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Der Oxford-Professor, der in die Schweiz zurückkehrt

Mann vor grüner Wand
Oliver Zimmer. Tom Haller, Zurich

Der Schweizer Historiker Oliver Zimmer legte eine Traum-Karriere an der University of Oxford hin. Doch nun kehrt der Auslandschweizer seiner Wahlheimat den Rücken.

Oliver Zimmer bezeichnet England als seinen Sehnsuchtsort. Jetzt ist der renommierte Oxford-Professor für Moderne Europäische Geschichte zurück in die Schweiz gezogen, nach 27 Jahren.

Warum verlässt einer den Olymp der Wissenschaft, um im beschaulichen Zürich an einem kleinen privaten Institut zu forschen? Warum tauscht jemand ein historisches Haus aus dem 17. Jahrhundert auf dem gehobenen The Green, Garsington in Oxford gegen eine gewöhnliche Mietwohnung in St. Gallen?

Der Schweizer Historiker Oliver Zimmer wurde 1963 in Thalwil geboren und wuchs im Zürcher Oberland auf. Er studierte an der Universität Zürich Geschichte, Soziologie und Politische Theorie. Anschliessend machte er seinen PhD an der London School of Economics and Political Science. Von 1999 bis 2004 lehrte er an der University of Durham im Nordosten Englands, dann anderthalb Jahre als Humboldt Fellow in Deutschland. Seit 2005 lehrte er als Professor in Oxford, ab 2014 als Full Professor. Seit dem 1. Januar 2022 ist er Research Director beim privaten Forschungsinstitut Center for Research in Economics, Management and the Arts (Crema).

Wir treffen Oliver Zimmer an einem sonnigen Nachmittag in einer Einzimmer-Wohnung eines Mehrfamilienhauses in Zürich. Das Studio gehört zusammen mit anderen Wohnungen zum Center for Research in Economics, Management and the Arts (Crema), dem privaten Institut, an dem Zimmer die nächsten drei Jahre forschen wird.

Unter Berufung auf den «good old British custom» bietet uns Oliver Zimmer charmant das Du an und dann – ganz zürcherisch – eine Auswahl an Luxemburgerli, ein Macaron-ähnliches Gebäck aus der weltbekannten Zürcher Confiserie Sprüngli. Er selbst hat, wie er uns sagt, einen «sweet tooth».

Die hellen Augen blicken aufmerksam, aber nicht taktlos, er sieht aus wie ein Akademiker, aber zum Jacket trägt er Sneakers, der Ton ist höflich, aber zugänglich. Oliver Zimmer hat etwas von einem englischen Gentleman. In unserem Gespräch wechselt er mitten in den Sätzen vom Schweizerdeutschen ins Englische und zurück.

Die Gründe für seine Rückkehr in die Schweiz seien vielfältig, sagt Zimmer. Da sind einerseits seine inzwischen betagten Eltern, die noch immer im Zürcher Oberland wohnen, wo Oliver Zimmer aufgewachsen ist. Sie widmeten den drei Kindern viel Zeit. Obwohl die Geldmittel in der fünfköpfigen Familie begrenzt waren, ermöglichten die Eltern dem jungen Oliver das wettkampfmässige Segelbootfahren – der Vater, von Beruf Elektriker, baute die Boote eigenhändig.

Nicht nur möchte Oliver Zimmer nun bei den Eltern präsenter sein, es zieht ihn im Alter von 59 Jahren auch näher zu langjährigen Freunden sowie Bruder und Schwester, denn bei diesen müsse man beim Erzählen nicht stets bei Adam und Eva anfangen.

Aber dann gibt es noch ganz andere Gründe für den Weggang aus Oxford und die haben nichts mit Oliver Zimmers Privatleben oder Alter zu tun.

Mehr Freiheit als in Oxford

Vor dem Treffen mit Oliver Zimmer telefoniere ich mit Bruno Frey. Der weltberühmte Wirtschaftswissenschaftler spielt eine wichtige Rolle bei Oliver Zimmers Rückkehr in die Schweiz.

Frey hat mit seiner Frau Margit Osterloh, ebenfalls eine sehr renommierte Ökonomin, und weiteren Mitstreiter:innen aus den eigenen Ersparnissen eine Stiftung gegründet, die das politisch und ideologisch unabhängige Forschungsinstitut Crema finanziert.

