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«Der Schweizer Tourismus könnte von der Krise profitieren»

David Ruetz
David Ruetz zVg

Der Schweizer David Ruetz leitet seit 2003 die Internationale Tourismusbörse Berlin (ITB). Sie ist der grösste Branchentreff der Welt und in der Covid-19-Krise ein guter Seismograf für die Stimmung der Tourismusindustrie. Wir haben mit David Ruetz gesprochen.

Leere Flughäfen, Strände, Städte und Hotels. Die Reisebranche ist nach Jahren des Wachstums durch die Pandemie in voller Fahrt ausgebremst worden. Doch die Anbieter blicken nach vorne und entwickeln neue Konzepte, sagt David Ruetz.

Von dem zu erwartenden Boom werde auch die Schweiz profitieren, ist der Tourismusexperte überzeugt. Denn die Nachfrage nach Natur und Outdoor-Ferien sei in der Zwangspause gewachsen – und der Wunsch nach Sicherheit gross.

Der 51-jährige ITB Leiter ist auch Autor einiger Bücher über Tourismustrends und hält Vorträge an deutschen und österreichischen Universitäten.

swissinfo.ch: Können Sie sich an eine vergleichbare Krise im Tourismus erinnern?

David Ruetz: Es ist die Extremform einer Situation, die wir im Kleinen vom 11. September 2001 und der Wirtschaftskrise 2008/2009 kennen. Auch terroristische Attentate im Mittelmeerraum wie zum Beispiel in der Türkei oder in Ägypten, in London, Paris und Madrid haben den Tourismus einbrechen lassen. Doch dies ist das erste Mal, dass dies in so einem globalen Ausmass geschieht.

Der Einschnitt trifft alle Branchenteilnehmer entlang der touristischen Wertschöpfungskette, von der Buchungstechnologie über die Fluglinien und Hotels bis zum einzelnen kleinen Reisebüro. Und es steht ja auch nicht fest, dass, wenn alle durchgeimpft sind, nicht das nächste Virus und die nächste Krise um die Ecke kommen.

Wie ist angesichts dessen die Stimmung in der globalen Reiseindustrie?

Die Unberechenbarkeit der Situation bereitet vielen Marktteilnehmern Kopfzerbrechen. Laut den Daten der Welttourismus-Organisation UNWTO lagen die internationalen touristischen Flugreisen im Januar um 87 Prozent niedriger als im Januar 2020. Aber die Branche blickt nach vorne. Das grosse Thema ist der Neustart inmitten aller Unwägbarkeiten.

Wird es ein Zurück zum Alten geben – oder wird die Covid-19-Krise den Tourismus langfristig verändern?

Wir haben Studien für den deutschen, amerikanischen und chinesischen Markt in Auftrag gegeben. Sie weisen darauf hin, dass es nach der Pandemie einen Ausnahmeboom geben wird.

Die Konsumentinnen und Konsumenten haben ein gewaltiges Nachholbedürfnis. Im Jahr 2021 plant nur ein Viertel aller Befragten keine Reisen, die meisten wollen reisen, sobald es wieder geht.

Werden wir in Zukunft anders reisen?

Die Pandemie war eine Art Zwangsentschleunigung. Die Kernfrage ist, ob wir überhaupt in die alte Normalität zurück wollen. 2019 gab es noch lange Warteschlangen vor dem Eiffelturm, einen Massenansturm auf das Jungfraujoch, und Venedig litt unter Massen von Kreuzfahrtouristinnen und -touristen. Jetzt erobern sich Delphine die Lagune von Venedig zurück.

Dennoch ist es schwer, eine Prognose zu machen. Aus wirtschaftlicher Sicht wollen die Unternehmen an ihre bisherigen Erfolge anknüpfen, und das Reisebedürfnis der Menschen ist gross. Es bleibt zu hoffen, dass zwei Dinge sich langfristig verändern: Das erste ist, dass die Dankbarkeit, dass wir reisen dürfen, so lange wie möglich anhält. Und zweites hoffe ich, dass das Bewusstsein für Nachhaltigkeit zumindest in Ansätzen erhalten bleibt.

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Die Krise als berühmte Chance?

