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Das Ende des Uhren-Booms in Russland

Geschäft der Marke Cartier in Moskau
Das Geschäft der Marke Cartier in Moskau wurde nach der russischen Invasion in der Ukraine wie alle anderen Schweizer Uhrengeschäfte geschlossen. Oleg Sharan

Wegen des Ukraine-Kriegs haben zahlreiche Schweizer Uhrenkonzerne ihre Aktivitäten in Russland eingestellt. Mit teils weitreichenden Folgen, wie der Moskauer Uhrenexperte Konstantin Startsev aufzeigt.

Vor rund einem halben Jahr haben Schweizer Uhrenfirmen ihre Geschäfte in Russland gestoppt. Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 sind zahlreiche Shops geschlossen worden, neue Modelle werden nicht mehr importiert, und im Einzelhandel sind die Preise stark gestiegen.

Heute ist es in Russland fast unmöglich, neue Luxusuhren aus erster Hand zu erwerben. Doch der Weggang der Unternehmen hat noch grössere Folgen im Land.

Als Vergeltung für den Stopp der Schweizer Uhrenexporte nach Russland beschlagnahmten die russischen Behörden im März Uhren im Wert von mehreren Millionen Dollar in den Geschäftsräumen von Audemars Piguet in Moskau.

Audemars Piguet hatte seine beiden Lokale in Moskau geschlossen und alle Exporte ins Land am 24. Februar eingestellt.

Um das Ausmass der Umwälzungen zu verstehen, ist ein Blick in die jüngere Geschichte hilfreich. Die Swatch Group eröffnete 2006 eine Vertretung in Moskau, die Richemont-Gruppe folgte ein Jahr später. Davor war der russische Uhrenmarkt ausschliesslich von Fachhändlern repräsentiert worden.

Mit der Ankunft der Konzerne erblühte der Handel: mit grossen Geschäften und einer Vielzahl Dienstleistungen, mit limitierten Auflagen zu besonderen Anlässen und Besuchen von Markenbotschaftern und Firmenchefs an grossen Festen. Bis vor kurzem waren praktisch alle Schweizer Uhrenmarken vertreten, entweder direkt oder via Fachhändler.

Konstantin Startsev
Konstantin Startsev ist Journalist und Mitglied des Grand Prix d’Horlogerie de Genève. / Kondrateva.marka

Laut dem Jahresbericht des Verbands der Schweizer Uhrenindustrie (FH) stiegen die Uhrenexporte nach Russland im Jahr 2021 um 30,5% gegenüber 2019, dem Jahr vor der Corona-Pandemie.

Damit war Russland im vergangenen Jahr der 17. grösste Markt für Schweizer Uhren weltweit, mit Exporten im Wert von rund 260 Millionen Franken, was einem Einzelhandelswert von über einer halben Milliarde Franken entspricht.

Wenn man zu dieser Zahl die Exporte von ausländischen Modellen und die Investitionen in die Infrastruktur (Geschäfte, Service und Personal) addiert, ist die Grösse des Markts noch beeindruckender.

Obwohl Analysten von Morgan Stanley schätzen, dass die Verkäufe in Russland für die Marken Richemont, Swatch und weitere unabhängige Uhrenhersteller nur 2 bis 3% ihres Gesamtumsatzes ausmachen, war die Aufmerksamkeit, die dem russischen Markt während den letzten Jahren zuteilwurde, beträchtlich.

Doch all dies endete am 24. Februar mit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Die Schweiz schloss sich den EU-Sanktionen an, die ein Exportverbot für Luxusgüter im Wert von über 300 Euro beinhalten, was auch einen Lieferstopp für Uhren zur Folge hatte.

Am 8. März kündigte Rolex an, ihre Exporte nach Russland einzustellen; kurz zuvor hatten bereits die Swatch Group (Swatch, Omega, Longines, Tissot, Breguet) und Richemont (Cartier, Van Cleef & Arpels, Vacheron Constantin, Montblanc, Panerai) ihre Ausfuhren gestoppt.

Seit Februar sind die Uhrenexporte um 95,6% eingebrochen. Im August wurden nur 3149 Uhren mit einem Gesamtwert von 229’000 Franken nach Russland geliefert. Das bedeutet, dass der Durchschnittspreis pro Uhr 73 Franken betrug.

Neben der Tatsache, dass es nun schwierig und teuer ist, in Russland eine Schweizer Luxusuhr zu erwerben, hat der Ausfuhrstopp noch weitere Folgen.

1) Der Markt für Schweizer Luxusuhren wird verschwinden

Fachhändler:innen, die vor dem Krieg gute Geschäfte gemacht haben, verkaufen nun ihre Restbestände und suchen nach Möglichkeiten, die Sanktionen zu umgehen. Mercury zum Beispiel, wo Uhren von Patek Philippe, Rolex oder Hublot erhältlich sind, hat die Preise für noch verfügbare Modelle um das Zwei- bis Dreifache erhöht.

Der Secondhand-Handel und das Pfandleihgewerbe sind wiederbelebt worden, aber ein geregelter Markt existiert nicht. Einen Ersatz durch Importe aus Ländern, die keine Sanktionen verhängt haben, wird es nicht geben, da Schweizer Luxusuhren nahezu konkurrenzlos sind. Auch kann in Russland nicht innerhalb weniger Monate eine Uhrenmanufaktur gegründet werden.

