Der Schweizer Bundesrat: die starken Seiten einer schwachen Regierung
Seit 175 Jahren führt eine siebenköpfige Regierung die föderale Schweiz durch dick und dünn. Dafür geniesst sie viel Vertrauen. Der Schlüssel dazu findet sich auch in der Nähe zur Bevölkerung.
Auf den ersten Blick ist es eine Gaststätte, wie es sie in der Bundeshauptstadt Bern zu Dutzenden gibt. Gutbürgerliche Küche, solide Weine, Tische im Freien, zuvorkommende Gastgeber.
Vier Dinge jedoch machen dieses Restaurant zu etwas Besonderem: die Lage, der Name, das «Säli», der Raum für grössere Gesellschaften – und die Kundschaft.
Das Lokal liegt direkt am Bundesplatz, neben der Nationalbank und gegenüber dem Bundeshaus – gewissermassen mitten im politischen Machtzentrum des Landes.
Stabiles Land, stabiles Geld, stabile Lebensentwürfe: Im internationalen Vergleich läuft vieles rund in der Schweiz.
SWI swissinfo.ch befasst sich in dieser Serie mit dem Vertrauen in Institutionen, dieser Grundlage für funktionierende Demokratien.
Wir gehen der Frage nach, wo die historischen Ursachen dafür liegen, dass für einige in der Schweiz Langeweile das grösste Problem ist, wie es um das Vertrauen in der Gegenwart bestellt ist – und welche Stolpersteine auf die Schweiz zukommen.
Das «Café Fédéral» – so der bezeichnende Name – beherbergt im ersten Stock einen Speiseraum, an dessen Wände die Portraitbilder aller Frauen und Männer hängen, die in den letzten 175 Jahren die Schweiz regiert haben. Hier, im «Bundesratssäli», pflegte das Kabinett in früheren Zeiten nach der wöchentlichen Sitzung gemeinsam zu essen.
Für solche gemütlichen Mittagessen in trauter Regierungsrunde fehlt heute die Zeit. Doch für einen Kaffee und Schwatz mit neuen und alten Bekannten sind die Bundesrätinnen und Bundesräte in diesem und anderen Restaurants in Bern auch weiterhin zu haben. Meist ohne Polizeischutz oder Leibwache.
Denn das alltägliche Eintauchen der Regierenden in den Alltag der Regierten gehört zu den Bestandteilen eines politischen Systems, das im internationalen Vergleich nicht nur effizient ist, sondern auch als Demokratie geschätzt wird.
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Die entsprechende Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) spricht eine deutliche Sprache: Der hohen Politik-Effizienz und Demokratie-Zufriedenheit in der Schweiz stehen Tiefstwerte zum Beispiel im südlichen Nachbarland Italien entgegen.
Dort, in Rom, regiert seit dem letzten Herbst mit der Postfaschistin Giorgia Meloni die 68. Regierungschefin seit Ausrufung der Republik vor 77 Jahren.
In Italien sind seit 1946 nicht weniger als 1300 Ministerinnen und Minister im Amt vereidigt worden, während es in der Schweiz seit 1848 – auch das zeigt die Portrait-Galerie im «Bundesratssäli» – gerade einmal 121 sind, welche ein Gelübde oder einen Eid auf die nationale Verfassung abgelegt haben. Anders ausgedrückt: Pro Jahr «verbraucht» die Schweiz gut 25 Mal weniger Regierungspersonal als Italien.
Ein wichtiger Grund dafür ist – so zeigen Auswertungen der Universität Bern* – das rekordhohe Vertrauen der Schweizer Bevölkerung in die Regierung, den Bundesrat. Laut dem Bundesamt für Statistik ist das Vertrauen der Bevölkerung in den Bundesrat in den letzten zwanzig Jahren zudem weiter gestiegen.
Die Unterschiede der Schweizer Regierung zu den politischen Exekutiven anderer europäischer Staaten hören aber nicht bei den Statistiken und Zahlen auf. Die Politologin Rahel Freiburghaus, die sich als Forschende mit der Schweizer Politik beschäftigt, sieht überdies praktische Differenzen.
