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Die Distanz bleibt – und so mancher geht

Die Zuwanderung deutscher Arbeitskräfte in die Schweiz ist in den letzten paar Jahren spürbar zurückgegangen. Keystone

Es ist bekanntlich eine komplizierte Beziehung zwischen Schweizern und Deutschen, beladen mit Vorbehalten auf beiden Seiten. Frustriert von vermeintlicher Ablehnung zieht es immer mehr Deutsche zurück in die Heimat. Andere haben es geschafft, sich zuhause zu fühlen.

Fünf Jahre lang lebte Philip Korn in Zürich, dann fand er es an der Zeit zu gehen. Nicht wegen mangelnder Kontakte oder Ressentiments. Es wurde ihm schlichtweg zu eng dort. «Zürich ist eine tolle Stadt, aber letztendlich doch auch ein grosses Dorf», sagt der Wirtschaftsmathematiker. Abends mit Freunden am Seeufer treffen, am Wochenende Skifahren gehen, «das war eine gute Zeit», erinnert er sich. Doch er sehnte sich nach mehr Urbanität und zog 2011 nach London. Mittlerweile arbeitet der heute 37-Jährige in Berlin bei einem Startup-Unternehmen. «Hier lässt sich theoretisch jedes Wochenende etwas Neues entdecken», sagt er. Das habe ihm an Zürich gefehlt.

Nach ein paar Jahren wurde es Philip Korn zu eng in der Schweiz und er zog nach London. Petra Krimphove

Unter jenen, die der Schweiz den Rücken kehren, sind viele junge Professionelle wie Philip Korn. Ihre Karrieren sind globaler ausgerichtet als die ihrer Eltern. Viele haben gar nicht vor, sich eine dauerhafte Existenz in der Schweiz aufzubauen, wenn sie hier einen Job in der Finanzbranche oder im Gesundheitswesen annehmen. Sie wollen Erfahrungen sammeln und auch von den hohen Gehältern profitieren. Die waren für Philip Korn jedoch nicht das ausschlaggebende Argument. «In der Banken- und Finanzbranche verdient man auch in anderen Ländern sehr gut», sagt er. Für ihn war Zürich eine Station auf dem Weg, bevor es ihn weiterzog.

Wer sich verliebt, bleibt

Wenn junge Deutsche in der Schweiz heimisch werden, dann ist häufig die Liebe im Spiel. Mit ihr kommt die emotionale Bindung an die neue Heimat, und sie ist zugleich auch eine Eintrittskarte in die helvetische Gesellschaft. Wer Teil einer eidgenössischen Grossfamilie ist, der braucht sich um seine Integration keine Sorgen zu machen.

So wie Benjamin Schupp. Er kam 2008 mit seiner Zürcher Partnerin von Berlin in die Schweiz. «Ich wollte das Leben hier gerne ausprobieren.» Heute würde er allerdings gerne zurück nach Deutschland ziehen – wenn die gemeinsamen Kinder aus der mittlerweile beendeten Beziehung nicht hier verwurzelt wären. Der Informatiker vermisst die kulturelle und soziale Buntheit Berlins und die direkte Art, Dinge offen anzusprechen. Nein, angefeindet fühlt er sich in der Schweiz nicht, aber es bleibt die Distanz.

Dabei war es für ihn als Partner einer Schweizerin kein Problem, in Zürich Anschluss zu finden. Die beiden hatten bereits einen Freundeskreis vor Ort, als sie kamen. Im Berufsleben musste er jedoch erst einmal neue Regeln lernen und alte Gepflogenheiten ablegen. Hände schütteln, vorstellen, anschauen, Namen merken. «Hier läuft alles über den persönlichen Kontakt», sagt der 43-Jährige. Er weiss mittlerweile, wie er als Deutscher nicht aneckt. Richtig heimisch fühlt er sich dennoch nicht. Vielen Landsleuten, die er kennt, geht es ähnlich. Sie zogen zurück in ihre Heimat, weil ihnen Freunde fehlten.

