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«Das Losverfahren ist diskriminierungsfrei»

Justitia
Eine Statue von Justitia, der römischen Göttin der Gerechtigkeit. Keystone / Stefan Puchner

Wenn Richterämter per Los vergeben würden, gäbe es mehr Bewerbungen von Frauen, sagt die Wissenschaftlerin Margit Osterloh. Sie hat dies in Laborexperimenten nachgewiesen.

Am 28. November entscheidet die Schweizer Stimmbevölkerung über die Justiz-Initiative. Diese verlangt, dass Richter:innen des Bundesgerichts zukünftig nicht mehr vom Parlament gewählt, sondern durch das Los bestimmt werden. Wer zum Losverfahren zugelassen wird, würde eine Fachkommission entscheiden.

Davon erhoffen sich die Initiant:innen eine Entpolitisierung der Justiz und als Nebeneffekt auch einen höheren Frauenanteil in Richterämtern. Wir haben mit der Professorin Margit Osterloh gesprochen, die zu Zufallsauswahlen geforscht hat.

Margit Osterloh
Margit Osterloh ist emeritierte Professorin der Universität Zürich, ständige Gastprofessorin an der Universität Basel und Forschungsdirektorin vom Center for Research in Economics, Management and the Arts (CREMA) in Zürich. zVg

swissinfo.ch: Als Orchester begannen, Bewerber:innen hinter einem Vorhang vorspielen zu lassen, stieg der Frauenanteil. Führt die Justiz-Initiative mit dem Losverfahren bei der Auswahl von Richter:innen zu einem ähnlichen Effekt?

Margit Osterloh: Ja, aber auf völlig anderer Grundlage. Der Vorhang-Effekt zeigte sich, weil negative Rollenstereotypen gegenüber den Frauen herrschten. Das ist ein anderer Effekt als jener beim Los. Das Los führt dazu, dass sich Frauen deutlich mehr um Führungspositionen bewerben als beim herkömmlichen kompetitiven Verfahren.

Zusammen mit der Professorin Katja Rost und den Forschenden Malte Doehne und Joel Berger habe ich Laborexperimente durchgeführt. Diese – und auch unsere historische Forschung zu Minderheiten – zeigten den Effekt deutlich: Bewerbungen von Frauen und anderen Minderheiten haben beim Losverfahren um den Faktor drei zugenommen.

Warum ist das so?

Frauen und andere Minderheiten sind unsicher, wenn sie in Konkurrenz treten zu den bisherig Arrivierten. Und sie fürchten auch, wenn sie siegreich hervorgehen, als Emporkömmlinge disqualifiziert zu werden.

«Wenn Sie ein Losverfahren haben, brauchen Sie keine Quoten mehr.»

Wenn das Los spielt, sind sie sicherer. Ihre Angst vor dem Versagen oder dem Gesichtsverlust ist geringer. Die Angst, von Männern anschliessend diskriminiert zu werden – die im kompetitiven Verfahren nicht gerne besiegt werden –, ist auch geringer. Denn die Männer, die im Losverfahren unterliegen, können das leichter ertragen, als wenn sie bei einer Wahl unterliegen. Das antizipieren die Frauen natürlich, die sind ja bekanntlich sehr klug in dieser Hinsicht.

Die Initiant:innen haben es allerdings verpasst, die Bedingung einer angemessenen Geschlechtervertretung – so wie diejenige der Sprache – bei der Vorauswahl aufzustellen. Was, wenn es nur wenige Frauen in den Los-Pool schaffen?

Warum sollten weniger Frauen in einen Pool reinkommen, der von einer Expertenkommission ausgewählt wird, als in jenen, der von der heutigen Gerichtskommission ausgewählt wird? Wie argumentiert, werden vermutlich mehr Frauen kandidieren.

Sobald das Losverfahren zur Anwendung kommt, gleicht sich das Geschlechterverhältnis über die Zeit aus. Wenn Sie ein Losverfahren haben, brauchen Sie keine Quoten mehr.

Der Initiant Adrian Gasser stand im Interview mit swissinfo.ch Red und Antwort:

Es geht im Übrigen nicht nur um Mann und Frau: Es gibt Menschen mit Migrationshintergrund, mit körperlichen Benachteiligungen oder einer besonderen sexuellen Orientierung. Im gegenwärtigen Verfahren wird dies überhaupt nicht berücksichtigt. Beim Losverfahren haben alle die gleichen Chancen und über die Jahre wird die Richter:innenschaft diverser und ausgeglichener.