Dazu gehört die bundesrätliche Rolle im Politsystem: «Im Unterschied zu anderen Staaten tritt die Schweizer Regierung weitaus weniger als alleinige Entscheidungsträgerin auf, sondern eher als Vermittlerin, welche die unterschiedlichsten Interessen ausgleichen muss.»
Dafür gibt es gute Gründe; etwa die ausgebauten Volksrechte, welche der Bevölkerung die Möglichkeit geben, jedes neue Gesetz mittels Referendum zur Volksabstimmung zu bringen oder mit Hilfe einer Volksinitiative gar Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen.
«Während der Bundesrat die Stimmberechtigten vollständig, sachlich und transparent über eidgenössische Abstimmungsvorlagen informieren muss, muss er im Verhältnis zu den Kantonen bisweilen vermittelnd eingreifen», sagt Freiburghaus.
Den Verfassungsvätern von 1848 – Frauen und viele andere Bevölkerungssegmente waren lange bis sehr lange vom Stimmrecht ausgeschlossen – gelang mit dem Bundesrat als nationales Exekutivorgan ein beständiger Wurf: In den letzten 175 Jahren sind Reformversuche, etwa für die Vergrösserung des Kabinettes oder die Einführung einer Volkswahl gescheitert. Schon drei Mal – in den Jahren 1899, 1939 und 2011 – kamen entsprechende Initiativen vors Volk und wurden abgelehnt.
Die Parteien als Nominations- und das Parlament als Wahlgremium des Bundesrats müssten sich gleichzeitig «immer wieder selbst beschränken», wenn es darum gehe, mehrheitsfähige Kandidatinnen und Kandidaten fürs hohe Regierungsamt zu finden, sagt Freiburghaus.
«Nicht scharfzügige Macher auf Parteilinie, sondern kommunikative Teamplayerinnen sind gefragt.» Nur so liessen sich im vielschichtigen und machtteiligen Politsystem der Schweiz tragfähige Lösungen schmieden: Denn der Bundesrat steht ganz im Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses.
Lange taten sich Beobachterinnen und Fachleute schwer mit der Einordnung des Schweizer Regierungssystems. Denn dieses entspricht weder dem parlamentarischen noch dem präsidentiellen System. In parlamentarischen Demokratien wie in Italien, Grossbritannien oder Australien wählen die Bürgerinnen und Bürger das Parlament, welches in seiner Mehrheit die Regierung bestimmt und diese auch wieder stürzen kann.
In einem präsidentiellen System wie in den USA werden Parlament und Regierung hingegen in direkter Volkswahl gewählt. Und in der Schweiz? Hier wählt die Mehrheit des Parlaments, die so genannte Bundesversammlung, bestehend aus National- und Ständerat, jedes Mitglied der Regierung einzeln und dem Amtsalter nach.
Eine Absetzung zwischen den alle vier Jahren stattfinden Gesamterneuerungswahlen ist jedoch nicht möglich und eine Nicht-Wiederwahl selten. Erst in vier Fällen seit 1848 wurde eine wieder antretende Bundesrätin oder ein Bundesrat nicht wiedergewählt; letztmals der damalige Justizminister Christoph Blocher im Jahre 2007.
Regierung ohne Chef
Und noch etwas unterscheidet die Schweizer Regierung von anderen nationalen Exekutiven: Es gibt keinen Chef. Die Rolle der Bundespräsidentin oder des Bundespräsidenten wird jedes Jahr einem anderen Kabinettsmitglied übertragen und bringt neben zusätzlichen Repräsentationsaufgaben im In- und Ausland keinen Machtzuwachs.
Wie andere Impulse der französischen Revolution für eine moderne Demokratie – etwa die direktdemokratischen Volksrechte – wurde das Kollegialregierungs-Konzept im zentralstaatlichen Frankreich schnell wieder aufgegeben, fand aber auf dem aus vielen kleineren Politgemeinschaften bestehenden Gebiet der Schweiz einen fruchtbaren Boden und erhielt 1848 Verfassungsrang.