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Kennengelernt haben sich Frey und Zimmer vor zwei Jahren. Bruno Frey schrieb dem Historiker, Anlass war ein von Zimmer in der NZZ publizierter Aufsatz über das Milizsystem. Bei einer Konferenz in Oxford kam es dann zu einem gemeinsamen Abendessen, das angeregt verlief.

Als Frey nun also erfuhr, dass Oliver Zimmer sich eine Rückkehr in die Schweiz überlegte, offerierte er ihm eine Anstellung am Crema. «Wir bieten ihm mehr Freiheit», sagt Frey. Staatliche Bürokratie und Bevormundung gibt es am privat finanzierten Forschungsinstitut nicht. «Das gefällt Oliver», sagt Frey.

Image: Bruno Frey
Bruno Frey Keystone / Samuel Schalch

Oliver Zimmer erzählt die Geschichte folgendermassen: Früher haben Professor:innen an Universitäten eine hohe Autonomie genossen. Gerade in Oxford herrschte ein freieres Klima als an den meisten anderen Unis. Man getraute sich, anders zu sein.

Doch die Universitätslandschaft ist laut Zimmer inzwischen auch in England konformistischer geworden und seit ein paar Jahren bestimmen immer stärker die Manager, es gibt mehr Regeln, mehr Bürokratie. Alles Dinge, die nichts mit der Lehre oder Forschung zu tun haben, ja diesen eher schaden als nützen.

University College in Oxford
University College Oxford, der ehemalige Arbeitsort von Oliver Zimmer. Nikreates / Alamy Stock Photo

«Für mich ist der Weggang aus Oxford auch eine Befreiung vom bürokratischen Ballast», sagt Zimmer. Er kann jetzt am Crema das machen, was er will, und muss keine Formulare mehr ausfüllen. Auch von den Forschungsthemen und Argumenten her hat er alle Freiheiten. «Mit dem Rechts-Links-Schema kann ich nichts anfangen», sagt er, der regelmässig in bürgerlich-liberalen bis bürgerlich-konservativen Schweizer Zeitungen wie NZZ, Schweizer Monat und Weltwoche publiziert und schwerpunktmässig über europäischen Nationalismus sowie die Geschichte des Liberalismus und der Demokratie forscht. Oliver Zimmer sieht sich in der Tradition jenes skeptischen Liberalismus, der auch die eigene Position stets hinterfragt. Wer ihn aufgrund seiner Bücher wie etwa «Wer hat Angst vor Tell» in die rechte Ecke stelle, habe das Buch entweder nicht gelesen oder sei ideologisch unterwegs.

Externer Inhalt

Gerade plant er gemeinsam mit Bruno Frey eine Buchpublikation mit dem Arbeitstitel «Mehr Demokratie wagen». Es wird anfangs 2023 bei einem Publikumsverlag in Berlin erscheinen, dem Aufbauverlag. Laut Bruno Frey ist eine von Oliver Zimmers Stärken, akademische Themen einem breiten Publikum bekannt zu machen. Er ist unprätentiös. Das sagt auch seine britische Kollegin, die Geschichtsprofessorin Abigail Green. Das habe gar in den Vorlesungssaal ausgestrahlt: anspruchsvoll aber trotzdem zugänglich. Und genauso schreibt er auch.

Die Demokratie ist ein weiterer Grund für Oliver Zimmers Rückkehr. Er schätzt die direkte Demokratie und den Föderalismus in der Schweiz. Der britische Zentralstaat mit einer starken Regierung im faktischen Zwei-Parteiensystem habe für die Menschen grosse Nachteile. Für die politische Elite, die gerade an der Macht ist, sei dieses System süchtig machend.

2009 erhielt er die britische Staatsbürgerschaft und konnte seither wählen. In England dürfe man nicht so oft, es sei also kein demokratischer Stress wie hier in der Schweiz, sagt er mit leisem Humor. In Grossbritannien wählt man Politiker:innen, man kann nicht wie in der Schweiz über Sachthemen abstimmen. «Das ist für mich eine limitierte Demokratie, das finde ich nicht toll», so Zimmer.

