«Der Kalte Krieg gewinnt wieder an Macht»
Was denkt die ukrainische Diaspora in der Schweiz über die bevorstehenden russisch-amerikanischen Konsultationen am 10. Januar in Genf?
Und wieder kommt es in Genf zu einem Tête-à-Tête der amerikanischen und der russischen Spitzendiplomatie: Am 10. Januar treffen sich der stellvertretende russische Aussenminister Sergej Rjabkow und die amerikanische Staatssekretärin Wendy Sherman, um die Frage der Ukraine und die Sicherheitslage in Europa zu erörtern. Es geht um eine akute Krise, ausgelöst durch den Zusammenzug russischer Truppen in der Grenzregion.
Was erhofft sich die ukrainische Diaspora in der Schweiz von diesen Konsultationen?
Olena Goloborodko lebt seit 2015 in der Schweiz und arbeitet als Rechtsberaterin für ein internationales Pharmaunternehmen. Ihre gesamte Familie wie auch die Familie ihres Mannes lebt in der Ukraine. Sie sagt: «Das Invasionsszenario ist leider realistisch. Wenn die Ukraine keine wirkliche Unterstützung von anderen Ländern erhält, wird es erneut zu einem Krieg kommen, und viele Millionen Ukrainer werden darunter leiden.»
Goloborodkos Familie lebt in Charkiw. Die zweitgrösste Stadt liegt weit östlich im Land, ist aber nicht von russischen Separatisten besetzt. «Jetzt, wo so viele russische Truppen an die Grenze gebracht worden sind, herrscht in der Stadt grosse Unruhe», sagt Goloborodko. «Es kursieren verschiedene Gerüchte über den voraussichtlichen Zeitpunkt der Invasion. Man hofft auf Unterstützung durch die NATO, insbesondere durch die USA und Deutschland.»
Auch Emilia Nazarenko ist nicht besonders zuversichtlich. Sie ist seit 2003 akkreditierte Journalistin bei den Vereinten Nationen, arbeitet als freie Mitarbeiterin für russischsprachige Publikationen und leitete von 2011 bis 2015 die «Vereinigung der ausländischen Presse in der Schweiz und Liechtenstein». Nazarenko sagt, russische Truppen befänden sich eigentlich schon längst auf ukrainischem Territorium: Unmittelbar nach der Annexion der Krim im März 2014 hätten sich russische Sicherheitskräfte in den östlichen Regionen des Landes gezeigt – in Luhansk und Donezk -, was zu den selbsternannten «Volksrepubliken» und zu dem bis heute andauernden militärischen Konflikt in der Ostukraine geführt habe.
Unbeteiligte EU
Sowohl Olena Goloborodko als auch Emilia Nazarenko beurteilen die Politik der Europäischen Union und der USA in diesem Konflikt eher skeptisch. «Bislang hat die EU, abgesehen von verurteilenden politischen Äusserungen, keinen Einfluss auf die Beilegung des Konflikts in der Ostukraine gehabt. Ich denke, die jüngsten Entwicklungen werden den europäischen Staats- und Regierungschefs den Ernst der Lage vor Augen führen», sagt Emilia Nazarenko.
Russland nutze die Ukraine für eine Konfrontation mit dem Westen, sowohl mit der NATO als auch mit den USA. Angesichts der realen Gefahr eines internationalen Konflikts in der Nähe der EU-Grenzen werde sich Brüssel nun nicht länger auf politische Erklärungen beschränken können.
Solange die Länder der Europäischen Union keine unmittelbaren negativen Folgen spüren würden, hätten sie leider wenig Anreiz, ihre Massnahmen zu koordinieren, sagt Olena Goloborodko. «Seit der Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass-Gebietes sind rund 1,4 Millionen Menschen in der Ukraine zu Flüchtlingen geworden. Bis jetzt sind die meisten in andere Teile des Landes umgezogen. Europa war nicht betroffen.»
Die jüngsten Ereignisse an der polnisch-weissrussischen Grenze, wo Alexander Lukaschenko die Flüchtlingsströme als Druckmittel einsetzte, hätten indes gezeigt, dass das potenzielle Flüchtlingsproblem die Aussenpolitik der Europäischen Union ernsthaft verändern könne.
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Es sei kaum zu erwarten, dass Russland logisch handle, bilanziert Goloborodko. «Meine Mutter wurde in Russland geboren, mein Vater in der Ukraine. Vor 2014 war ein Krieg zwischen diesen Ländern unvorstellbar. Für die Machthaber in Russland wurde der Konflikt aber zu einer Gelegenheit, um ihre Macht im eigenen Land zu stärken.»
Wenigstens Gespräche
Auf die Frage, ob die Gespräche in Genf sinnvoll seien, sagt Nazarenko: «Erinnern Sie sich an das Treffen zwischen Biden und Putin im vergangenen Juni? Es gab so viel Medienrummel, und was war das Ergebnis? Der Kalte Krieg gewinnt wieder an Macht. Ein Trost ist, dass es zumindest einen Dialog gibt. Besser eine träge Feindseligkeit ohne Verluste als aktive Feindseligkeiten und Tod.» Vom Treffen will sie nicht zu viel erwarten. «Es ist unwahrscheinlich, dass die Parteien in naher Zukunft zu einer Einigung kommen werden.»
Olena Goloborodko hingegen hofft, dass nach dem Treffen die russischen Truppen von der ukrainischen Grenze abgezogen werden. «Mit der Rückgabe der besetzten Gebiete auf der Krim und im Donbass zu rechnen, wäre zu optimistisch, aber wenn die unmittelbare Bedrohung eines Angriffs beseitigt wäre, wäre das schon ein grosser Erfolg. Ich denke, solange es eine Chance gibt, die Situation durch Verhandlungen zu lösen, sollte sie genutzt werden. Ich hoffe, Putin und seine Gefolgschaft erkennen, dass der Einmarsch in die Ukraine nicht ungestraft bleiben würde.»
Und die Schweiz?
«Die neutrale Schweiz spielt eine wichtige Rolle bei der Ermöglichung der Verhandlungen», sagt Olena Goloborodko. Am wichtigsten sei jedoch, dass die USA und andere Länder die ukrainischen Truppenverbände mit Material und Ausrüstung unterstützen. «Während des Angriffs 2014 hatten die ukrainischen Verteidiger nicht einmal Helme. Wie der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien kürzlich gezeigt hat, gewinnt die Seite, die über die modernsten Waffen verfügt».
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Emilie Nazarenko erinnert an das Gipfeltreffen zwischen dem US-Präsidenten Ronald Reagan und dem sowjetischen Leader Michail Gorbatschow. «Das Treffen 1985 in Genf markierte das Ende des Kalten Krieges. Man wünscht sich, dass die kommenden Gespräche zwischen den USA und Russland über Sicherheitsfragen am 10. Januar ebenso bedeutsam sein mögen. Im Juli 2022 wird in Lugano eine Konferenz über die Reformen in der Ukraine stattfinden, die die Schweiz organisiert. «Ich hoffe, dass bis dahin die Gefahr eines Krieges für die leidgeprüfte Ukraine für immer gebannt sein wird.»
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