Der vergessene ‘Leonardo da Vinci’ der Schweiz
Für Zoologen des 16. Jahrhunderts war es wie die Erfindung von Google: Statt auf einer Tastatur zu tippen, konnten sie durch Conrad Gessners sensationelles Werk blättern – der weltweit ersten Enzyklopädie aller bekannten Tiere auf unserem Planeten.
Gessners vierbändiges Werk in Latein, die «Historia animalium» (Geschichte der Tiere), beeinflusste Generationen von Zoologen. Dennoch bleibt der Schweizer Forscher, der in Zürich geboren wurde und dort als Arzt und Professor arbeitete, in seiner Heimat wenig bekannt. Deshalb beschloss die Stadt anlässlich seines 500. GeburtstagesExterner Link, den Leuten zu seiner Wiederentdeckung zu verhelfen.
Obwohl er in einer armen Familie aufwuchs, wurden Gessners (1516-1565) aussergewöhnliche Talente früh entdeckt. Zu Gessners Förderern gehörte der berühmte Zürcher Reformator Huldrych Zwingli.
«Conrad Gessner ist einer der wichtigsten Wissenschaftler der Schweiz, er ist der Vater der Zoologie, und ebenso der Bibliographie. Er studierte Botanik, Physik und Chemie, er war also wirklich ein Gelehrter von allem, was zu seiner Zeit bekannt war», sagt Alex Rübel, Direktor des Zürcher Zoos, gegenüber swissinfo.ch.
Die Zoologie steckte im 16. Jahrhundert noch in den Kinderschuhen. Es war jedoch eine aufregende Zeit, es wurden beispielsweise gerade neue Tiere in Südamerika entdeckt. In diesem Kontext begann Gessner sein Lebenswerk: Die Historia animalium, mit der er alle bekannten Tiere auflisten wollte, und die schliesslich mehr als 1000 Tiere enthielt – darunter auch solche aus der Sagenwelt. Die vier Bände der Enzyklopädie erschienen zwischen 1551 und 1558.
«Beobachten, zerlegen, beschreiben»
Seine Vorgehensweise war präzis: «Der Gelehrte sollte alle Texte und Zeichnungen von Tieren sammeln – sowohl althergebrachte als auch zeitgenössische – und beobachten, zerlegen, beschreiben und die Tiere selbst illustrieren. Danach sollte der Gelehrte diese enorme Masse an Wissen neu kombinieren und anordnen», schrieb er.
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Nashörner, Amseln und Meermönche
Die Besucher der Jubiläumsausstellung des Zürcher ZoosExterner Link werden merken, dass Gessner mit seinen Beschreibungen häufig ins Schwarze traf. Er beschrieb beispielsweise sehr genau Kamele und die Funktionsweise ihrer Mägen, obwohl er ausschliesslich auf Secondhand-Informationen angewiesen war. Seine einzige Ungenauigkeit war die Behauptung, dass Kamelfüsse lange Reisen nicht durchstehen würden.
«Er korrespondierte mit Wissenschaftlern aus ganz Europa, bis nach Russland, und sie alle schickten ihm Proben oder Zeichnungen. Er beschrieb auch, was Aristoteles und Plinius zuvor geschrieben hatten», sagt Rübel.
Viele der Zeichnungen sind von Gessner selbst gemacht, er war ein talentierter Künstler. Dazu gehören auch «exotische» Tiere wie Elefanten und Nashörner oder Neuentdeckungen wie das Gürteltier und das Meerschweinchen. Gessner war bei den Meerschweinchen besonders präzis, weil er einige in seinem Mini-Zoo zu Hause hatte. Sie waren ein Geschenk von einem Augsburger Arztkollegen und sorgten bei ihrer Ankunft in Zürich für eine kleine Sensation.
Tiere aus der Sagenwelt
Allerdings dürften einige Kreaturen in der Enzyklopädie den modernen Leser überraschen. Besucher der Jubiläumsausstellung am Zoologischen Museum der Universität ZürichExterner Link treffen am Eingang als Erstes auf ein Einhorn.
«Die Historia animalium enthielt alle Tiere, von denen Gessner dachte, sie könnten wahrscheinlich existieren», erklärt der Museumsdirektor Lukas Keller. «Beim Einhorn war die Einschätzung für Gessner schwierig, da dessen Existenz wahrscheinlich schien: Es sieht aus wie ein Pferd und hat ein Horn auf dem Kopf, wie wir es von anderen Tieren kennen, also liess er es in der Enzyklopädie drin.»
