Den Schweizer Städten fehlt ein Sprachrohr in Bundesbern
Die Bundesratswahlen von Ende 2022 haben die Diskussionen um den Stadt-Land-Graben in der Schweiz neu angefacht. Diese Kluft hat die traditionellen Konflikte zwischen den Sprachen und Religionen inzwischen überholt. Städter:innen fühlen sich auf höchster staatlicher Ebene unterrepräsentiert. Die Forderung nach Doppelmandaten wird laut.
Marco Chiesa, Präsident der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), ist nicht gut auf Städter:innen zu sprechen. Klar zum Ausdruck brachte der Tessiner dies 2021 in seiner 1.-August-Rede, als er den mehrheitlich von Sozialdemokrat:innen und Grünen regierten Städten wie Zürich, Basel oder Genf frontal angriff. «Wir erklären dieser moralisierenden Linken, die anderen vorschreiben will, wie sie zu leben und zu denken haben, den Kampf», sagte er provokativ.
Gut ein Jahr später gingen seine Hoffnungen zumindest teilweise in Erfüllung. Bei der Bundesratswahl im Dezember 2022 übertrumpften die Landbewohner:innen die Städter:innen.
Zum einen wurde SP-Ständerätin Eva Herzog aus der Grosstadt Basel von ihrer Parteikollegin Elisabeth Baume-Schneider aus Les Breuleux, einem 1000-Seelen-Ort im Jura, geschlagen, die vor der Wahl stets ihre bäuerlichen Wurzeln in den Vordergrund gerückt hatte.
Zum anderen verlor das Stadtzürcher SVP-Mitglied Hans-Ueli Vogt gegen den Berner Bauernsohn Albert Rösti, der im Bergdorf Kandersteg (rund 1300 Einwohner:innen) aufwuchs und heute in Uetendorf (rund 6000 Einwohner:innen) in der Nähe von Thun lebt.
Landbewohner:innen regieren
Seither können sich nur noch zwei mittelgrosse Städte einer Vertretung in der Bundesregierung rühmen: Brig im Oberwallis mit 13’000 Einwohner:innen, Heimat von Armeechefin Viola Amherd, und Wil im Kanton St. Gallen (etwas weniger als 25’000), Heimat von Bundesrätin Karin Keller-Suter von der Freisinnig-Demokratischen Partei FDP.Die Liberalen (Rechts), die für den Bundeshaushalt zuständig ist.
Die anderen fünf Mitglieder des Bundesrates wohnen alle auf dem Land. Bundespräsident Alain Berset hat seinen Wohnsitz in der freiburgischen Gemeinde Belfaux (3200 Einwohner:innen), Chefdiplomat Ignazio Cassis in Montagnola (2000 Einwohner:innen) im Tessin, und der Waadtländer Guy Parmelin wohnt in Bursins mit 800 Einwohner:innen.
Im Gegensatz zu den Städten haben die Kantone ihren Einfluss in Bundesbern in den letzten Jahren ausgebaut. Sinnbild: das «Haus der Kantone»:
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Wenn man nur ihre Wohnsitze zählt, vertreten die sieben Bundesräte nur rund 50’000 Einwohner:innen, was 0,5% der Gesamtbevölkerung der Schweiz (8,9 Millionen Menschen) entspricht. Das ist sehr wenig in einem Staat, in dem laut letzter Volkszählung rund drei Viertel der Bürger:innen in städtischen Gebieten lebenExterner Link.
Haben die Schweizer Städte ihren politischen Einfluss verloren? Im Rathaus von Zürich, der grössten Stadt des Landes mit über 440’000 Einwohner:innen, wird beklagt, dass die Schweizer Verfassung den Kantonen zwar weitgehende Rechte garantiert, die Städte und Gemeinden aber weiterhin eine untergeordnete Rolle spielen. Auch wenn Artikel 50 den Bund seit 20 Jahren dazu verpflichtet, die besondere Situation der Städte zu berücksichtigen.
«Dies geschieht noch immer in ungenügendem Masse», kritisiert die sozialdemokratische Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch. «Dass in der aktuellen Zusammensetzung kein Mitglied des Bundesrats aus einer grossen Stadt kommt, ist problematisch.»
Benachteiligte Städte
Historisch betrachtet sind die Städte im Bundesrat aber überrepräsentiert. Laut einer Zählung von drei Politolog:innen der Uni Bern, die kürzlich in der Berner Tageszeitung «Der Bund» veröffentlicht wurde, sind von den 52 Regierungsmitgliedern, die seit der Einführung der «Zauberformel» 1960 ein Mandat haben oder hatten, die Vertreter:innen der Grossstädte deutlich in der Gunst der Wähler:innen stehen.
