entwurzelt.
Viele Kunstschaffende thematisieren diesen brutalen Umbruch in ihren Werken, wie auch die Frage, auf welche Weise sich die jüngste Geschichte im Spannungsverhältnis zwischen monopolisierter Volkspartei-Meinung und internationaler Öffnung darstellen liesse. Gleichzeitig wurde die chinesische Kunst in den 1990er-Jahren geprägt vom Einzug neuer Medien (Video, Fotografie, Performance), der Verwendung von «kunstfremden» Materialien (Menschen- und Tierkörperteile) sowie neuen Kunstauffassungen, die sich im Begriff «experimental art» niederschlugen. Identitätsfragen rückten ins Zentrum, und politische Kritik wurde manchmal ironisch verbrämt in der «gaudy art» (so viel wie grelle Kunst) oder ätzend direkt im «cynical realism» (zynischer Realismus) und «political pop» (politischer Pop) geübt.
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Die 2000er-Jahre waren weit weniger radikal und politisiert, wenngleich einige Kunstschaffende der oben genannten Richtungen im Westen nach wie vor Kapital schlagen konnten, da die chinesische Selbstkritik den Westen in seiner vermeintlichen ideologischen Überlegenheit bestätigte. Dennoch stellte sich die Frage, wie sich der Alltag und die jüngste Geschichte der 2000er-Jahre in Bilder fassen lassen. Was sind die zentralen Ikonen einer Generation, die nun im fast gleichen Masse wie der Westen Zugang zu Internet und Informationen hat und zudem ebenfalls ohne grosse Einschränkungen reisen kann?
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Doppelausstellung über chinesische Gegenwartskunst in Bern
Seit dem mehrfach proklamierten Ende der (westlichen) Kunstgeschichte finden weltweit Diskussionen um eine globale Kunst statt. Vor dem Hintergrund verschiedener historischer Ereignisse soll sich diese vom westlichen Diktat befreien, allen internationalen Kunsttraditionen offenstehen und zu einer Geschichte der Austauschbeziehungen statt einer des Einflusses des Westens auf nicht-westliche Haltungen beitragen.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung, die auch in der Kunstwelt Einzug hält, und der Angst vor einer Angleichung des weltweiten Kunstschaffens an kommerzielle westliche Standards sowie vor dem Ausverkauf des eigenen kulturellen Erbes, erhält die künstlerische Auseinandersetzung mit regionalen oder nationalen Kunsttraditionen neue Wichtigkeit. Während im westlichen Kulturraum die Beschäftigung mit Tradition oftmals die postmoderne Form eines ironischen Zitats annimmt oder im Ruch der Rückwärtsgewandtheit steht, wird in asiatischen Kontexten die Authentizität nationalen Kunstschaffens als Selbstbehauptung gegenüber dem Westen oder als Ausdruck von konservativen gesellschaftlichen Tendenzen in den Vordergrund gerückt.
Der umfangreiche Wandel, der China seit 1978 erfasste und die kommunistisch geprägte Gesellschaft in eine kapitalistische katapultierte, wurde ab 2012 von der Volkspartei erneut als «Chinesischer Traum» beschworen. Der amtierende chinesische Parteisekretär Xi Jinping propagierte «nationale Verjüngung, Verbesserung der Lebensbedingungen, Wohlstand, Aufbau einer besseren Gesellschaft und Stärkung des Militärs» als offizielle Parteiziele und hielt vor allem junge Menschen dazu an, zu «träumen, hart für die Verwirklichung der Träume zu arbeiten und damit zur Belebung der Nation beizutragen».
Dabei ging es dem Parteisekretär offenbar um den Versuch, den drohenden Integritäts- und Vertrauensverlust der Regierung durch die grassierende Korruption in China aufzufangen. Denn es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht landesweit über Korruption, Bestechung, Amtsmissbrauch oder irgendwelche Lebensmittelskandale im Land berichtet wird.
Die Veränderung der gesellschaftlichen Werte von konfuzianisch geprägter Bescheidenheit, friedlichem Zusammenleben und aufs Gemeinwohl ausgerichtetem Denken, werde mit der Einführung des Kapitalismus über den Haufen geworfen. Stattdessen dominiere die Gier nach Geld, teuren Uhren und grossen Autos. Die Konsequenz sei eine geistige Leere vieler Chinesinnen und Chinesen, obwohl Nächstenliebe wenigstens noch in der Familie und im engeren Freundeskreis einen hohen Stellenwert habe. Doch darüber hinaus denke jeder nur an seinen eigenen Vorteil und das Misstrauen, ständig irgendwo betrogen zu werden, sei gross.
In diesem Klima sozialer Unverbindlichkeit und erodierender Verlässlichkeit wenden sich viele Chinesinnen und Chinesen wieder der Religion zu. Der neue Wohlstand, der Konsumwahn, die geistige Leere, die Einsamkeit der Einzelkinder sowie die neue Mobilität und Selbstbestimmung hinterlassen auch in der Kunst ihre Spuren.
Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.
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