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Schweiz ist aufgefordert, mehr Schulden zu machen, um die Wirtschaft zu stützen

Das Wachstum der Schweizer Wirtschaft wird gemäss Prognosen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) im Jahr 2020 voraussichtlich um 6,7% zurückgehen, die stärkste Abschwächung seit 1975. Keystone / Ennio Leanza

Die Coronavirus-Krise könnte ein Loch von mehreren Dutzend Milliarden Franken in die Bundeskasse reissen. Ein enormer Verlust, den die Schweiz aber dank eines im internationalen Vergleich sehr umsichtigen Umgangs mit ihren öffentlichen Mitteln leicht ausgleichen kann.


Steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Steuereinnahmen, kostspielige Unterstützungspläne für die am stärksten betroffenen Wirtschaftssektoren: Die Coronavirus-Krise dürfte die öffentlichen Kassen sehr viel Geld kosten, in der Schweiz wie auch im Ausland.

Ende April präsentierte Finanzminister Ueli Maurer eine erste Schätzung: Die Verluste in diesem Jahr könnten sich auf rund 80 Milliarden Franken belaufen, was in etwa einem Jahresbudget des Bundes entspricht.

Gegenwärtig geht es nicht darum, die Steuern zu erhöhen oder die öffentlichen Ausgaben zu kürzen – beide Schritte könnten die für nächstes Jahr erhoffte Erholung des Wirtschaftswachstums dämpfen. «Eine Erhöhung der Steuern würde die Situation für Unternehmen und für Menschen, die bereits am Abgrund stehen, noch schwieriger machen», sagte Wirtschaftsminister Guy Parmelin kürzlich in einem Interview mit dem Westschweizer Fernsehen RTSExterner Link.

Um das Defizit aufzufangen, setzt die öffentliche Hand stattdessen vorerst auf eine Erhöhung der Verschuldung. Während viele Länder bereits bei Ausbruch der Coronavirus-Krise hoch verschuldet waren, befindet sich die Schweiz in einer günstigen Situation, wie der Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB), Thomas Jordan, letzte Woche sagte. «Die Staatsverschuldung konnte in den letzten zehn Jahren dank der Schuldenbremse reduziert werden, während sie in Europa und den Vereinigten Staaten als Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 stark angestiegen ist», sagte er in einem InterviewExterner Link mit Le Matin Dimanche und der SonntagsZeitung.

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Seit 2006 hatte der Bund praktisch jedes Jahr – mit Ausnahme von 2014 – Überschüsse von mehreren Milliarden Franken angehäuft, die zur Schuldentilgung verwendet wurden. Selbst während der Krise von 2008-2009, die einen Grossteil der Weltwirtschaft in die Knie gezwungen hatte.

Eine komfortable, aus ausländischer Sicht gar surreale Situation, die auf die gute Gesundheit der Schweizer Wirtschaft zurückzuführen ist, aber auch auf die SchuldenbremseExterner Link, einen von der Eidgenossenschaft 2003 eingeführten Mechanismus, um strukturelle Ungleichgewichte in den Bundesfinanzen zu vermeiden und ein Schuldenwachstum wie in den 1990er-Jahren zu verhindern.

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In den letzten Wochen forderten jedoch viele Ökonomen die Regierung öffentlich auf, diese Haushaltsgrundsätze über Bord zu werfen und massiv in die Sicherung der Schweizer Wirtschaft zu investieren, um das Gespenst einer vertieften Krise zu vermeiden.

Verschuldung zu niedrig

Insbesondere befürchten sie, dass die Abneigung, die ein Teil der politischen Klasse der Schweiz gegen Schulden hegt, ein rasches Wiederanziehen des Wirtschaftswachstums verhindern könnte.

«Wenn man einen Handlungsspielraum hat, ist es sehr konstruktiv, sein Geld für Investitionen zu verwenden, um zu versuchen, Strukturreformen durchzuführen und mehr Wachstum zu erzielen. Das macht es einfacher, Schulden zu tilgen», sagte Marie Owens Thomsen, Chefökonomin von CA Indosuez Switzerland, in einem Beitrag des Westschweizer Radios RTS La PremièreExterner Link

«Verschuldung ist nicht nur eine Last oder gar eine ‹Sünde› nach deutschsprachiger Etymologie [Schuld]. Sie ist ein Instrument, um wichtige Investitionen für künftige Generationen zu tätigen.» Cédric Tille, Ökonom

Cédric TilleExterner Link, Professor für Wirtschaftswissenschaften am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung, teilt diese Ansicht: «Die Schweiz verfügt über einen grossen Handlungsspielraum und kann die Kosten einer substanziellen Erhöhung der Verschuldung leicht auffangen. Umso mehr, als die Kreditaufnahme heute schmerzlos ist und dem Staat mit negativen 30-Jahr-Zinsen sogar Geld einbringt», sagt er gegenüber swissinfo.ch.

