«Der Faktor Heimweh geht oft vergessen»
Eine Hundezucht, ein Hotel, eine Bar: Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, sein Leben etwa unter Kokospalmen neu aufzubauen? Die Dok-Sendungen "Auf und Davon" und "Bye bye la Suisse" lassen Hunderttausende an Auswanderungs-Abenteuern teilhaben.
Der Erfolg ist ungebrochen seit der Erstausstrahlung der Auswanderungssendung «Auf und Davon» im Jahr 2008. Die Einschaltquoten der beiden Dokumentar-Sendungen von RTS (Radio Télévision Suisse) und SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) sind hervorragend.
Der Marktanteil der 11. Staffel der französischen Ausgabe «Bye bye la Suisse» im Winter 2021 betrug 41,8%, was einem Durchschnitt von 211’000 Zuschauer:innen pro Folge entspricht.
Die 13. Staffel von «Auf und Davon» zog durchschnittlich 647’000 Zuschauer:innen an, bei einem Marktanteil von 41%. «Und die Quoten halten sich von Jahr zu Jahr auf diesem hohen Niveau», sagt Steven Artels, Leiter der Abteilung Dokumentarfilme bei RTS.
Für Anastase Liaros, den Regisseur von «Bye bye la Suisse», liegt der Erfolg darin, dass man mit den Protagonist:innen sehr wichtige Momente miterlebt. «Es ist wunderbar mitanzusehen, wie Menschen über sich hinauswachsen, wenn sie ihr Projekt verwirklichen wollen», schwärmt er.
Er ist der Meinung, dass «Bye bye la Suisse» und «Auf und davon» wichtige Sendungen sind, weil sie in die menschliche Seele blicken lassen würden – mehr als andere Sendungen und mehr als man sich vorstellen könne.
Fast universelle Träume
Jedes Jahr wandern 20’000 bis 30’000 Schweizer:innen aus. Dutzende dieser Auswanderungswilligen bewerben sich bei «Auf und Davon» oder «Bye bye la Suisse», um bei ihrem Abenteuer begleitet zu werden.
Auch die Pandemie hat diesem Trend keinen Abbruch getan – die Bewerbungen seien abgesehen vom ersten Lockdown in der Schweiz weiterhin zahlreich ins Haus geflattert. «Viele haben sich gesagt: Jetzt erst recht», so «Auf und Davon»-Co-Produzentin Regina Buol.
Liaros führt seit drei Staffeln Regie bei «Bye bye la Suisse». Er stellt fest, dass die Gründe, die Schweizer:innen dazu bewegen, ins Ausland zu gehen, ziemlich universell sind.
«Die meisten Menschen träumen von weiten Landschaften. In der Schweiz fühlen sie sich eingeengt», sagt er. Viele suchten zudem auch ein wärmeres Klima oder das extreme Gegenteil davon.
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Schweizer:innen fliegen wieder auf und davon
Abgesehen von geografischen und meteorologischen Erwägungen beschäftigen sich die meisten Bewerber:innen mit Tourismusprojekten. So machen Gästehäuser fast 80% der Bewerbungen in der Romandie aus.
«Sie vereinen zwei Elemente: die Möglichkeit, Immobilienbesitzer:in zu werden – in der Schweiz für viele fast unerreichbar – und gleichzeitig die Chance, eine zuverlässige wirtschaftliche Tätigkeit aufzubauen», sagt Liaros.
Die beliebtesten Ziele
Im Laufe der vergangenen Staffeln konnten die Zuschauer:innen feststellen, dass bestimmte Länder besonders beliebt sind. Frankreich, Deutschland und Kanada stehen bei den französischsprachigen Auswanderungswilligen ganz oben auf der Beliebtheitsskala.
Für Guillaume Fialip, dem langjährigen Filmeditor von «Bye bye la Suisse», «haben Frankreich und Deutschland durch ihre geografische, sprachliche und kulturelle Nähe etwas Beruhigendes.»
Die Protagonist:innen von «Auf und davon» ziehe es vor allem nach Kanada, Australien, Schweden oder Deutschland. Seit einigen Jahren mache Schweden Down Under Konkurrenz.
«Man könnte Schweden als ‹Kanada light› bezeichnen», sagt SRF-CO-Produzent Jochen Frank. Das Land sei relativ ähnlich wie Kanada, aber viel näher zur Schweiz und einfacher, um eine Niederlassungsbewilligung zu bekommen. Ein wichtiger Punkt.
RTS-Produzent Liaros fügt hinzu, dass Länder wie etwa Costa Rica besonders gastfreundlich seien und die Niederlassung erleichterten. In den USA oder Kanada hingegen ist es aufgrund der restriktiven Einwanderungsgesetze viel schwieriger, einzuwandern.