Das zeigt auch die Geschichte: In vielen oberitalienischen Städten, aber auch in vielen Gemeinden und Städten in der Schweiz, wurde das Losverfahren bis ins 19. Jahrhundert angewendet. In Basel beispielsweise schafften es mit der Einführung des Losverfahrens drei Mal mehr Menschen, die nicht aus dem «Basler Daigg» stammten, in den Kleinen Rat. Das war ein unglaublicher Erfolg, ein Zugewinn an Diversität. Zudem mussten sich die Leute weniger bekämpfen, weil sie wussten: Jeder kommt mal dran.

Eine Anwältin, die den Frauenanteil an Schweizer Gerichten untersucht hat, äusserte Bedenken: Wenn es keine Möglichkeit zur Teilzeitarbeit gebe, würden sich weniger Frauen bewerben.

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Ja, das ist ein legitimer Einwand, der allerdings für jedes Verfahren gilt – insbesondere das heutige. Das muss in jedem Fall bedacht werden.

Untersuchungen aus anderen Ländern haben gezeigt, dass die von einem Expertengremium gewählte Richterschaft überwiegend aus konservativen, weissen Männern besteht – weil das Expertengremium eben auch aus konservativen, weissen Männern besteht.

Nun ja, die Expertenkommission soll laut Justiz-Initiative vom Bundesrat ernannt werden. Die Regierung muss also dafür sorgen, dass die Expertenkommission divers zusammengesetzt wird.

Im Moment ist die Richterschaft alles andere als divers. Der Kreis derjenigen, die gewählt werden können, ist sehr eng: Man muss in einer Partei sein, und zwar in jener, die gerade einen Platz zu vergeben hat. Das ist eine ungeheure Einschränkung. Ich würde so weit gehen zu sagen, die viel beschworene demokratische Legitimation ist in Frage gestellt.

Grafik
Kai Reusser / swissinfo.ch

Sie forschen zum Thema Quoten und Zufallsauswahl in der Wirtschaft. Das qualifizierte Losverfahren verändere das Bewerbungsverhalten von leistungsstarken Frauen gewaltig, sagen Sie.

Ja, das ist so. Das kam bei unseren Laborexperimenten klar hervor: Im Vergleich zum herkömmlichen kompetitiven Verfahren bewerben sich beim qualifizierten Losverfahren – also einer Auslosung aus einem Pool von qualifizierten Personen – drei Mal mehr Frauen.

«Hochleistungsfrauen haben viele Feinde, nämlich alle durchschnittlichen Männer.»

Deshalb halte ich das Los für die bessere Methode als Quoten – obwohl diese auch zu mehr Bewerbungen von Frauen führen.

Quoten sind jedoch umstritten, weil sich die jungen Männer über eine umgekehrte Diskriminierung beschweren. Das Losverfahren hingegen ist diskriminierungsfrei.

Das Forschungsergebnis überrascht mich nicht. Frauen meiden auch Richterwahlen durch das Volk, weil sie sich exponieren müssten. Warum haben Frauen eine höhere Wettbewerbsaversion als Männer?

Eine Freundin von mir sagte mal: Hochleistungsfrauen haben viele Feinde, nämlich alle durchschnittlichen Männer. Wenn eine Frau sich an die Spitze gekämpft hat, wird sie beschimpft und beleidigt. Es gibt auch empirische Belege, dass diese Frauen mehr Schwierigkeiten in der Partnerschaft haben. Das antizipieren die Frauen natürlich.

«Das Los macht bescheidener.»

In diesem Zusammenhang fällt mir ein: Das Losverfahren hat auch einen positiven Effekt nach der Wahl. In einem zweiten Experiment haben wir untersucht, wie sich die Personen nach der Wahl verhalten. Die per Los Gewählten haben sich sozialer und kollegialer verhalten als jene, die in einer klassischen Wahl gewonnen haben. Das ist ja auch klar: Wer per Los gewählt wurde, sitzt nicht auf dem hohen Ross. Sie oder er weiss, dass da auch Glück im Spiel war. Das Los macht bescheidener.

Am 28. November entscheidet die Schweizer Stimmbevölkerung über die Justiz-Initiative. Diese verlangt, dass Richter:innen des Bundesgerichts zukünftig nicht mehr vom Parlament gewählt, sondern durch das Los bestimmt werden. Wer zum Losverfahren zugelassen wird, würde eine Fachkommission entscheiden. Die Richter:innen dürften bis fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Pensionsalters im Amt bleiben und könnten einzig in einem Amtsenthebungsverfahren entlassen werden. Damit soll die Unabhängigkeit der Richter:innen von der Politik gewährleistet werden. Gegenwärtig vergibt das Schweizer Parlament die Stellen von Bundesrichter:innen nach Parteienstärke. Bewerber:innen müssen also Parteimitglied sein und nach einer allfälligen Wahl der Partei Geld abliefern (Mandatssteuer). Diese Verflechtung von Politik und Justiz wird national und international kritisiert.

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