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Covid-19 hält uns in Atem, ist aber bereits im Museum

Ausstellung in Aarau
Das Museum Aarau zeigt Bilder von leeren Strassen und Überlegungen von Besuchern über die Bedeutung bestimmter Wörter. Jérôme Favre

Das Coronavirus ist noch keine alte Geschichte, aber bereits Teil von Sammlungen in verschiedenen Institutionen. Ein Überblick über die Deutsch- und Westschweiz.

«Wir sind uns alle einig, dass wir eine historische Zeit erleben.» Aline Minder ist verantwortlich für den öffentlichen Aufruf des Historischen Museums Bern (BHM) an die Bevölkerung, die Coronavirus-Krise zu dokumentieren. Seit diesem Frühjahr hat sie rund 100 Vorschläge von Gegenständen erhalten, die vom Alltag der Bernerinnen und Berner in dieser Zeit zeugen.

Das Musée d’Art et d’Histoire Fribourg (MAHF) erzielte mit seiner Sammlung von Zeugenberichten einen ähnlichen Erfolg. «Jeder hat diese Halbeinsperrung durchlebt, jede und jeder wird zum Zeugen», sagt MAHF-Direktor Ivan Mariano. Viele Menschen hätten Dinge in sozialen Netzwerken geteilt, und sie wollten dieses kollektive Gedächtnis nicht verlieren.

Das Dokumentieren von Geschichte im Entstehen ist nichts Neues. «Es ist auch unsere Aufgabe, uns für die jüngere Geschichte zu interessieren», sagt Mariano. Minder stimmt zu: «Als die Berner Young Boys Schweizer Fussballmeister wurden, kam etwas in die Sammlung. Wir haben auch Abzeichen oder Schilder vom Frauenstreik im letzten Jahr, das sind einmalige Gegenstände.»

Eine Ausstellung über Isolation

Die Bevölkerung aufzufordern, Fotos von Objekten zu schicken – um diese Objekte dereinst zusammenzustellen – wie in Bern, oder Foto-, Video- oder Textzeugnisse wie in Freiburg, ist dagegen neu. Während es dem BHM eher darum geht, Material zu sammeln, ohne eine Ausstellung zu planen, ist das vom MAHF gesammelte Material Teil eines lang geplanten Projekts: «Ende 2022 werden wir eine Ausstellung über Isolation und Gefangenschaft präsentieren», sagt Mariano. «Es würde etwas fehlen, wenn wir nicht über diese Halbeinsperrung sprechen würden.»

Maskierter Teddybär
Maskierter Teddybär, der von einer Reise nach Japan mitgebracht wurde. DR

In Aarau, als das Stadtmuseum Anfang Juni wiedereröffnet wurde, sah sich dessen Direktor mit einer grossen Leere konfrontiert. Denn die Ausstellung, die im Mai beginnen sollte, war abgesagt worden. Marc Griesshammer fand schnell ein neues Thema: «Wir haben überlegt, dass sich auch die Bevölkerung jene Fragen stellt, die wir uns zur Krise stellen.»

Mit Plakaten in der Stadt und Postkarten wurden die Aargauerinnen und Aargauer gefragt, was die neue Normalität ist oder was zwei Meter Abstand für sie bedeuten. In seinem Foyer zeigt das Museum Bilder von leeren Strassen und Reflexionen von Besuchenden über die Bedeutung bestimmter Wörter. «Wir kennen die Worte ‹Solidarität›, ‹Sicherheit› oder ‹Distanz›, aber ihre Bedeutung hat sich in den letzten Monaten geändert. Auch das Wort ‹Superspreader› ist in letzter Zeit aufgetaucht.»

Einzigartiger Moment im täglichen Leben

«Herrscht der coro-normalExterner Link?», fragt das Stadtmuseum Aarau und spielt mit dem Ausdruck «courant normal»… Die neue Normalität ist kaum eine Realität, die im Begriff ist, zu Sammlungen hinzugefügt zu werden, die aus mittelalterlichen Schwertern, Porträts aus dem 17. Jahrhundert oder Souvenirs des Ersten Weltkriegs bestehen.

Fehlt hier nicht einfach die Erfahrung? Ivan Mariano stimmt dem zu und stellt fest, dass dazu die Arbeit von Historikern erforderlich ist, und Aline Minder räumt ein, dass «die Objekte, die wir auswählen, vielleicht nicht die sind, die wir in fünf Jahren auswählen würden».

Aber, fügt sie hinzu, «Historiker werden nicht leugnen, dass wir etwas Einzigartiges erleben und dass seit den Weltkriegen kein Moment das tägliche Leben so sehr geprägt hat».

