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«Wir stolpern von einer Krise in die nächste»

Künstler Marc Bauer vor einem seiner Werke
Der Künstler Marc Bauer weckt mit seinen Werken Gefühle des Grauens, des Niedergangs, ja sogar des Terrors. Studio Marc Bauer

Der Genfer Marc Bauer gilt als einer der bedeutendsten Zeichnungskünstler unserer Zeit. Der Träger des GASAG-Kunstpreises und des Meret-Oppenheim-Preises zeigt seine Werke aktuell in Zürich und Berlin. In wandfüllenden Installationen verarbeitet er aktuelle Krisen.

«Ich wollte eine Ausstellung über die Gegenwart machen», sagt Marc Bauer. Seine Einzelausstellung «The Blow-Up Regime», die zurzeit in der Berlinischen Galerie gezeigt wird, behandelt grosse, aktuelle Themen: Internet, Klimawandel, Migration, autoritäre Regime, Krisen.

«Ich habe das Gefühl, wir stolpern von einer Krise in die nächste – politische, soziale und ökologische», sagt der 45-Jährige. «Wir haben die Migrationskrise schon vergessen, aber sie besteht weiterhin. Wir sind von all dem völlig überwältigt. Der Sonderfall ist scheinbar zur neuen Normalität geworden.»

Es dröhnt und knallt

Obwohl die Ausstellung, die bis April 2021 läuft, vor der Coronavirus-Pandemie konzipiert wurde, strotzt sie vor apokalyptischer Stimmung. Gefühle des Grauens, des Niedergangs, ja sogar des Terrors werden im Betrachter geweckt.

The Blow-up Regime, Bild von Marc Bauer
Eine Ausstellung, zig Referenzen: “The Blow-Up Regime” – der Name bezieht sich auf eine mathematische Theorie — umfasst die Pioniere des Internets und den Terminator; die Waldbrände in Kalifornien und Auszüge aus einem Roman von Sibylle Berg; Videogame-Zombies und den Terroransschlag vom 11. September auf das World Trade Center in New York. Studio Marc Bauer

Die Bedrohung wird durch Klänge des St. Galler Komponisten Thomas Kuratli weiter verstärkt: Der Besucher hört schweres Atmen, bedrückende Märsche von Militärmusikkapellen und die Echos von Knallen, durchsetzt mit traumhaften elektronischen Sequenzen.

Die Ausstellung in Berlin ist Teil des GASAG Kunstpreises 2020, mit dem Bauer prämiert wurde. Der vom Berliner Energiekonzern initiierte Preis zeichnet «herausragende künstlerische Positionen an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technik» aus.

1975 in Genf geboren, studierte Bauer an der dortigen École Supérieure d’Art Visuel und ist heute ständiger Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit rund 20 Jahren stellt er in schweizerischen und europäischen Museen aus, etwa im Folkwang-Museum in Essen oder an den Frieze Projects in London. Jüngst zeigte er Arbeiten im Schweizerischen Institut in Mailand. Im Zentrum standen dabei Tweets von Matteo Salvini, Italiens Innenminister bis 2019, anhand derer Bauer den manipulativen Einsatz von Bildern und Worten thematisierte.

Im Juli ist Bauer zudem mit dem Prix Meret Oppenheim 2020 ausgezeichnet worden. «Ich war schon überwältigt», antwortet Bauer auf die Frage, wie den Gewinn von gleich zwei renommierten Kunstpreisen innert kurzer Zeit auf ihn gewirkt haben. Seit vergangenem Wochenende ist in der Galerie Peter Kilchmann in Zürich als Reaktion auf die Verleihung eine kleine Auswahl von Bauer-Installationen zu sehen.

Berlin lässt ihn in Ruhe

Zürich und Berlin sind denn auch Bauers Heimstätten. «Das Blow-Up Regime» ist seine erste Einzelschau in einem Berliner Museum. «Mir fällt es leichter, in Berlin zu arbeiten als in Zürich», erklärt er. «Hier kann ich mich besser konzentrieren. In Berlin kann ich Tausende Menschen sehen, wenn ich will, aber ich kann mich auch völlig zurückziehen und in der Anonymität untertauchen.»

Konrad Zuse als Portrait von Marc Bauer
Computerpionier Konrad Zuse gezeichnet von Marc Bauer. Studio Marc Bauer

Der erste Teil seiner Zwei-Raum-Ausstellung in der Berlinischen Galerie zeigt seine Arbeiten auf Papier zur Geschichte des Internets sowie dem Verhältnis zwischen Krieg und Computertechnologie. Er porträtierte einflussreiche Computerpioniere wie John von Neumann, Konrad Zuse und Tim Berners-Lee.