Parlament hat wenig Ressourcen
Zu diesen revolutionären französischen Impulsen gehört neben der Volkssouveränität auch die starke Stellung der Legislative (Parlament) gegenüber der Exekutive (Regierung). «Formalrechtlich betrachtet gehört der Bundesrat zu den schwächsten Regierungen in Europa», sagt Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern und Autor des Buchs «Der Bundesrat – die Schweizer Regierung».
Doch das ist nur die halbe Geschichte: «Denn das Schweizer Parlament hat zwar viele Rechte, aber nur knappe Mittel und ist wenig professionalisiert». Deshalb zeigen sich die Machtverhältnisse in der Schweiz auch in dieser Beziehung ziemlich ausgeglichen.
Auch wenn sich dieses «Direktorialsystem» mit dem Mini-Kabinett im Alltag bewährt hat, gerät der Bundesrat in Krisenzeiten regelmässig in die Kritik: Das war zu Beginn der Covid-Pandemie 2020 der Fall, als die Regierung eine bereits angesetzte Volksabstimmung verschob. Oder im Frühjahr 2023 bei der Übernahme der kriselnden Grossbank «Credit Suisse» durch den Schweizer Konkurrenten UBS.
In beiden Fällen griff der Bundesrat auf die «Ultimo Ratio» des Notrechts zurück – und löste damit neue Debatten über Schwächen und Stärken des Bundesrats im politischen System der Schweiz aus. Eine Debatte, die in Zeiten von Medialisierung und Personalisierung auch zunehmend auf die einzelnen Regierungsmitglieder zurückschwappt.
So erstellen die Boulevardmedien regelmässig Beliebtheitsumfragen in der Bevölkerung. Diese zeigen, dass gegenwärtig Verteidigungsministerin Viola Amherd die besten Karten hält, wenn es darum ginge, ein Regierungsmitglied zum Kaffee im Restaurant am Bundesplatz zu treffen.
Regieren in Krisenzeiten
In der Schweiz sind Bundesgesetze grundsätzlich dem fakultativen Referendum unterstellt. Das bedeutet: Eine neue Rechtsbestimmung kann erst dann in Kraft treten, wenn innerhalb von 100 Tagen nach dessen Publikation keine 50’000 Unterschriften gesammelt worden sind, welche eine abschliessende Volksabstimmung verlangen.
Bei zeitlicher und sachlicher Dringlichkeit kann die Mehrheit der Legislative ein Gesetz sofort in Kraft treten lassen. Eine allfällige Volksabstimmung findet erst nachträglich statt.
Das Notrecht des Bundesrates im heutigen Sinne gibt es seit 1999, als die Bundesverfassung revidiert wurde. Der Bundesrat kann es, gestützt auf die Artikel 184 und 185, anwenden: Zur Wahrung der Interessen des Landes und der inneren und äusseren Sicherheit kann er selbst Verordnungen erlassen, ohne dabei das Parlament oder das Volk fragen zu müssen.
Erstmals angewendet wurde das Notrecht 2008 bei der Rettung der Grossbank UBS. Es folgten im Jahr 2020 insgesamt 18 Anwendungen während der Corona-Pandemie und zuletzt 2023 für die Rettung der Credit Suisse.
*Freitag, Markus und Alina Zumbrunn. 2022. Politische Kultur. S. 85–109. In Handbuch der Schweizer Politik – Manuel de la politique suisse, hrsg. v. Y. Papadopoulos, P. Sciarini, A. Vatter, S. Häusermann, P. Emmenegger und F. Fossati. Basel: NZZ Libro.
**Vatter, Adrian. 2020. Der Bundesrat. Die Schweizer Regierung. Band 12. Politik und Gesellschaft in der Schweiz. Basel: NZZ Libro.
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