In England Brexit miterlebt

Oliver Zimmer hat in England den Brexit miterlebt, einige Zeit später auch das Scheitern des Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU. Im Video äussert er sich zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden: 

Beim Brexit hat er «Remain» gestimmt, später sagte er, er würde inzwischen ein «Leave» einwerfen. Und zwar wegen der Demokratie: Ein Volksvotum gilt es zu respektieren, mit der Zwängerei für ein zweites Referendum hatte er als Schweizer ein Problem.  

Nach über 20 Jahren merkte er: «In diesen Fragen bin ich sehr von meiner Schweizer Herkunft geprägt». Er mag es nicht, dass eine Kaste von Politiker:innen die Macht auf sich konzentriert. Rein politisch gesehen würde er sich wohl auch in Frankreich und Deutschland nicht wohlfühlen. 

Schweiz ist enger geworden – und gleichzeitig offener

Nun ist der Auslandschweizer also zurück in der Heimat. Wie hat sich die Schweiz verändert? «Sie ist gewachsen, es hat weniger Platz», beobachtet Zimmer. «Die Schweiz ist auch multikultureller geworden – und interessanter als früher», sagt er.

Ihm fällt auf, dass die Leute in der Schweiz oft jammern. Er führt das darauf zurück, dass die meisten nie in einem Land gelebt haben, das weniger gut funktioniert. Trotz Dichtestress sei der Lebensstandard materiell gesehen hoch, die Infrastruktur immer noch ausgezeichnet. In England hingegen müsse man wohlhabend sein, um gut leben zu können.

Seine Wandlung vom Auslandschweizer zum Inlandschweizer ging laut Oliver Zimmer überraschend schnell und einfach. «Ich merke schon, dass die Schweiz nicht mehr gleich ist. Ich bin auch nicht mehr der Gleiche.» Frühmorgens, wenn er losjoggt, noch bevor er ganz wach ist, begrüsst er die Leute manchmal noch auf Englisch mit «Good Morning». Er sei vielleicht nicht so drin in der kulturellen Selbstverständlichkeit wie andere Schweizer, nehme eher eine Beobachterrolle ein. Aber das sei eigentlich schon früher so gewesen. Diese Rolle behagt ihm.

Dass Oliver Zimmer Mundart spricht, erleichtert die Rückkehr natürlich. Aber auch seine Frau, eine britische Staatsbürgerin, deren chinesische Vorfahren um 1900 nach Kuching, Borneo emigierten, erlebt keinen Kulturschock, sondern fühlt sich in ihrem neuen Umfeld sehr wohl.

«Sie ist neugierig und urteilt nicht gleich», findet Oliver Zimmer, was die Integration erleichtere. Sie beobachte viel und müsse manchmal auch schmunzeln. Zum Beispiel darüber, dass beim Zug auf der Anzeigetafel bereits über eine dreiminütige Verspätung informiert wird.

In Oxford wird der Schweizer fehlen

Bei den besten Studierenden Oxfords war Oliver Zimmer besonders beliebt, eine «Kultfigur», sagt seine Kollegin, die Geschichtsprofessorin Abigail Green. «Sie liebten es, wenn er sie forderte».

Ein Student hat über Oliver Zimmer mal gesagt, er sei «very un-Oxford». Und dies war als Kompliment für seine unprätentiöse Art gemeint.

In Oxford galt Oliver Zimmer als erfrischender Nonkonformist. Gerade deshalb wird er laut Green fehlen. «Wir brauchen Nonkonformisten in der akademischen Welt, und ganz sicher hier in Oxford.»

Garsington, Oxford
Ein typisches Haus aus dem 17. Jahrhundert in Garsington, Oxford. May Grant / Alamy Stock Photo

Oliver Zimmer wird in Oxford also fehlen. England wird aber auch Oliver Zimmer fehlen. Er schwärmt vom besonderen Licht und der Landschaft in Südengland, die er als Hobbyfotograf und Wanderer besonders schätzt. Auch die englische Nonchalence wird er vermissen. Und das Haus aus dem 17. Jahrhundert – sowie Fish ’n› Chips mit Bier im Pub. Das Atmosphärische, so sagt Zimmer, das sei etwas ganz Besonderes von England, das könne man in der Schweiz so nicht haben.

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