Drei nebeneinander positionierte Zeichnungen, welche die V2-, Apollo 11- sowie die Space-X-Rakete zeigen, veranschaulichen, wie sich der Zweck der Raketenwissenschaft im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat: Mal gings um Krieg und Zerstörung, mal ums Erreichen wissenschaftlicher Erkenntnisse, und zunehmend gehts um touristische und wirtschaftliche Ziele.

Die V2-Rakete
Die Vergeltungswaffe 2 – kurz: V2. Studio Marc Bauer

Der Ausstellungskatalog enthält auch ein Gespräch zwischen Bauer und Alan Emtage, der 1989 das Programm Archie entwickelte, das weithin als die erste Internet-Suchmaschine gilt.

Die Zukunft ist jetzt

«Das Internet ist so zentral in unserem Leben geworden», sagt Bauer. «Es beeinflusst all unsere Aktivitäten. Es auch ein Ort, der Wohlstand schafft und Kulturen gebiert. Es ist ein Nährboden für Geschichten und Denkweisen, sowohl gute als auch schlechte. Für einen bildeten Künstler ist es eine immense Quelle.»

Eine mit Holzkohle gezeichnete Pistole an der Wand eingangs des zweiten Ausstellungssaals lenkt die Blicke der Besucher auf eine alptraumhafte, bedrohliche Vision der Zukunft – oder ist es die Gegenwart? Zwei riesige Wandzeichnungen zeigen das Kapitol in Washington. In einer der beiden ist im Vordergrund eine Militärparade zu sehen, über der bunte Seifenblasen schweben; die andere, angelehnt an Videospiel-Optik, zeigt Zombies und Bilder von Folter, Tod und Zerstörung. Der Aufbau der Szenerie erinnert stark an Pieter Bruegels Gemälde «Triumph des Todes».

Brainfuck 3
Bild mit Auszügen aus einem Roman von Sibylle Berg. Studio Marc Bauer

Unterhalb befindet sich eine Reihe von Zeichnungen zu Auszügen aus Sibylle Bergs Roman «GRM. Brainfuck» über vier vernachlässigte Teenager, die in einer deprimierenden Wohngegend in der nordenglischen Stadt Rochdale leben. Sie verbringen die meiste Zeit wie hypnotisiert vor ihren Handy-Displays und schauen sich «schmutzige» Musikvideos an. Er bewundere die «Direktheit» von Bergs Schreiben, erklärt Bauer. Ein anderes Werk ist von japanischen Manga-Bildern inspiriert und thematisiert das, was Bauer als «Wirbel der Leere» beschreibt, welcher die Internet-User aufsaugen kann.

Keine Zeichnung steht für sich allein

Obwohl die Ausstellung viele Einzelzeichnungen umfasst, betrachtet Bauer sie als einziges Werk. «Wenn man ein einzelnes Bild herauspickt, hat es kaum Bedeutung. Man verliert den Zusammenhang und damit die eigentliche Geschichte. Mir gefällt die Idee einer grossen Erzählung, bei der jede Zeichnung ein Fragment darstellt.» Es falle ihm jeweils schwer, Ausstellungen abzubauen. «Ich habe immer das Gefühl, dass dadurch die Arbeit auf brutale Weise zerschnitten wird.»

Dieses Konzept bereite auch Schwierigkeiten, wenn es um den Verkauf der Werke gehe, räumt er ein. «Es muss Sinn ergeben. Die Institutionen haben für mich Vorrang. Mit ihnen handle ich meistens einen Sonderpreis für das Ganze oder zumindest einen grossen Teil eines Werks aus», sagt er. «Bei Privaten ist das schwieriger. Ich kann durchaus verstehen, dass Sammler nicht zehn Zeichnungen auf einmal kaufen wollen. Ich fertige verkaufte Zeichnungen jeweils neu an, damit das Set komplett bleibt.»

Er sagt, er geniesse die Tatsache, dass beim Zeichnen – anders als etwa bei der Fotografie – jedes Werk ein Original darstellt, auch wenn es eine Kopie ist. «Die Kopie einer Kopie ist immer noch ein Original», sagt er.

Interessant ist der scheinbare Widerspruch, ein sehr analoges, ja fast schon antikes Medium einzusetzen, um unsere multimediale, digitale Gegenwart zu untersuchen. «Die Zeichnung ist ein sehr langsames Medium, das den Bilderfluss stoppt», sagt Bauer. Das schaffe eine Distanz zwischen dem Betrachter und dem dargestellten Gegenstand.

«Diese Lücke füllt der Betrachter mit seinen eigenen Erinnerungen und Erfahrungen», sagt er. «Dieser Zusammenhang interessiert mich. Zeichnungen lösen etwas aus und sind somit mehr als bloss ein Bild, das wir betrachten.»

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