Das “schneller, höher, weiter“ konnte jedenfalls irgendwann nicht mehr gut gehen. Für 5,99 Euro nach Rom zu fliegen, das ist nicht nur aus betriebswirtschaftlicher Sicht Unsinn.

Trifft die Pandemie bestimmte Anbieter mehr als andere?

Ich würde umgekehrt sagen: Sie eröffnet Chancen für Anbieter, die sich auf die veränderten Einstellungen der Zielgruppen konzentrieren. Die Reisenden suchen mehr denn je Betriebe, die eine Seele haben, in denen die Hoteliers Werte vorleben. Wertgebundener und weniger, das ist ein Trend.

Auch den Schweizer Tourismus hat die Krise hart getroffen. Für ihn sind die asiatischen und arabischen Gäste eine wichtige Säule, aber die bleiben derzeit aus. Wie kann man deren Vertrauen zurückgewinnen beziehungsweise sie künftig wieder zum Reisen animieren?

Da ist meine Sorge nicht zu gross. Traditionell ist die Schweiz für Asien und Arabien eine Traumdestination aufgrund der Spezifika, die dieses schöne Land bietet. In dem Moment, in dem es wieder möglich sein wird, werden diese Gruppen als erste wieder an die Tür der Schweiz klopfen. Davon bin ich überzeugt.

Und was den Vertrauensaspekt betrifft: Es war ein sehr guter strategischer Schachzug, Roger Federer zum Markenbotschafter für die Destination Schweiz zu machen. Er verkörpert dieses Vertrauen.

Im März trafen sich auf der ITB-Plattform sich 3500 Aussteller, Medienvertretende und Reiseblogger aus 120 Ländern. Pandemiebedingt vernetzten sie sich in diesem Jahr rein virtuell.

Im Mittelpunkt stand dieses Jahr der Neustart der Tourismusindustrie nach den verheerenden Einbrüchen durch die Coronavirus-Krise.

Laut dem ITB World Travel Survey wird es künftig mehr Reisen innerhalb Europas und des eigenen Landes geben, mehr nachhaltige Natur- und Outdoor-Trips und deutlich weniger Geschäftsreisen. Könnte die Schweiz von der Krise langfristig sogar profitieren?

Ja, das kann sie. In Deutschland sagen 61 Prozent und in China 91 Prozent, dass sie in Zukunft häufiger naturnah reisen und Outdoor-Trips unternehmen wollen. Das halte ich für sehr relevant. Natur und Abgeschiedenheit stehen hoch im Kurs.

2017 habe ich in Interlaken gesehen, wie sich Mitglieder einer chinesischen Reisegruppe einzeln ins Blumenbeet vor dem Hotel gelegt haben, um sich gegenseitig zu fotografieren Die Chinesen sind durch ihre Verstädterung verrückt nach Natur und sauberer Luft.

Und die Städte?

Urbanität ist immer ein grosser Treiber im Tourismus gewesen, und ich hoffe und fürchte zugleich, dass die Lust auf Städtetourismus wieder zurückkommt. Aus den Zeiten vor der Pandemie existieren mittlerweile gute Konzepte, die dem Übertourismus entgegenwirken. Das lässt sich durch Apps und Absperrungen regulieren, da wo der politische Wille da ist. Und der existiert.

Wie kann sich die Schweiz auch künftig im Wettbewerb mit preisgünstigeren Nachbarn wie Österreich und Deutschland behaupten? Auch dort kann man in den Bergen wandern und Skifahren, und das für weniger Geld.

Es läuft nicht alles über den Preis. Wir haben es in der Schweiz zum Beispiel auch mit den sogenannten «Visiting Family and Relatives» zu tun, also mit Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern, die ihren Urlaub bei der Familie verbringen. Sie sind neben den Urlaubs- und Geschäftsreisen eine der drei Säulen der Tourismusbranche.

Und dann gibt es eine ausgeprägte Markentreue im Schweiz-Tourismus. Ich kenne Leute, die in den gleichen Ort zum Skifahren fahren wie ihre Grosseltern. Was den Preis betrifft: Über diesen bekomme ich in der Schweiz ja auch eine gewisse Exklusivität als Gegenkonzept zum Massentourismus.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Für viele Schweizerinnen und Schweizer im Ausland, die im Tourismus tätig sind, geht es ums finanzielle Überleben. Eine Hotelbetreiberin aus Senegal berichtet.