Früher gehörte das Land zu den Top 30 der grössten Märkte für Uhren (und bei einigen Marken sogar zu den Top 3), nun befindet es sich an der Peripherie: ohne Shops, Vertretungen oder Kundendienst.

2) Das soziale Leben in Moskau und die Unterstützung kultureller Projekte werden verschwinden

Audemars Piguet wird das Bolschoi-Theater nicht mehr sponsern oder ihm sogar ein Uhrenmodell widmen, wie dies bei der limitierten Auflage «Bolschoi» der Code-11.59-Kollektion der Fall war.

Rolex wird nicht mehr offizieller Zeitnehmer des Formel-1-Rennens sein, das traditionell im September in Sotschi über die Bühne ging. Die Oldtimer-Rallyes, die von der Familie Scheufele, den Besitzern der Marke Chopard, initiiert und 14 Jahre in Folge veranstaltet wurden, werden auch gestoppt.

Ausstellungen in Museen und Boutiquen werden ausbleiben, ebenso Kundenabende mit weltbekannten Markenbotschafter:innen. Somit wird das Niveau der kulturellen Aktivitäten sinken, vor allem in Moskau. Dort könnte sich das Gesellschaftsleben in eine Abfolge von Provinzpartys im Geiste der 1990er-Jahre verwandeln.

3) Der Uhrenjournalismus wird verschwinden

Auch der Uhrenjournalismus in Russland, der von hoher Qualität war, wird verschwinden. Beispielsweise sind etwa zehn Russ:innen Mitglieder des Grand Prix d’Horlogerie in Genf, was für einen einzigen Markt sehr viel ist.

Das Informationsniveau über die grossen Uhrenpremieren der Welt dürfte sinken. Vieles wird bestenfalls übersetzt und schlimmstenfalls von Bloggerinnen und Bloggern übernommen werden, die weder an Messen teilnehmen noch Manufakturen besuchen und stattdessen ihr Wissen oft nur aus den sozialen Medien beziehen. Auch im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit besteht die Gefahr, dass die Qualität stark leiden wird.

4) Die Uhrengemeinde wird verschwinden

Ein von den Marken sorgfältig zusammengestelltes Publikum von Sammler:innen, Uhrenliebhaber:innen und Boutique-Kund:innen wird auch verschwinden. Dabei handelt es sich in erster Linie um sehr wohlhabende Personen aus verschiedenen Branchen.

5) Der Markt für hochwertige Gewerbeimmobilien ist gefährdet

Uhrengeschäfte waren zum grossen Teil für das Aussehen und die Atmosphäre der wichtigsten Moskauer Einkaufsstrassen verantwortlich. Im Fall eines endgültigen Wegzugs werden diese Räumlichkeiten jedoch auf unbestimmte Zeit leer stehen.

Mit einem neuen Besitzer könnten sie den Chic und Glamour verlieren, da es einfach nicht genügend Luxusmarken gibt, die sie füllen könnten.

6) Der Markt für gefälschte Uhren wird florieren

Das Risiko, auf gefälschte Uhren zu stossen, ist stark gestiegen, da es aus Mangel an Verkaufskanälen kaum mehr möglich ist, Echtheitsgarantien zu erhalten.

Generell werden der Schwarzmarkt und der Schmuggel florieren, so wie das bereits in den 1990er-Jahren der Fall war. Neue Uhren werden nur noch nach einigen Monaten und über dubiose Händler:innen zu einem massiv höheren Preis erhältlich sein.

Das Fazit ist ernüchternd: Die Luxusuhrenkultur in Russland hatte kaum Zeit, sich vollständig zu verwurzeln. In den meisten Fällen sind solche Uhren nur ein Objekt, das dazu dient, den sozialen Status zur Schau zu stellen.

Expert:innen, die Jahrzehnte damit verbracht haben, Wissen und Erfahrung zu sammeln, werden gezwungen sein, auf andere Berufe umzusteigen. Russische Kultureinrichtungen werden treue Sponsoren verlieren, der Markt für Luxusmagazine ist eingebrochen, weil es an Werbekunden mangelt.

Es bleibt die Hoffnung, dass diese Situation nicht lange anhält und es eine Wiederbelebung des russischen Markts geben wird, denn schliesslich werden Schweizer Uhren in Russland sehr geschätzt und gerne getragen.

Nach dem US-russischen Gipfeltreffen in Genf im Jahr 2021 schenkte Bundesrat Guy Parmelin sowohl Joe Biden als auch Wladimir Putin eine Tissot-Uhr im Wert von 1000 Franken.

Die Übergabe fand, wie es das Protokoll vorschreibt, abseits der Kameras statt. Es ist nicht bekannt, ob Putin sein Geschenk zu schätzen wusste und sich bei seinem schweizerischen Amtskollegen revanchierte.

Russischen Medienberichten zufolge besitzt der russische Präsident aber mindestens 11 Luxusuhren. Das Sortiment soll Modelle von fünf Schweizer und einer deutschen Marke umfassen: Blancpain, IWC, Breguet, Patek Philippe, F.P. Journe und Lange & Sohne.

Vor dem Hintergrund der Sanktionen und dem Rückzug westlicher Unternehmen trägt Putin nun eine russische Uhr der Marke «Raketa».

swissinfo.ch

>> Zum Nachlesen: Unser Artikel über die Auswirkungen der Sanktionen auf den Schweizer Luxusgütersektor:

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Bearbeitet von Samuel Jaberg

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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