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Aufseher der Terror-Bekämpfung

Daniel Kipfer
Roland Schmid

Daniel Kipfer wachte drei Jahre als Ombudsperson über die wichtigste Terrorliste der UNO, nun ist er abgetreten. Im hochpolitisierten Feld der globalen Terrorismusbekämpfung musste der Schweizer Richter für Rechtstaatlichkeit sorgen.

Es war ausgerechnet der letzte Fall, der Daniel Kipfer am meisten befremdete. Ein einflussreicher Politiker aus einem arabischen Staat wurde beschuldigt die Terrororganisation Al-Qaida zu unterstützen. Er wurde auf eine Sanktionsliste gesetzt, seine Bankkonten wurden eingefroren, er durfte nicht mehr ausreisen und wurde als Terrorist gebrandmarkt.

Kurz darauf wandte sich der Mann an Daniel Kipfer, der OmbudspersonExterner Link für das UNO-Sanktionsregime gegen die Gruppierungen Islamischer Staat (IS) und Al-Qaida, mit der Bitte um eine Überprüfung seines Falles – und die Streichung von der Liste. Die Ombudsperson ist praktisch die einzige Ansprechperson, die Beschuldigte kontaktieren können, wenn sie sich in einer solchen Situation befinden.

«Schon von Beginn weg war klar, dass hier einiges nicht stimmte», sagt Kipfer. Die ihm zur Verfügung gestellten Informationen stammten aus Nachrichtendienstquellen, deren Ursprung nicht nachvollziehbar war und die qualitativ bedenklich waren. Kipfer leitete das Verfahren ein und begann mit der Recherche: Er reiste in die Region, wo er sich mit dem Mann traf. Er sprach mit hochrangigen Vertreter:innen aus Politik und Militär, konsultierte Expert:innen in der UNO-Zentrale in New York und wertete öffentlich zugängliche Informationen aus. «Das Fazit war eindeutig: Da war nichts.»

Wie also kam es dazu, dass der Beschuldigte im Visier von diversen Nachrichtendiensten landete? Kipfer sieht zwei Möglichkeiten: Es handle sich entweder um einen Fehler, der aus mangelndem Verständnis der lokalen Begebenheiten resultierte. Oder um gezielte Sabotage, um einen politischen Gegner mittels Streuung von Desinformation auf die Terrorliste der UNO zu setzen – und ihn so auszuschalten. «Beides ist möglich, und beides ist höchst beunruhigend», sagt Kipfer.

Richter und Philosoph

Daniel Kipfer war Präsident des Bundestrafgerichts in Bellinzona, bevor er 2018 seine neue Stelle in New York antratExterner Link. Für den Richter und promovierten Philosophen war es ein Schritt ins Unbekannte: Denn das Sanktionsregime ist kein Gericht, und die Ombudsperson kein Richter. Es handelt sich vielmehr um ein Aufsichtsorgan, dass in Einzelfällen prüft, ob eine Listung weiterhin gerechtfertigt ist.

UNO Sicherheitsrat
Der «counterterrorism» ist in der UNO und im Sicherheitsrat ein politisches Schwerpunktthema. XINHUA/Eskinder Debebe/UN Photo

Eine juristische Einschätzung, ob die ursprünglichen Vorwürfe gerechtfertigt waren, ist nicht vorgesehen – und damit sind auch keine Schadensersatzforderungen möglich. Es wird einzig bewertet, ob von der betroffenen Person weiterhin eine Terrorgefahr ausgeht und die Voraussetzungen für die Listung zum Zeitpunkt der Überprüfung noch gegeben sind.

Der eingangs erwähnte Fall sei eine Ausnahme, stellt der 61-jährige Kipfer klar. Beim grössten Teil der Betroffenen handle es sich um Menschen, die tatsächlich eine Terrororganisation unterstützten oder sogar Mitglied waren. Es sei wichtig zu verstehen, dass es sich dabei nicht um eine Bestrafung handle, sondern um eine präventive Massnahme. Und: «Präventive Massnahmen müssen per Definition zeitlich befristet sein und sollten aufgehoben werden, wenn sie nicht mehr nötig sind. Es sind keine Strafen.»

Leider würden das nicht alle Mitglieder im Sanktionsausschuss so sehen. «Für manche gilt: Wer als Terrorist auf diese Liste kommt, der muss da bleiben, denn er könne auch künftig und für den Rest seines Lebens ein potenzielles Risiko sein.» Das dürfe natürlich nicht sein, so Kipfer: «Denn so kann letztlich unter dem Vorwurf des Terrorismus jedes staatliche Vorgehen gerechtfertigt werden.»