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Marc Griesshammer wollte die Gelegenheit nutzen, um mehr als nur Erinnerungen zu sammeln: «Die Reflexion kommt natürlich später, ob zum Beispiel über den Kontext oder über den ästhetischen Wert der Fotos. Dies ist eine wichtige Arbeit, und wir werden sie leisten. Aber auch die Möglichkeit, die Gegenwart zu dokumentieren, ist wichtig.»

Wenn die Freiburgerinnen und Freiburger in etwas mehr als einem Jahr zum MAHF gehen werden, um sich über die verschiedenen Formen der Isolation (Gefängnisse, Klöster, usw.) zu informieren, werden sie mehr Perspektive haben als ihren eigenen Lockdown. Die von der Institution gesammelten Zeugnisse werden dem Publikum noch etwas anderes bringen, sie werden es «wieder in eine breitere Atmosphäre und Reflexion versetzen. Das Museum ist auch da, damit wir nicht vergessen».

Erinnerung durch Erfahrungsberichte

Im Mittelpunkt des Ansatzes dieser drei Museen steht daher der Gedanke der Erinnerung durch Berichte von Zeitzeugen. «Unsere Spezialität», so Minder, «ist es, Objekte zu sammeln, die eine Geschichte in sich tragen.»

Im Unterschied dazu geht es weder in Freiburg noch in Aarau um Gegenstände. Obwohl Griesshammer in Aarau später einige sammeln könnte, die mit den erzählten Geschichten verbunden sind und einen Austausch zwischen Besuchern, zwischen Aargauerinnen und Aargauern ermöglichen. Das ist auch die soziale Rolle, die er in seinem Museum sieht.

Die Erinnerungen, die diese Krise sowohl im Gedächtnis als auch in den Sammlungen der Museen hinterlassen werden, sind vielfältig. Eine 85-jährige Frau nutzte diese Zeit, um Kleider zu stricken. Künstler haben gemalt. Und Menschen porträtieren sich selber auf Fotos, die sie an das MAHF geschickt haben. Das Historische Museum in Bern erhielt von Gewerkschaftern eine Fahne, die am 1. Mai verwendet wurde.

«Es ist ein Objekt mit einer Geschichte, es wurde von der Polizei beschlagnahmt, und einer der Gewerkschafter demonstriert seit Jahrzehnten», sagt Minder. Zu den Online-BildernExterner Link des Museums gehören auch Kochbücher, Brettspiele und Sportgeräte.

T-Shirt mit lustigem Spruch von Bundesrat Berset
Ein T-Shirt, das von Sympathisanten des Schweizer Gesundheitsministers Alain Berset entworfen wurde Gudrun Foettinger

Die Krawatte von Daniel Koch

Ist der Mundschutz das, was von der Krise übrigbleiben wird? Es ist schwierig, das Symbol der Krise par excellence zu identifizieren. Die Tschechen haben Masken aus selbstgemachtem Stoff, denen das Nationalmuseum in Prag seit Mai zwei Vitrinen widmet.

«In der Schweiz ist es etwas Neueres», sagt Mariano, obwohl der Mund- und Nasenschutz seit Anfang Juli in den öffentlichen Verkehrsmitteln obligatorisch ist und sein Fehlen schon früher oft diskutiert wurde. Es handelt sich also nicht um ein Symbol, «zumindest noch nicht», sagt Minder.

Stattdessen denkt die Bernerin eher an die ikonische Seite gewisser Persönlichkeiten wie Bundesrat Alain Berset oder Daniel Koch, der lange Zeit für das Krisenmanagement im Bundesamt für Gesundheit verantwortlich war.

«Es ist auch ein Zeichen dieser Ausnahmesituation, dass wir versuchen, Objekte von berühmten Persönlichkeiten zu sammeln», sagt sie, bevor sie anfügt, dass sie den Sammlungen ihres Museums sehr gerne eine Krawatte von Daniel Koch hinzufügen würde, der unter anderem dafür bekannt ist, bei jeder seiner vielen Pressekonferenzen eine andere getragen zu haben.

Ein weiterer emblematischer Gegenstand derselben Art, der Hut von Alain Berset, könnte die Bestände des Landesmuseums Zürich bereichern. Es soll ab Januar in eine Ausstellung aufgenommen werden, die Kurzgeschichten und Anekdoten von Bundesrätinnen und Bundesräten zeigt, insbesondere im Zusammenhang mit Krisen wie den beiden Weltkriegen. Und wie jener des Coronavirus.

(übertragen aus dem Französischen von Melanie Eichenberger)

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