Gessner war hingegen skeptisch, was den «Seemönch» anbelangt. «Er sagte, uns sei kein Wesen bekannt, das Mensch und Fisch kombiniere», sagt Keller. «Er hatte Recht, dass der Seemönch nicht existiert, doch er liess ihn dennoch drin, weil ihm das für die Vollständigkeit der Enzyklopädie wichtig erschien.»
Keller beschreibt die Enzyklopädie als das «Google seiner Zeit», weil sie Tiere in alphabetischer Reihenfolge präsentiert – nicht in biologischer Reihenfolge, wie es heute üblich ist. Das Ziel lag darin, Informationen «schnell, präzis und effizient» zugänglich zu machen.
Gessners Werk und seine Zeichnungen hatten bis ins 18. Jahrhundert grossen Einfluss auf neuere Publikationen von Enzyklopädien.
Natur und Religion
Conrad Gessner in seinen eigenen Worten darüber, warum er sich den Studien der «wilden Tiere» gewidmet hat:
«Es ist unsere Pflicht Gott dafür zu danken, dass er so viele und erstaunliche Dinge geschaffen hat, um die Welt zu verschönern, und dass er uns das Leben, die Gesundheit, die Ruhe und das Einsicht gewährt, diese Wunder zu bestaunen.»
Ruhm gewinnen… und wieder verlieren
Gessner fand auch die Zeit, an einer wunderschön illustrierten Botanik-Enzyklopädie zu arbeiten, obwohl er leider nicht lange genug lebte, um sie zu vollenden. Bei seinen Patientenbesuchen als Arzt steckte er sich mit der Pest an und starb im Jahr 1565.
Wäre es vollendet worden, hätte dieses Werk sogar die Historia animalium übertreffen können, meint Urs Leu, Leiter der Abteilung «Alte Drucke und Rara» der ZentralbibliothekExterner Link. Die Zentralbibliothek in Zürich besitzt einen Teil von Gessners Nachlass und hat die über 60 Publikationen Gessners in ihren Beständen.
Leu ist Autor einer neuen Gessner-Biographie. Er half bei der grossen Ausstellung des Schweizer LandesmuseumsExterner Link anlässlich des 500. Geburtstages Gessners. Die Ausstellung umfasst auch einige kürzlich entdeckten Zeichnungen Gessners, so wie das berühmte Tulpenbild aus seiner botanischen Arbeit.
Die Ausstellung zeigt Gessners erste ausführliche Arbeit, die «Bibliotheca Universalis» (universelle Bibliographie), das älteste bekannte Verzeichnis aller handschriftlichen und gedruckten Arbeiten in Hebräisch, Griechisch und Latein. Das Buch wurde 1545 publiziert und war ein grosser Erfolg, der Gessners Ruhm begründete.
Gessner lebte in aufregenden Zeiten, mit der Renaissance, dem Humanismus und der Erfindung des Buchdruckes – er wurde am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Frühmoderne geboren.
«Es ist erstaunlich, dass dieser ‹Leonardo da Vinci der Schweiz› im Ausland berühmter zu sein scheint als in seiner Heimat», sagt Leu, der in England, Deutschland und den Vereinigten Staaten Vorträge über Gessner hielt.
Zu den möglichen Gründen gehört laut Leu, dass Gessner in Latein schrieb und dass es nicht viele Informationen über ihn als Person gab. Aus seinen Briefen lässt sich ableiten, dass er ein stiller Denker und – wenig überraschend – ein Workaholic war. Er war offenbar auch ziemlich gläubig.
Mit der diesjährigen Ausstellung wird Gessner vielleicht auch bei Schweizerinnen und Schweizern eine grössere Bekanntheit erlangen.
Das Jubiläum auf einen Blick
Ausstellung im Landesmuseum Zürich in Zusammenarbeit mit der Zentralbibliothek Zürich, Conrad Gessner, 1516–2016, vom 17. März bis 19. Juni 2016.
Ausstellung am Zürcher Zoo, Conrad Gessner: Vater der Zoologie, vom 17. März 2016 bis 23. Oktober 2016
Ausstellung im Zoologischen Museum der Universität Zürich, Tiere von A bis Z – Die Tierbücher Conrad Gessners (1516–1565), vom 17. März bis 11. September 2016
Ausstellung im Botanischen Garten der Universität Zürich, «Von den Tropen in die Stube – Vielfalt der Gesneriaceen», vom 27. Mai bis 2. Oktober 2016 | 9.30 – 16.45 Uhr
Internationaler Kongress Conrad Gessner, Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte, Theologische Fakultät der Universität Zürich, 6.-9. Juni 2016.
Der NZZ Libro Verlag hat eine neue Biographie mit dem Titel «Conrad Gessner (1516–1565)” von Urs Leu herausgebracht. Es gibt auch einen DokumentarfilmExterner Link.
(Übertragung aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi)
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