Der global geführte «War on Terror» hatte in den letzten zwei Jahrzehnten massive Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen staatlichen Sicherheitsansprüchen und individuellen Grundrechten. Das komplexe Spannungsfeld zeigt sich an der Entwicklung der Sanktionsliste.

Deren Entstehen geht auf die Internationalisierung des islamistischen Terrorismus in den 1990er-Jahren zurück. Ausschlaggebend waren die Angriffe auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania 1998, die Osama bin Laden und die Al-Qaida in den Fokus westlicher Nachrichtendienste rückten. Mit der 1999 erlassenen Resolution 1267Externer Link wurde die Führung der afghanischen Taliban sanktioniert, die bin Laden und anderen Terroristen Unterschlupf gewährten.

Diese Sanktionsliste unterlief im Laufe der Zeit zahlreiche Veränderungen, diente jedoch seither als Blaupause für das Instrument der «targeted sanctions»: Damit sollten die Verantwortlichen gezielt getroffen werden, und nicht mehr Staaten (und mit ihnen die ganze Bevölkerung) mit umfassenden Embargos belegt werden.

Diese individualisierten Massnahmen wurden als Fortschritt gegenüber den staatlichen Embargos gesehen. Problematisch waren aber auch sie, weil den Betroffenen das Recht zu einer gerichtlichen Überprüfung verwehrt wurde. Nach 9/11 und dem Start des «War on Terror» fand eine massive Ausweitung statt, es landeten zahlreiche Leute auf diese Liste, die offensichtlich nicht darauf gehörten. Damit wurden Existenzen zerstört, der ehemalige Europarats-Abgeordnete Dick Marty bezeichnete ihre Situation als «sozialen TodExterner Link«.

Erst mit der Einsetzung der Ombudsperson 2009 wurde ein Mechanismus geschaffen, der minimale Verfahrensgarantien für die Gelisteten bot. Kipfers zwei Vorgängerinnen bereinigten zahlreiche problematische Fälle und disziplinierten mit ihrer Arbeit das Vorgehen des Sanktionsausschusses, insbesondere hinsichtlich der verwendeten Entscheidungsgrundlagen. Diese basierten oft ausschliesslich auf unüberprüfbaren nachrichtendienstlichen Quellen. Qualität und Transparenz haben sich seither deutlich verbessert.

Dennoch: Kipfer fand sich in einem hochpolitisierten Umfeld wieder. Bei der UNO ist «counterterrorism» ein politisches Schwerpunktthema, für das auch viel Geld zur Verfügung gestellt wird. Die Ombudsperson ist dagegen eine Minientität in diesem Apparat, die zudem unter Druck steht. Kipfer war Verteidiger, Staatsanwalt, Richter und Diplomat in einem, an seiner Seite standen einzig zwei Mitarbeiterinnen. «Das Missverhältnis ist offensichtlich.» Die Ombudsperson ist zudem nicht bei der UNO angestellt, sondern übt ihre Tätigkeit im Mandat aus.

Ambivalente Stellung

Handelt es sich bei der Ombudsperson also um ein Feigenblatt, das einem rechtstaatlich fragwürdigen Mechanismus den Stempel von Legitimität verleihen soll? Kipfer weist den Vorwurf zurück. Im Sanktionsausschuss müssen alle 15 Mitglieder gegen die Empfehlung der Ombudsperson stimmen, um ihren Entscheid umzustossen – ein einzigartiges Prozedere innerhalb der UNO. «Bisher wurde bei den rund hundert Fällen immer der Empfehlung der Ombudsperson gefolgt, trotz teilweise starker Opposition einzelner Staaten. Das ist ein eindeutiges Zeichen für die faktisch starke und unabhängige Stellung, die diese Institution hat.» Und die Betroffenen, deren Sanktionen aufgehoben werden, sähen das wohl ohnehin nicht so.

Eine gewisse Ambivalenz kann aber auch er erkennen. Das Konstrukt der individuellen Sanktionsregime bleibe problematisch, und ob der Sicherheitsrat überhaupt dazu berechtigt ist, solche zu führen, könne gar nicht vor einem Gericht überprüft werden, so Kipfer. Das Primat der Politik über den Grundrechtsschutz im «counterterrorism» ist hier eindeutig.