Aus rein ökonomischer Sicht hält der Genfer Professor die aktuelle Verschuldung der Schweiz für zu gering. «Verschuldung ist nicht nur eine Last oder gar eine ‹Sünde› nach deutschsprachiger Etymologie (Schuld). Sie ist ein Instrument, um wichtige Investitionen für künftige Generationen zu tätigen. Sie stellt auch einen sicheren Vermögenswert dar, den private Investoren sehr schätzen», sagt er.

Bremse gegen ausschweifende Verschuldung

Andere Ökonomen, insbesondere Deutschschweizer, sind vorsichtiger und warnen vor einer zu starken Lockerung der Haushaltsdisziplin. «Viele Politiker sind sich in der heutigen Rettungseuphorie wohl nicht bewusst, dass die Schuldenbremse eine Art Gedächtnis hat», sagte Christoph Schaltegger, Professor für Politische Ökonomie an der Universität Luzern, in einem InterviewExterner Link mit der Deutschschweizer Wochenzeitung Die Weltwoche.

Er verwies darauf, dass die ausserordentlichen Ausgaben im Normalfall innerhalb der folgenden sechs Jahre über den ordentlichen Haushalt kompensiert werden müssten. «Die Ernüchterung nach dem jetzigen Ausgabenrausch wird also spätestens bei der nächsten Budgetdebatte beträchtlich sein, wenn die Politiker sehen, wie eng die Spielräume geworden sind», so Christoph Schaltegger weiter.

Cédric Tille ist seinerseits der Meinung, dass die Schuldenbremse zu restriktiv ausgelegt werde. Es sei notwendig, jetzt etwas loszulassen. «Dieses Instrument wurde mit dem Ziel eingeführt, die Schulden zu stabilisieren, nicht massiv zu reduzieren. Die Bundesverfassung wird also seit mehr als einem Jahrzehnt durch Budgetüberschüsse verletzt, die systematisch höher sind als prognostiziert», sagt er.

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Die Kontroverse geht jedoch nicht erst auf die aktuelle Krise zurück: Bereits im letzten Jahr hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) die Schweiz aufgefordert, mehr zu investieren, um ihre Wirtschaft zu stützen.

Und seit fast einem Jahrzehnt schon fordern linke ParteienExterner Link, bisher vergeblich, einen Kurswechsel in der Fiskalpolitik; sie werfen der rechten Mehrheit in Parlament und Regierung vor, in Zeiten der Hochkonjunktur Sparmassnahmen durchzusetzen – mit dem einzigen Ziel, den Staat zu schwächen.

Diese Debatte wird das politische Leben der Schweiz noch stark prägen, wenn es darum gehen wird, die Konten auszugleichen, die Rechnung für diese beispielslose Gesundheitskrise zu begleichen.

