Sagen Sie im Job Ihre Meinung – der Demokratie zu liebe
Angestellte, die am Arbeitsplatz mitreden dürfen, beteiligen sich auch ausserhalb des Berufs eher am demokratischen Prozess. Doch neue Trends am Arbeitsmarkt seien eine Gefahr für die Demokratie, warnt ein Fachmann.
Eine Demokratie lebt nicht nur davon, dass die Bürgerinnen und Bürger regelmässig zur Urne schreiten, um ihr Verdikt abzugeben. Gerade in der Schweiz mit ihrem ausgeprägten Milizsystem ist das Volk nicht nur bei Wahlen und Abstimmungen gefragt. Viele öffentliche Aufgaben werden hier auf freiwilliger Basis nebenamtlich erledigt. In vielen Gemeinden kümmern sich beispielsweise Bürgerinnen und Bürger als Mitglieder von Kommissionen um die unterschiedlichsten Dinge – von der Vergabe von Kulturbeiträgen bis zur Planung des Strassenunterhalts.
Demokratische Partizipation kann noch zahlreiche weitere Ausprägungen annehmen: von der Teilnahme an Demonstrationen über das Sammeln von Unterschriften bis zum Aufhängen von Flaggen und Transparenten vor dem eigenen Fenster. Das alles macht Demokratie lebendig.
Unterricht in Sachen Demokratie
Doch Demokratie muss erlernt werden. Was das heisst, erklärt Joachim Blatter, Professor für Politische Theorie an der Universität Luzern: «Man muss lernen, aktiv zu werden, sich einzubringen. Gleichzeitig muss man aber auch erkennen, dass das System Durchhaltewillen erfordert und es nicht ausreicht, einmal laut loszuschreien.» Nicht zuletzt funktioniere Demokratie nur dann, wenn die Bürgerinnen und Bürger gelernt hätten, Kompromisse einzugehen und Niederlagen zu akzeptieren. Das alles habe in einer halbdirekten Demokratie wie der Schweiz eine noch stärkere Bedeutung als in repräsentativen Demokratien.
Übungsfelder für Demokratie gibt es viele: die Familie, den Freundeskreis, die Schule, Vereine und auch den Arbeitsplatz. «Ich halte Demokratie in den Unternehmen für eine Voraussetzung, damit Demokratie auf staatlicher Ebene lebendig sein kann», unterstrich Philosophieprofessorin Rahel Jaeggi neulich die Bedeutung des Arbeitsplatzes im Interview mit SWI swissinfo.ch.
Das ganze Interview mit Rahel Jaeggi lesen Sie hier:
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«Mitsprache in Unternehmen ist Voraussetzung für Demokratie im Staat»
Als erste erwähnte 1970 die britische Politikwissenschaftlerin Carole Pateman einen Zusammenhang zwischen Mitsprache im Beruf und demokratischer Partizipation. Zusammengefasst argumentierte sie: Wenn Angestellte im Beruf mitreden können, löst das bei ihnen ein positives Gefühl aus. Das motiviert sie, sich auch sonst stärker an demokratischen Prozessen zu beteiligen. Andere Wissenschaftler argumentierten später, wer am Arbeitsplatz Demokratie erlebe, erlerne dadurch bestimmte Fähigkeiten, die wiederum auf staatlicher Ebene eingesetzt werden können. Auch das führe zu mehr Partizipation.
Lässt sich auch empirisch ein Zusammenhang zwischen Mitsprache am Arbeitsplatz und demokratischer Partizipation feststellen? Besonders aus den USA gibt es zahlreiche Studien, die den Zusammenhang untersucht und mehrheitlich bestätigt haben. So fanden mehrere Forscherteams eine positive Korrelation zwischen gewerkschaftlicher Vertretung und der Stimmbeteiligung.
Sozioökonomische Themen und die entsprechenden Interessenvertreter wie die Gewerkschaften seien in vielen Ländern über Jahre hinweg zentral gewesen für die Bildung von Parteien – insbesondere sozialdemokratische Parteien – und die damit verbundene demokratische Partizipation und Mobilisierung, sagt der Politologe Joachim Blatter.