Nur: Was wäre die Alternative, fragt er? «In den ersten zehn Jahren ihres Bestehens landeten Menschen ohne einen Prüfungsmechanismus auf dieser Liste, ohne jegliche Chance sich zu wehren. Ich ziehe die heutige Situation eindeutig vor, auch wenn Verbesserungen im Grundrechtsschutz natürlich nach wie vor möglich und nötig wären.»

Problematischer erscheint Kipfer ohnehin etwas anderes: «Heute bestehen weitere 12 vergleichbare Sanktionsregimes ohne jegliche Kontrollmechanismen.» Es gebe zwar Bestrebungen für einige davon ebenfalls die Stelle einer Ombudsperson einzurichten, dabei handle es sich jedoch um die politisch weniger heiklen Fälle. Eine grundsätzliche Richtungsänderung sei nicht in Sicht.

In diesem Prozess spielt die Schweiz als Gründerin und inoffizielles Sprachrohr der Like-Minded Group on targeted sanctionsExterner Link, einer Staatengruppe, die sich für verbesserte Verfahren einsetzt, eine tragende Rolle. Sie war auch wesentlicher Treiber hinter der Schaffung des Verfahrens und der Stelle der Ombudsperson.

Der menschliche Faktor

Ein Freipass ist das Verfahren für die Gelisteten jedoch nicht. In rund zwei Drittel der Fälle beantragte Kipfer zwar eine Streichung von der Liste, bei den übrigen allerdings explizit nicht. Erstaunlicherweise erfuhr er Dank auch von Leuten, die er weiterhin als gefährlich einstufte. «Die Ombudsperson ist ein Gesicht in einem System, das oft als kafkaesk erlebt wird.» Angehört zu werden, seine Argumente vorbringen zu können, sich in einem ordentlichen Verfahren zu wähnen – diese Elemente führen dazu, dass sie den Entscheid besser akzeptieren könnten.

Die wenigsten negieren denn auch ihre Vergangenheit. «Aber viele von ihnen stehen einfach an einem anderen Punkt in ihrem Leben. Sie haben diese Strukturen verlassen, gehen manchmal einer einfachen Beschäftigung nach, haben eine Familie.» In solchen Fällen sei eine Aufrechterhaltung der Sanktionen nicht mehr gerechtfertigt, anders als eben bei radikalisierten Fanatikern und Schwerverbrechern. Deutlich schwieriger fassbar hingegen seien Financiers etwa aus der Golfregion, die wegen verdächtigen Finanzflüssen aufgefallen sind. Zurzeit sind rund 400 natürliche und juristische Personen aufgelistet.

Per Dezember 2021 ist Kipfer von seinem Posten zurückgetretenExterner Link, er ist ans Bundesstrafgericht zurückgekehrt. Ausschlaggebend war eine Mischung von privaten und institutionellen Gründen. Problematisch sei – auch mit Hinsicht auf seine Nachfolge, die noch immer nicht geregelt ist – die institutionelle Stellung der Ombudsperson innerhalb der UNO: Etwa Fragen der Altersvorsorge, Versicherung und die Unterstellung der Ombudsperson unter das Generalsekretariat sind nicht oder nur ungenügend geregelt, zudem ist das Mandat auf eine einmalige Dauer von fünf Jahren begrenzt. Hier bestehe dringendes Verbesserungspotenzial, aber im Sanktionsausschuss und im Sicherheitsrat bewege sich nichts: «Das ist wohl einfach keine Priorität.»

Viele Begegnungen haben Kipfer bleibende Eindrücke hinterlassen. Auffällig ist das ambivalente Verhältnis von Terror und «counterterrorism»: In praktisch jedem Gespräch sei der völkerrechtswidrige Irakkrieg als persönlicher Angriff auf Kultur und Religion gedeutet worden, gegen den man zu den Waffen greifen musste. Und auch die verheerenden massenpsychologischen Auswirkungen von extralegalen Tötungen im Drohnenkrieg würden im Westen zu wenig verstanden, so Kipfer. «Man sollte nie unterschätzen, wie unterschiedlich die Welt aussieht, je nachdem von wo aus man sie betrachtet.»

Youssef Nada, ein ägyptisch-italienisches Mitglied der Muslimbruderschaft, landete nach 9/11 als angeblicher Financier von Al-Qaida auf die UN-Terrorliste. Es dauerte Jahre, bis die Sanktionen gegen ihn aufgehoben wurden – obwohl ihm nie etwas nachgewiesen werden konnte. Lesen Sie hier seine Geschichte:

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der bizarre Fall um Youssef Nada und die Rolle der Schweiz im «War on Terror». Eine Rückblende.

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