In Internetforen berichten Deutsche von unverblümter Abneigung, der sie sich ausgesetzt sehen. Kassiererinnen, denen das Lächeln gefriert, wenn sie ihren Kunden als deutsch identifizieren, und Kollegen, die spürbar auf Distanz bleiben, scheinen da noch harmlose Varianten zu sein. Umgekehrt machen auch Schweizer im anonymen Raum des Internets ihrem Unmut ungefiltert Luft. «Sie kommen her, nehmen unsere Jobs weg, kassieren jeden Monat fetten Lohn, kaufen aber noch in Deutschland ein – und dann jammern sie», liest man dort über die deutschen Einwanderer. Oder: «Die Angeber der Nation, die sich mit Ellbogen- und Wort-Gewalt hier in der Schweiz schamlos Zutritt schaffen, wo wir in Bescheidenheit uns immer eher zurückhalten, Konflikte vermeidend.»

Deutsche verlassen die Schweiz

Rund 300’000 Deutsche leben in der Schweiz. Wie unterschiedlich sie sich dort aufgenommen fühlen, zeigt eine Studie der Wirtschaftsuniversität Wien aus dem Jahr 2015. Für 41 Prozent ist die Schweiz zur Heimat geworden, während sich 40 Prozent kaum oder gar nicht zuhause fühlen. Ein Drittel glaubt, nicht willkommen zu sein.

Wohl auch aus diesem Grund ist die Einwanderung der deutschen Nachbarn spürbar zurückgegangen. Seit 2009 verlassen mehr Deutsche das Land, als dass Neue hinzukommen. Sie profitieren in ihrer Heimat von dem spürbaren wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre und steigenden Löhnen. Die deutsche Wirtschaft wirbt gezielt um rückkehrende Fachkräfte.

Zu den wirtschaftlichen Argumenten kommt ein emotionales: Die Masseneinwanderungs-Initiative und das politische Klima tragen bei vielen Deutschen zu dem Gefühl bei, nicht willkommen zu sein. Häufig geben jedoch schlicht das Heimweh nach der Familie und der eigenen vertrauten Kultur den Ausschlag für die Rückkehr in die Heimat.

Einfach mal den Mund halten

Nur nicht persönlich nehmen, raten einige Deutsche ihren Landsleuten. Und nur nicht in der Jammerecke einigeln. Auch Philip Korn hat Vorbehalte gegen Deutsche gespürt, erlebt, dass Schweizer neben ihm an der Theke den Rückzug antraten, wenn vermeintlich laute Deutsche sich neben sie setzten. Es sei es nicht leicht, mit Eidgenossen Freundschaften zu schliessen, sie seien schon sehr reserviert, sagt der aufgeschlossene Hamburger. Gekränkt war er deshalb nicht, «Man ist ja nicht gleich der Mittelpunkt des Lebens für die anderen», sieht er es nüchtern. Die Sprache sei sicherlich ein Hemmnis. «Aber das wenig Schweizerdeutsch das ich kann, würde ich nicht sprechen», sagt er und zwar aus Respekt vor den Schweizern: «Das würde sich anhören, als würde ich mich lustig machen.»

Michael Wiederstein ist hingegen rundum zufrieden mit seinem Schweizer Leben. Der deutsche Journalist kam 2010 für ein Praktikum bei den liberalen Schweizer Monatsheften (heute: Schweizer Monat) nach Zürich. Seit einem halben Jahr ist er Chefredaktor. Seine Partnerin stammt aus der Stadt, mittlerweile haben sie zwei kleine Kinder. Zieht es ihn zurück nach Deutschland? «Nein. Mein Leben, meine Familie, mein Job – alles hier», sagt er. Seine Partnerin und die beiden Kinder haben Schweizer Pässe, ihm liegt, obschon bisher kein Doppelbürger, die grössere Eigenverantwortung in der Schweiz. Er schwärmt von Zürich und der Lebensqualität, dem kulturellen Angebot, davon, wie perfekt das öffentliche Leben funktioniert.

Der 33-Jährige versuchte, sich auf die Fremde einzulassen und begegnet der durchaus erlebten Reserviertheit mit Gelassenheit. «Man darf nicht jede unfreundliche Bemerkung auf sein Deutschsein beziehen», sagt er. Michael Wiedersteins Rat: Demut üben, erst einmal zuhören, statt sofort das Wort zu ergreifen. Und: auf jeden Fall Schweizerdeutsch verstehen lernen.