Anders in der Schweiz. Hier habe es historisch nie eine sonderlich starke gewerkschaftliche Bewegung gegeben – heute hätten sich viele Länder der Schweiz angeglichen. Kann man daraus schliessen, dass auch der Arbeitsplatz als Übungsfeld für demokratische Prozesse in der Schweiz früher weniger wichtig war als in anderen Ländern? «Ja, das würde ich schon sagen», meint Blatter. «Aber die grossen Unterschiede zwischen den Ländern sind in den letzten 10, 15 Jahren verschwommen.»
Eine umfangreiche Studie zum Einfluss von Mitsprache am Arbeitsplatz auf die demokratische Partizipation haben 2017 drei Ökonomen aus den USA und Australien veröffentlicht. Sie haben aus dem European Social Survey 2010/2011 Daten von über 14’000 Angestellten aus 27 europäischen Ländern – darunter der Schweiz – analysiert. Neun Kennzahlen beschreiben das Ausmass der politischen Partizipation – etwa, ob sich jemand bei der letzten nationalen Wahl beteiligt, an einer Demonstration teilgenommen oder eine Petition unterzeichnet hat. Vier Kennzahlen definieren, wie viel Mitsprache die befragte Person am Arbeitsplatz geniesst – etwa, ob sie ihren Arbeitsort und ihre Arbeitszeit selber bestimmen darf.
Die Forscher fanden nicht nur heraus, dass mehr Mitspracherechte am Arbeitsplatz die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich eine Person auch ausserhalb des Berufs stärker am demokratischen Prozess beteiligt. Die Analyse ergab auch, dass dieser Zusammenhang über die analysierten Länder hinweg gilt.
Wohin die Reise geht
Zwei Veränderungen am Arbeitsmarkt beobachtet Politologie-Professor Blatter, die Demokratie im Hinterkopf, allerdings mit Sorge:
– Die Internationalisierung der Ökonomie: Früher sei es möglich gewesen, Karriere zu machen und nebenbei noch in der Politik oder einem Verband aktiv zu sein, so Blatter. Heute dagegen sei die internationale Konkurrenz viel stärker. «Wer heute beruflich vorwärtskommen will, muss sich reinhängen und hat kaum mehr Zeit für Politik.» Das habe dazu geführt, dass man sich eher auf sich selbst konzentriere und das Gemeinwohl – egal ob innerhalb der Firma oder darüber hinaus – etwas aus den Augen verlieren könne. «Wenn das die Norm und die Sozialisation in der Arbeitswelt ist, hat das Spill-Over-Effekte auf die Gesellschaft und die Demokratie.»
– Exit wird wichtiger als Voice: «Wenn einem etwas nicht passt, gibt es zwei Optionen: Man versucht, es zu ändern, setzt also seine Stimme ein, das wäre die Option Voice. Oder man geht weg, das wäre die Exit-Option», führt Blatter aus. Die heutige Welt – und damit auch der Arbeitsmarkt – seien geprägt von einer unglaublichen Fluidität: «Wenn einem etwas nicht passt, schaut man sich einfach nach etwas Neuem um.» Das sorge zwar für Dynamik, sei aber, wenn es überhandnehme, eine Gefahr für die Demokratie. «Dynamisierung hilft, Menschen zu bewegen; Stabilität hilft, Kompromisse zu finden», erklärt Blatter, «und eine funktionierende Demokratie braucht beides.»
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Doch Blatter sieht auch Trends am Arbeitsmarkt, die ihn zuversichtlich stimmen. So seien viele Unternehmen davon abgekommen, Boni auszuschütten, die allein auf individuellen Zielen basierten. Das führe dazu, dass die Angestellten einen stärkeren Gemeinschaftssinn entwickelten, was für eine Demokratie zentral sei: «Nur die eigenen Interessen zu vertreten, reicht nicht. Man muss auch in der Lage sein, an andere zu denken und so Mehrheiten zu gewinnen.»
Zudem sei es für demokratische Systeme nicht schlecht, dass die Hierarchisierung der Arbeitswelt abgenommen habe. «Früher gab es zu viele Angestellte, die nur ausgeführt haben, was die Vorgesetzten ihnen aufgetragen haben.» Heute müssten die meisten Leute viel selbständiger entscheiden, wie sie ihre Aufgaben erledigten und ihre Ziele erreichten. Insofern sei die heutige Arbeitswelt für die breite Masse aktivierender, meint Blatter.
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