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Bietet die Pandemie auch eine Chance für die Schweiz, ihre touristische Infrastruktur zu modernisieren und sich auf dem Markt neu aufzustellen?

Viele Betriebe haben die geschenkte Zeit für Renovierungen, Schulungen und neue Konzepte genutzt. So war die Zwangspause auch eine Chance, für einige aber auch eine Wegscheide: Gebe ich auf und schliesse, oder buttere ich nochmal kräftig rein und wage den Neustart?

Sicherheit steht ganz oben auf der Prioritätenliste von Reisenden. Ein Schweizer Veranstalter bietet zum Beispiel von Deutschland aus Pauschalreisen in Jets für kleine Gruppen an. Ist es eine gute Zeit für neue Idee und Konzepte?

Privatflüge haben während der Pandemie einen unglaublichen Boom erfahren. Abgeschiedenheit und Personalisierung sind der neue Luxus, aber zugegebenermassen nur für die oberen Zehntausend erschwinglich.

Auch Arbeiten unter Palmen – wo immer es Internet gibt – scheint ein neuer Trend zu sein. Wird das Homeoffice am Strand auch nach der Pandemie zum festen Angebot der Reiseveranstalter?

Ich glaube, dass das Recht auf Mobilität im Arbeitsleben Bestand haben wird. Barbados hat ein Visum eingeführt, das es ermöglicht, ein Jahr dort zu arbeiten und leben. Sie waren mit die ersten, die sich zur ITB angemeldet haben, auch um dieses Konzept zu vermarkten. In Georgien und Estland gibt es ähnliche Visa.

Auch den Kanaren kommt sicher künftig eine wichtige Rolle in dieser Hinsicht zu. Aus meinem Team arbeiten derzeit zwei Mitarbeitende von dort aus im Mobile Office. Das ist mehr als ein kleiner Trend, sondern durchaus in Zukunft Teil des Reisemarkts.

Die ITB fand zum ersten Mal digital statt – ein Spiegel dessen, dass auch der Markt der Geschäftsreisen zusammengebrochen ist und sich um Umbruch befindet. Welche Rolle spielen diese für die Reisebranche?

Geschäftsreisen machen einen riesigen Teil des Markts aus. Die Zahl der Geschäftsleute, die Business Class fliegen, wird künftig kleiner. Wir haben gelernt, dass wir für einen einstündigen Termin nicht nach London fliegen müssen.

Die Prognose lautet, dass der Reisetourismus nach dem Tal wie ein V wieder steil ansteigen wird, der Business-Sektor hingegen eher in Form eines U, wenn überhaupt. 65 Prozent der Befragten in Deutschland, China und den USA gaben an, in Zukunft weniger Geschäftsreisen machen zu wollen. Das kann sich auf die Dichte des Angebots niederschlagen. Es wird dann künftig nicht mehr jede Stunde einen Flug von Berlin nach Paris geben.

Wir werden wohl auf nicht absehbare Dauer mit Impfpässen und Testkonzepten leben und reisen. Besteht die Gefahr, dass Menschen die Lust am unbeschwerten Reisen verlieren werden?

Früher haben wir die Asiatinnen und Asiaten belächelt, die mit Maske einen Flieger betraten. Vor dem 11. September 2001 konnten wir mit Literflaschen durch die Sicherheitskontrolle und in den USA Freunde bis zum Gate begleiten. Daran kann sich kaum noch jemand erinnern. Wir werden uns auch an die neuen Hygienevorschriften und Sicherheitsmassnahmen gewöhnen.

Zum Schluss: Können Sie der Krise irgendetwas Positives abgewinnen? Für die Branche und für die Messe?

Die Sehnsucht nach dem Reisen ist nach wie vor da, und das macht Hoffnung. Und der Digitalisierungsschub hat sich auf das Reisen ausgewirkt: Apps und kontaktloses Bezahlen haben sich enorm weiterentwickelt.

Die digitale ITB war ein Erfolg, für 2022 planen wir eine hybride Messe. Die grösste Lehre für mich aus der Krise ist aber: Reisen ist kein Menschenrecht, es ist ein Privileg.

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