«Während 17% der Bevölkerung in Agglomerationen mit über 50’000 Einwohner:innen leben, beträgt ihre kumulierte Vertretung an der Spitze des Staates 34%», schrieben Alina Zumbrunn, Hans-Peter Schaub und Rahel Freiburghaus in ihrem Bericht. Die Schweiz könne auch nicht klar in Stadt und Land unterteilt werden, weil es viele kleine Städte und Agglomerationsgemeinden gebe, argumentieren die Autor:innen. Zu diesen Gemeinden gehört auch das freiburgische Dorf Belfaux, wo Bundespräsident Berset residiert.
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Der Stadt-Land-Graben wächst
Hingegen kann klar gesagt werden, dass das Phänomen der Stadt-Land-Kluft gerade bei eidgenössischen Abstimmungen zugenommen hat. Mittlerweile ist es viel stärker ausgeprägt als der «Röstigraben» zwischen den Sprachregionen.
«Es ist zwar übertrieben, von einem Graben zu sprechen, der den nationalen Zusammenhalt bedroht, aber man muss schon feststellen, dass es für die gewählten Vertreter:innen der Städte schwierig geworden ist, ihre oft progressiveren Ideen durchzusetzen, gerade wenn es um Themen geht, welche die Modernisierung der Gesellschaft, die Europapolitik oder der Einwanderung betreffen», sagt Pascal Sciarini, politischer Analyist an der Universität Genf. Sciarini untersuchte die Ergebnisse von eidgenössischen Abstimmungen während der letzten 30 Jahre.
So lehnte das Volk 2021 mit 51,6% das CO2-Gesetz ab. In den wichtigsten Städten (Zürich, Basel und Genf) wurde es angenommen, während es in den ländlichen Regionen auf breite Ablehnung stiess.
Sciarini zufolge ist die Spaltung zwischen Stadt und Land in der Deutschschweiz deutlicher ausgeprägter als in der Romandie. «Besonders aufschlussreich ist die Situation in Zürich, wo die Wählerschaft in der Stadt immer links und auf dem Land immer SVP wählt», sagt der Politologe.
Dasselbe gilt für den Kanton Bern, wo die SVP, deren Vorläuferin die Bauernpartei war, im ländlichen Raum viel bessere Ergebnisse erzielt als in Bern oder Biel.
«Den Städten, die eine gemeinsame Wertebasis teilen, fehlt vor allem ein institutionelles Relais, um ihre Vorschläge und Botschaften zu vermitteln», sagt Sciarini. Er erinnert an die – utopische – Idee der ehemaligen Lausanner Bürgermeisterin Yvette Jaggi, die in den 1990er-Jahren als Verfechterin einer politischen Urbanität vorschlug, den Ständerat durch einen Städterat zu ersetzen.
Jaggi ahnte bereits die unterschwellige Links-Rechts-Spaltung zwischen Stadt und Land und sprach von einem «Misstrauen» gegenüber den Städten und einer «unzureichenden politischen Vertretung».
Anders Stokholm, der Direktor des Schweizerischen Städteverbands, warnte Mitte Januar gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung vor dieser Kluft. «Zwei Drittel der Bevölkerung leben inzwischen in städtischen Gebieten. Das widerspiegelt sich im Bundesparlament nicht. Es braucht dort dringend mehr gewichtige städtische Stimmen», betonte er.
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Zurück zu den Doppelmandaten?
Das würde bedeuten, dass Mitglieder von Stadtregierungen auch Bundesparlamentarier:innen sein könnten, die ihrerseits die Mitglieder des Bundesrates wählen. «In vielen Städten sind solche Doppelmandate heute nicht erlaubt. Damit schwächen sich die Städte selbst», argumentiert Stokholm.
In Zürich wäre Stappräsidentin Corinne Mauch nicht abgeneigt, Doppelmandate auf kantonaler und nationaler Ebene zuzulassen, um dem Fachwissen und der Vertretung der Städte wieder mehr Gewicht zu verleihen. Sie hat aber wenig Hoffnung: «Die Stadt Zürich wollte kürzlich das Verbot aufheben, aber das Parlament hat das abgelehnt.»
Pascal Sciarini anerkennt zwar die potenzielle Kraft von Doppelmandaten, weist aber darauf hin, dass die Abgeordneten nach ihrer Wahl in die Landesregierung «im Allgemeinen die Interessen der Allgemeinheit vertreten» und nicht nur die ihrer Herkunftsregion.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer.
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