Andererseits sei es einfacher, sich dort niederzulassen, wo die Mentalität ähnlich wie in der Schweiz sei, anders als beispielsweise in Asien, sagt SRF-Produzentin Buol. Dort bleibe man wahrscheinlich immer ein:e Ausländer:in. «Kinder zu haben, hilft auch, sich schneller zu integrieren», sagt Buol.
Es gibt auch einige Länder, die aus Macher:innensicht schwierig sind. Das sind etwa Marokko oder Ägypten. «In diesen Ländern ist die Umsetzung unserer Sendung nur schon wegen der Bewilligungen zum Filmen komplizierter», sagt Frank. Die Dreharbeiten sind jeweils sehr kurz. Im Schnitt werden die Protagonist:innen vier Mal pro Staffel besucht.
Gute Vorbereitung ist die halbe Miete
Für die Produzent:innen liegt der Schlüssel zum Erfolg eines Projekts nicht so sehr am Reiseziel, sondern in der Vorbereitung. «Es klingt selbstverständlich, aber wenn ein Paar mit einer Marktstudie, gründlichen Recherchen und mehreren Besuchen vor Ort auswandert, macht das einen grossen Unterschied», sagt Liaros.
Laut Fialip werden beim Kandidat:innen-Casting drei Parameter geprüft: das Projekt selbst, ob das Reiseziel mit dem Projekt in Zusammenhang steht und die Vorbereitung. «‹Mal schauen, wie’s läuft› funktioniert nicht.»
Er erinnert sich an das Abenteuer der Müllers, die 2017 auf der Suche nach der grossen weiten Welt nach Kanada reisten, aber kein genau definiertes Projekt hatten und nach einem Jahr in die Schweiz zurückkehren mussten. Sie erhielten keine dauerhafte Niederlassungsgenehmigung.
«Grundsätzlich weisen die Projekte in unseren Sendungen aber relativ hohe Erfolgsquoten auf», sagt Buol. Die Protagonist:innen würden sich – typisch schweizerisch – jeweils sehr gut vorbereiten. «Danach spielt das Leben», sagt Frank.
Die Bürokratie lässt viele verzweifeln
Wenn man die Schweiz verlässt, wird die Bürokratie meist völlig unterschätzt. «Schweizer:innen passen sich leicht an, weil sie viel reisen und es gewohnt sind, mit anderen Kulturen in Kontakt zu kommen», sagt Liaros. Aber sie seien auch an eine funktionierende Verwaltung gewöhnt. «Wenn man die Schweizer Grenze überquert, ist das ein Schock.»
Wer die Sendung kennt, erinnert sich vielleicht an die Familie Caboussat, die einen Wasserturm in Norddeutschland gekauft hat, um daraus ein Café und ein Gästehaus zu machen. Sie stolperte von einer Enttäuschung in die nächste, weil sie sich immer wieder mit bürokratischen Hürden konfrontiert sah.
In solchen Sackgassen müssen die Protagonist:innen einen anderen Weg finden, wenn sie nicht alles verlieren wollen. «Wenn man erst einmal vor Ort ist, kann die Zeit ein echter Feind sein», so Liaros. Ob es nun darum gehe, eine Unterkunft zu finden oder auf Genehmigungen zu warten – die Zeit könne schnell an den Ersparnissen nagen.
Zurück auf den Boden der Tatsachen
Für den Produzenten von «Bye bye la Suisse» können auch andere Dinge die ursprünglichen Pläne durchkreuzen. Denn der Mensch sei so gestrickt, dass «selbst an den schönsten Orten der Welt der Zauber irgendwann nachlässt». Die Neo-Auslandschweizer:innen merken dann, dass sie weit weg von ihrer Familie und ihren Freunden sind.
«Der Faktor Heimweh geht oft vergessen», sagt auch Frank. Über alle Staffeln sei dies immer wieder ein grosses Thema gewesen. Und auch die fehlenden Jahreszeiten – «deshalb essen auch immer alle Käsefondue, egal wo auf der Welt sie sind», sagt Buol.
Hinzu kommt die wirtschaftliche Instabilität. «Schweizer:innen, die mit Plänen ins Ausland gehen, müssen ihren Lebensstandard oft nach unten korrigieren», sagt Liaros.
Denken Sie selbst über eine Auswanderung nach?
Die Dok-Sendung «Auf und Davon»Externer Link sucht laufend Kandidat:innen für die Sendung und freut sich auf Ihre Bewerbung. Melden Sie sich bei: auswandern@srf.ch.
Die 14. Staffel von «Auf und Davon» wird ab dem 6. Januar 2023 ausgestrahlt.
RTS wird die 12. Staffel von «Bye bye la Suisse» ab dem 13. Januar 2023 ausstrahlen. In der Sendung übernimmt RTS zwei Deutschschweizer Familien oder Paare aus der vorherigen Staffel von SRF und fügt eine Familie oder ein Paar aus der Romandie hinzu.
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