«Die politische Kultur der Schweiz ist eine Stärke, die es zu nutzen gilt»
Direkte Demokratie und Partizipation in der Schweiz sind unterschätzte Ressourcen im Umgang mit der Corona-Krise.
Die Pandemie fordert alle Länder, und jedes ringt auf seine Weise mit den Herausforderungen, die COVID-19 mit sich bringt. So hat der Schweizer Bundesrat soeben einen zweiten Lockdown beschlossen. Dabei sind es nicht nur die gesundheitlichen Folgen, die das Krisenmanagement so anspruchsvoll machen, sondern auch die ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen.
Nikola Biller-Andorno ist Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik und MedizingeschichteExterner Link der Universität Zürich und Fellow am Collegium Helveticum. Sie leitet das Projekt «PubliCo», welches u.a. vom SNF und von der WHO gefördert wird.
Die Schweiz ist für die Bewältigung der Krise erst einmal gut aufgestellt: Sie verfügt über beträchtliche ökonomische Ressourcen und ein Gesundheitssystem, das durch hohe Qualität, Solidarität und Selbstverantwortung gekennzeichnet istExterner Link.
Darüber hinaus gibt es aber noch eine weitere wertvolle Ressource, die bislang weniger Beachtung gefunden hat: die Tradition der direkten Demokratie und die partizipative Kultur der Schweiz, die routinierte Suche nach einem tragfähigen Konsens gerade in komplexen Situationen mit vielschichtigen Interessen. Vom politischen Mitsprachracherecht wird von der Schweizer Bevölkerung in Form von Referenden, Initiativen und Petitionen rege Gebrauch gemacht.
So wurden auch gegen das COVID-19-Gesetz vor kurzem Unterschriften für ein Referendum eingereicht. Der Gesetzesentwurf selbst erwähnt Massnahmen zur Unterstützung der Ausübung politischer Rechte. Allerdings sind die politischen Instrumente, welche eine Mitsprache ermöglichen, relativ schwerfällig und benötigen einen langen zeitlichen Vorlauf.
Während in der akuten Krise auch in der Schweiz notgedrungen ein Top-Down-Ansatz dominierte – mit einschneidenden Regeln, Geboten und Verboten –, ist für den längerfristigen Umgang mit der Pandemie der gesellschaftliche Diskurs von grösster Bedeutung. Wenn die Corona-Massnahmen auf längere Sicht von der Bevölkerung mitgetragen werden sollen, braucht es einen gesellschaftlichen Austausch zu Annahmen, Zielen und zur Verhältnismässigkeit der getroffenen Massnahmen.
Ein möglichst gut informierter, zivilisierter Diskurs gefährdet nicht die Handlungsfähigkeit der Regierung, gibt aber wertvolle Rückmeldungen an Entscheidungsträger und beugt einer Polarisierung in der Gesellschaft vor. Zugleich werden Akzeptanz und Vertrauen der Bevölkerung gestärkt, die Legitimität getroffene Entscheide erhöht und der Diversität der Schweiz Rechnung getragen.
Um die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger zu erleichtern, wurde vor kurzem die Plattform PubliCoExterner Link lanciert. PubliCo zielt darauf, die öffentliche Wahrnehmung hinsichtlich Corona und des Krisenmanagements in Echtzeit zu erfassen und im Sinne eines «citizen science»-Ansatzes Gelegenheiten zur Mitwirkung bei der Datenerhebung und -analyse zu bieten. Zugleich können die Nutzer der Plattform Informationen erhalten, die auf ihre Bedürfnisse und Interessen zugeschnitten sind.
Die Plattform wurde im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds, von der Weltgesundheitsorganisation und vom Collegium Helveticum geförderten Projekts Externer Linkam Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich in Kollaboration mit dem Swiss Tropical and Public Health Institute (SwissTPH) entwickelt.
Zusätzlich zu Fragen zum Informationsverständnis, zur emotionalen Befindlichkeit, zu Verhaltensdispositionen und zu moralischen Präferenzen (z.B. zur Priorisierung von Intensivbetten oder Impfstoffen) besteht die Möglichkeit, regelmässige Tagebucheinträge vorzunehmen, die in anonymisierter Form wissenschaftlich ausgewertet werden und somit künftige politische Entscheidungsprozesse informieren können. Datenschutz, Transparenz und open access spielen bei PubliCo eine zentrale Rolle.
Wie wir bereits aus der Pandemie gelernt haben, gibt es keine «one size fits all»-Lösung. Welche Strategien der Bewältigung sich bewähren, hängt von vielen Faktoren ab. In jedem Fall kann der bestmögliche Weg nicht gefunden werden, ohne die Stimmen der Betroffenen zu hören. Die politische Kultur der Schweiz – das selbstbewusste Einfordern von Beteiligung, der eingeübte Umgang mit kultureller Diversität, die Suche nach einer tragfähigen Lösung für alle, insbesondere auch für benachteiligte und vulnerable Gruppen – ist eine Stärke, die es zu nutzen gilt.
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