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Staatsschulden: Schweizer sind Europameister im Sparen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweiz ist eines der wenigen Länder Europas, welche die Haushaltsdisziplin respektieren. Die EU hatte diese vor zwanzig Jahren angenommen, von ihren Mitgliedern wird sie aber wenig angewendet. Die Schweizer Staatsschuld entspricht knapp 33% des BIP. Jene der 28 EU-Staaten liegt durchschnittlich bei über 85%. Dennoch legt die Schweizer Regierung jedes Jahr ein Sparprogramm für die öffentlichen Ausgaben vor. Eine besonnene Finanzpolitik oder Sparwut? «Die Schweiz geht in Richtung Bankrott», prognostizierte das Wochenmagazin Facts 1997, nach einer Serie von Milliarden-Defiziten in der Staatskasse. Die Zeitschrift ging einige Jahre später Pleite, während es den Schweizer Finanzen gut geht. Alles bestens. Zusammen mit Norwegen, wo die Einnahmen aus Erdöl die Steuererträge alimentieren, ist die Schweiz gar das einzige Land Europas, das seit Ausbruch der letzten grossen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 seine öffentlichen Schulden senken konnte. Und dies sogar, ohne auf die Umsetzung teurer Infrastrukturprojekte zu verzichten, wie den Gotthard-Basistunnel, den längsten Eisenbahntunnel der Welt, der am 1. Juni eingeweiht worden ist. Die Schweiz, die kein EU-Mitglied ist, gehört zu den wenigen Ländern, die von Anfang an «die Kriterien der Konvergenz» des Abkommens von Maastricht erfüllen. Mit dem Vertrag von 1992 wurde die Basis für die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Einführung des Euros gebildet. Länder, die der Einheitswährung beitreten wollen, müssen sich verpflichten, ihre Staatsverschuldung auf unter 60% ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) zu beschränken. Gewisse Länder verstiessen jedoch bereits bei ihrem Beitritt zum Euro gegen derlei Vorgaben: Etwa Griechenland mit 107%, Italien mit 109%, Belgien mit 114%. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise sahen sich weitere EU-Länder gezwungen, ihre Ausgaben massiv zu erhöhen, um den Bankensektor zu stützen und die Konjunktur anzukurbeln. Heute übersteigt die Staatsverschuldung der wichtigsten Wirtschaften der Euro-Zone, aber auch jene Grossbritanniens, die Schwelle von 60%. Die öffentlichen Finanzen der Schweiz konnten in diesen Jahren jedoch von einer unerwarteten wirtschaftlichen Stabilität profitieren, was auch der Steuerkasse zu Gute kam. Die Schweizer Wirtschaft, die nur 2009 einen Rückgang erlebte, kam rasch aus der internationalen Krise heraus: Die Nachfrage der Konsumenten hielt stand, die Exporte brachen nicht ein, trotz Rückgang der Nachfrage auf den EU-Märkten, und die Arbeitslosenrate blieb bei 3-4%. Die Schweizerische Nationalbank spielte dabei eine wichtige Rolle, etwa bei der Rettung der UBS und indem sie über Jahre der Aufwertung des Frankens entgegenwirkte. Die Schweiz stand auch beim Verhältnis der Staatsausgaben zum BIP besser da als andere europäische Länder, die von einem wuchtigen Staatsapparat belastet waren. Ausschlaggebend für einen gesunden Staatshaushalt war auch die so genannte «Schuldenbremse». Diese war 2003 von der Eidgenossenschaft eingeführt worden, um eine Schieflage der Staatsfinanzen und einen Schuldenanstieg zu vermeiden, wie das in den 1990er-Jahren passiert war. Dieser Mechanismus zielt darauf ab, Einnahmen und Ausgaben im Lauf eines Konjunkturzyklus› auszugleichen: Wenn sich die Wirtschaft abschwächt, sind Defizite begrenzt zugelassen, während in Jahren der Hochkonjunktur Überschüsse erwirtschaftet werden müssen. Ähnliche Modelle wurden auch in den vielen Kantonen eingeführt. Dank der Schuldenbremse konnte das Gleichgewicht des Staatshaushalts schnell wieder hergestellt werden: Die Gesamtschuld (öffentliche Verwaltung und soziale Sicherheit) ging so von 50,7% im Jahr 2003 auf 33,1% im 2015 zurück. Im letzten Jahrzehnt wiesen die Konten der Eidgenossenschaft – ausgenommen 2014 – immer Milliardenüberschüsse aus. Ein Resultat, das auf europäischer Ebene praktisch einzigartig ist. Die Sanierung der Finanzen wird von allen politischen Kräften unterstützt, da sie nicht nur die Ausgaben zur Zahlung der Schuldzinsen ermöglicht, sondern auch die Resistenz des Landes angesichts neuer Krisen stärkt. Für einige Parteien und auch für gewisse Ökonomen hat die Sparpolitik jetzt aber das Mass überschritten: Im letzten Jahrzehnt hat die Eidgenossenschaft auch in konjunkturell schwachen Jahren Überschüsse erzielt. Trotz dieser Gewinne legt die Regierung Jahr für Jahr neue Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben auf den Tisch. Die Linke fordert, dass die finanziellen Mittel des Bundes in einem Konjunkturtief hauptsächlich zur Stärkung des Sozialstaates eingesetzt werden sowie zur Unterstützung der Wirtschaft und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Gemäss den Mitte- und Rechtsparteien braucht die Wirtschaft keine staatliche Unterstützung, sondern zusätzliche Steuererleichterungen. Trotz guter Entwicklung bei den Bundesfinanzen gehört die Finanzpolitik seit Jahren zu den umstrittensten Themen im Parlament. So auch in diesem Jahr. Im Rahmen der neuen Unternehmenssteuerreform hat die Mehrheit der Parlamentarier aus dem Mitte- und Rechtslager eine ganze Reihe von Steuererleichterungen in Milliardenhöhe für Unternehmen gutgeheissen. Für die Linke ist diese Reform ein Angriff auf die Staatskasse. Sie will dagegen das Referendum ergreifen. Gleichzeitig hat Finanzminister Ueli Maurer bereits drei Sparpläne für die kommenden Jahre vorgelegt, die insbesondere die Sozialversicherungen, die Bildung sowie die Entwicklungshilfe betreffen. Verschont werden jedoch die nationale Verteidigung, die Landwirtschaft sowie das Verkehrswesen. Diese Sparpläne sorgen für grosse Konflikte unter den Parteien. Wie die übrigen Länder Europas ist auch die Schweiz mit zwei Kostenfaktoren konfrontiert, welche die öffentlichen Ausgaben in die Höhe treiben könnten: die Alterung der Bevölkerung und die Explosion der Gesundheitskosten. In den nächsten 30 Jahren werden laut dem neusten Bericht des Finanzdepartements 150 Milliarden Franken benötigt, um den Aufwand für die Folgen der demografischen Entwicklung zu finanzieren. Ohne Sparmassnahmen oder höhere Steuereinnahmen wird die Staatsverschuldung bis 2045 auf 59% des BIP ansteigen. Reformen bei der Kranken- und der Sozialversicherung sind allerdings schon seit rund 20 Jahren auf dem Tapet, ohne dass sich die Parteien auf einen Kompromiss hätten einigen können. Eine Lösung ist allerdings dringend nötig, denn die demografische Entwicklung stellt eine Zeitbombe dar, die das Gleichgewicht der Staatsfinanzen massiv bedrohen könnte.

Mehr Staatsschulden: Schweizer sind Europameister im Sparen

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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