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Wer glaubt schon an ein Virus in der Luft von St. Moritz?

Una vista panoramica notturna di St. Moritz.
Ausgerechnet hier: St. Moritz im Engadin. Keystone / Barbara Gindl

Die High Society Italiens trifft sich im März traditionell in St. Moritz. Dann tauchen Krankheitsfälle auf. Immer mehr Hustende landen im Bezirksspital. Doch kann es sein, dass hier in den gesunden Schweizer Bergen ein Krankheitsherd entsteht? Rekonstruktion eines fahrlässig langen kollektiven Wegschauens.

Am 27. Februar werden die ersten beiden Corona-Infektionen in Graubünden bekannt. Betroffen sind die Kinder einer italienischen Familie, die im Engadin Urlaub macht. Die beiden Kinder sind in gutem Zustand und werden vorsorglich ins Krankenhaus eingeliefert. So teilen es die Bündner Behörden mit.

Zwei Tage später werden auch die anderen Familienmitglieder positiv getestet. Damit steigt die Zahl der Infizierten auf sechs Personen. Einige Tage später werden fünf weitere infizierte Personen bestätigt – alle im Engadin. Am Dienstag, 10. März, gibt es 19 Kranke in Graubünden, 17 davon im Oberengadin.

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Ein Einzelfall?

Niemand hatte erwartet, dass die Schweiz in Europa oder auf der Welt eine Insel der Verschonten bliebe. Die Behörden sagten von Anfang an, sie bereiteten sich auf die Ankunft des Virus in der Schweiz vor. Ein erstes Auftreten der Krankheit wurde am ehesten in den Städten Luzern oder Interlaken erwartet, die von chinesischen Touristen am häufigsten besucht werden. 

Aber so war es nicht. 

Es ist das idyllische Engadin, das zunächst am meisten Kranke zählt, und das kleine Spital in Samedan ist eines der am stärksten mit Corona-Patienten belegten Krankenhäuser der Schweiz.

Das Oberengadin ist für wohlhabende Mailänder ein kleines Paradies. Hier, auf 1800 Metern über Meer und einer Strecke von 15 Kilometern zwischen Celerina und Sils Maria, verbringen viele Familien aus der Lombardei ihre Winterferien. 

Und genau hier wurden Hunderte von Mailändern von den Schulschliessungen in Italien überrascht. Also was machen? «Die Ferien im Engadin gezwungenermassen fortsetzen, bis alles vorbei ist», sagt uns Cristina*, eine Mailänder Urlauberin.

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So gehen die netten kleinen Gesprächsrunden beim Abendessen weiter. Unter Freunden, man ist eng miteinander verbunden. Mal essen sie beim einen, mal beim anderen. So kommen Dutzende von Personen zusammen. Die meisten dieser Mailänder haben ein Haus oder eine Ferienwohnung im Engadin.

«Aber da es allen gut ging, wurde niemand unter Quarantäne gestellt.»

Und dann passiert es: Eine der zu diesen Abendessen geladenen Personen wird positiv auf das Corona-Virus getestet. 

Alle Gäste werden kontaktiert. 

«Aber da es allen gut ging, wurde niemand unter Quarantäne gestellt», sagt uns Federica*, die ebenfalls an diesen Abendessen teilgenommen hat. 

Im Gegenteil, so Federica weiter: «Der Zivilschutz hat uns beruhigt und uns mitgeteilt, dass sich niemand Sorgen machen müsste, wenn innerhalb weniger Tage keine besonderen Symptome aufträten. Das haben wir also zunächst getan.»

Einige gehen weniger aus und sorgen sich

Die gemeinsamen Abendessen finden also weiter statt, auch wenn der eine oder andere sich zu sorgen beginnt. Einige lehnen die Einladungen ab, andere gehen immer weniger aus, wieder andere isolieren sich. 

Die inzwischen eingetroffenen Nachrichten aus Italien, insbesondere aus der Lombardei, sind alarmierend. 

Die meisten gehen jedoch weiterhin Skifahren. Ein Aperitif nach dem Skifahren ist ein Muss. Man hält an den gemeinsamen Abendessen fest.

«Wer dieses Verhalten in Frage stellte, wurde grob angefahren, als ob das Skifahren wichtiger wäre als die Gesundheit», erzählt Cristina. Und dies, obwohl alle von der wachsenden Zahl Infizierter wussten.

Für das Oberengadin wurden keine besonderen Weisungen gegeben, obwohl die Region zu den am stärksten betroffenen Orten in der Schweiz gehört.

Das Spital in Samedan wird rasch eines der am stärksten belasteten Krankenhäusern. Und doch scheint sich – von aussen gesehen – nichts geändert zu haben. Höchstens, dass Schilder mit Verhaltensregeln vor den Geschäften und entlang der Flaniermeilen stehen. 

«Kürzlich ist ein italienischer Promi nach St. Moritz gekommen und hat öffentliche Lokale besucht – jetzt ist er infiziert», sagt Federica.

«Engadiner nehmen die Krankheit auf die leichte Schulter»

Inzwischen haben sich viele Mailänder im Oberengadin freiwillig in Quarantäne begeben.

«Die Einheimischen hingegen scheinen mir die Situation auf die leichte Schulter zu nehmen», sagt Cristina. «Im Engadin bleibe ich mit meinen Kindern im Haus und gehe nur raus, wenn es nicht anders geht», fährt sie fort. 

«Familienangehörige von Infizierten fahren Ski. Das ist verrückt.»

«Viele Freunde erzählen mir jedoch, dass Menschen in ihrem Umfeld positiv getestet wurden. Den Skibetrieb einzustellen, davon ist in St. Moritz aber keine Rede. Auch Familienangehörige von Infizierten dürfen Skifahren. Das ist verrückt.»

Die Mailänder im Engadin scheinen nun den Ernst der Lage verstanden zu haben. Vor allem, nachdem die Regierung in Rom die gesamte Nation isoliert hat. Federica findet deutliche Worte: «Alle hier schweigen. Es scheint , dass niemand die Wahrheit sagt. Das Oberengadin ist klein. Jeder kennt jeden. Ich musste einen Kampf führen, um meine Kinder vom Skifahren abzuhalten. Alle denken, an einem sicheren Ort zu sein. Woher sie diese Sicherheit nehmen, weiss ich nicht.»

Die Zivilschutzbehörden des Kantons schrieben auf Anfrage, dass «Italiener als Bevölkerungsgruppe kein besonderes Risiko darstellen».  Man stelle fest, dass sich nicht alle Menschen im Oberengadin gleich verhalten. Alle Menschen, auch ausserhalb des Oberengadins, würden auf die aktuelle Situation unterschiedlich reagieren.

So cool kann Cristina nicht bleiben. «Hier ist alles offen, und alles geht weiter wie bisher. Ich ging mit der Maske einkaufen und wurde von mehreren Personen, vor allem von einer alten Dame, schwer beleidigt, als ob ich Psychoterror betreiben wollte», erzählt sie. «Laut den Engadinern übertreibe ich. Für sie gibt es hier keine besondere Lage.» 

Am Sonntag, den 8. März haben 2000 Langläuferinnen und Langläufer ihren eigenen Engadin Skimarathon absolviert. Obwohl die Traditionsveranstaltung, zur der sich 14’000 Sportlerinnen und Sportler angemeldet hatten, offiziell abgesagt worden war.


(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)

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