Nicht betont lustig

Die Parallelwelt, in der sich viele zugezogene Deutsche einkuscheln, war ihm hingegen von Beginn an suspekt. Einmal schaute er mit anderen Landsleuten, die er in einer Facebook-Gruppe für Deutsche in Zürich kennengelernt hatte, gemeinsam Fussball. «Das war ein fürchterlich absurder Abend», erinnert er sich. «Die haben mir zuviel gejammert, sich gegenseitig ihre Stereotypen bestätigt, wie ‚schwer‘ man es als Deutscher in der Schweiz hat.» Und doch geniesst er es mittlerweile auch, wenn es auf seinen regelmässigen Deutschlandbesuchen mal etwas entspannter, weniger durchgeplant zugeht als in seiner Wahlheimat. «Nicht betont lustig» seien viele Schweizer, vor allem im Vergleich zum Rheinland, in dem er aufwuchs und das für seine kontaktfreudigen Bewohner bekannt ist. «In Zürich drehen sich ja alle um, wenn man im Tram laut lacht.»

Wer an einen neuen Ort kommt, müsse sich selbst und anderen Leuten Zeit geben, so die Einschätzung von Katharina Wellbrock (Name geändert). Freundschaften und Heimatgefühle stellten sich nun einmal nicht über Nacht, sondern erst langsam ein. Die Medizinerin kam Mitte 2015 über eine Vermittlungsagentur nach Basel und arbeitet an einer Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik. Nach wie vor hat die 55–Jährige ein Standbein in Berlin, wo sie sich seit 30 Jahren heimisch fühlt und fast die Hälfte ihrer Zeit verbringt. Doch ihr ist es wichtig, sich auch in Basel zu integrieren und Kontakte zu Schweizern zu knüpfen. Sie besuchte die Willkommensempfänge der Stadt und ihres Bezirks, trifft sich regelmässig zum Apéro mit ihren Nachbarinnen und spürt nach nunmehr 18 Monaten, wie sich Beziehungen langsam entwickeln.

«Ich hatte mir das einfacher vorgestellt», räumt sie ein, zumal in der Klinik nicht viel Zeit für persönliche Begegnungen mit ihren Kollegen bleibt. «Die Schweizer sind wirklich Arbeitstiere. Keine Spur von gemütlich und langsam», sagt sie und lacht. Und die hohen Preise in Restaurants und Bars machten Treffen im öffentlichen Raum eher zur Ausnahme. «Das können sich ja auch viele Einheimische gar nicht in der gleichen Häufigkeit leisten wie wir das in Deutschland gewohnt sind», so Katharina Wellbrock. Sie ist hörbar um Verständnis für die reservierte Art der Schweizer bemüht. Und doch findet sie es auch «schade», dass ihr zum Beispiel beim Brötchenkauf nicht die gleiche Freundlichkeit entgegengebracht wird wie einem Eidgenossen. Das würde zu einem Heimatgefühl doch dazu gehören.

Genf ist neutrales Terrain

Es mutet fast ironisch an, dass sich Deutsche trotz der gemeinsamen Sprache in der Deutschschweiz ausgegrenzter fühlen als im frankophonen Teil des Landes. Doch in der Fremdsprache verschwindet vieles, an dem sich Eidgenossen und Deutsche auf der anderen Seite des Röstigrabens reiben: Hochdeutsch gegen Dialekt, Forschheit gegen Zurückhaltung, sprachliche Überlegen- und Unterlegenheitsgefühle.

«Hier spielt es eigentlich keine grosse Rolle, dass ich Deutsche bin“, sagt die Hamburgerin Anja von Moltke (47), die mit Unterbrechungen bereits seit 1999 in Genf lebt und dort für die Vereinten Nationen arbeitet. Von Anfang haben sie und ihr deutscher Mann sich bemüht, nicht in den internationalen UN-Zirkeln stecken zu bleiben. Die beiden Kinder gehen auf eine Schweizer statt auf die Deutsche Schule am Ort. Dort, so Anja von Moltkes Gefühl, blieben ihre Landsleute zu sehr unter sich. Ihr Sohn Jona (15) spielt seit vielen Jahren Fussball im lokalen Verein, Tochter Hannah (6) ist im Turnverein und Musikunterricht. Die Familie hat enge Freunde aus der ganzen Welt, unter ihnen auch viele Schweizer. Genf sei kulturell Frankreich ja viel näher als Zürich oder Basel, sagt Anja von Moltke. «Das ist für Deutsche sozusagen neutrales Terrain.» 

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