Deutschland-Wahl: Mitte-Parteien sagen Nein zur bundesweiten Volks-Abstimmung
Vor den richtungsweisenden deutschen Parlamentswahlen von September legten die grossen Parteien beim Thema direkte Demokratie den Rückwärtsgang ein. Nur noch an den politischen Rändern steht der Volksentscheid auf der Agenda. Wieso diese Skepsis zu Zeiten, wo die Bürger:innen allenthalben mehr Mitsprache fordern?
Besonders dramatisch kommt die Wende bei den Grünen und den Sozialdemokraten daher. In ihren Wahlprogrammen taucht der Ruf nach bundesweiten Volksentscheiden im Gegensatz zu früher gar nicht mehr auf. Aus den einstigen Vorkämpfern für mehr direkte Demokratie auf der nationalen Ebene sind Skeptiker geworden.
Stattdessen steht nun die Idee ausgeloster Bürgerräte, die das Parlament beraten sollen, bei diesen und anderen Parteien im Bundestag plötzlich hoch im Kurs. Sie sollen bei ausgewählten Themen eine Brücke zum Volkswillen zwischen den Wahlen schlagen, die alle vier Jahren stattfinden. Notabene ohne jeglichen verbindlichen Charakter für die Gesetzgebung.
SWI swissinfo.ch widmet der richtungsweisenden Parlaments- und Kanzlerwahl im wichtigsten Land Europas eine dreiteilige Serie.
Nach 16 Jahren endet am 26. September die Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Einerseits wird der neue Bundestag bestimmt, andererseits stellt die Partei mit den meisten Stimmen den Nachfolger oder die Nachfolgerin Merkels.
Im Hintergrund geht es in Deutschland auch um die im Grundgesetz (Artikel 20) verankerte Einführung nationaler Volksentscheide. Doch die direktdemokratischen Volksrechte, auf kommunaler Ebene und in den Bundesländern politischer Alltag, sind auf nationaler Ebene stark umstritten. Wir zeigen, wieso das so ist, welche Parteien auf der Bremse stehen und wie eine Volksinitiative die Hauptstadt Berlin aufmischt.
Überraschender Richtungswechsel
Der Richtungswechsel überrascht, denn in den über 30’000 Gemeinden und 16 Bundesländern gehören Volksinitiativen, Volksbegehren und auch Volksentscheide zum festen Bestandteil der repräsentativen Demokratie.
Allerdings unterscheiden sich Intensitäten und Verfahren in den unterschiedlichen Bundesländern zum Teil sehr stark, wie ein neues Ranking des Fachverbandes «Mehr Demokratie» zeigt. Auf Bundesebene sind Volksabstimmungen bis auf zwei Ausnahmen bisher jedoch nicht vorgesehen.
Hier gehts zu den anderen zwei Beiträge unserer Mini-Serie:
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«Volksrechte wie in der Schweiz wären für Deutschland ein Rückschritt»
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Berlin stimmt am Wahlsonntag auch über Enteignungen ab
In Deutschland will sich die indirekte parlamentarische Demokratie offensichtlich nach der harten Corona-Zeit das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen. Im Dezember 2020 kippten die Grünen – einst überwiegend Verfechter von mehr direkter Demokratie – die entsprechenden Ziele aus dem Grundsatzprogramm. In den Versionen von 1980, 1993 und 2002 spielten Volksentscheide noch eine zentrale Rolle im grünen Politikverständnis.
Nun aber erklärte der Ko-Vorsitzende der Partei, Robert Habeck, dass «Volksentscheide polarisieren» und deshalb «nicht den Diskurs in der Gesellschaft befördern, sondern die Spaltung der Gesellschaft» auslösen. Allerdings stimmte nur eine knappe Mehrheit von 51,5% dem Verzichtsantrag der Parteispitze zu.
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Der EU-Abgeordnete der Grünen, Sven Giegold, zeigte sich «bestürzt»: Es sei falsch, «als Reaktion auf die populistischen Angriffe auf die heutigen politischen Institutionen mit einer überwiegend konservativen Haltung zu reagieren». Er meint damit, dass sich die einst gegen den Mainstream kämpfende Öko-Partei auf eine Linie mit den Parteien der bürgerlichen Mitte begibt, die stets vor einer Schwächung der repräsentativen Demokratie durch bundesweite Volksabstimmungen gewarnt hatten.
Unterschiedliches staatsbürgerliches Selbstverständnis
Insbesondere die Christdemokraten, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), sind der direkten Mitbestimmung des Volkes traditionell sehr kritisch gegenübergestanden. Im aktuellen Wahlprogramm der Union taucht das Thema direkte Demokratie gar nicht erst auf, was vermutlich nur wenige Unionswähler erstaunt.
Das Selbstverständnis der mündigen Bürgerin, des mündigen Bürgers, die in wichtigen Fragen das letzte Wort an der Abstimmungsurne haben müssen, ist in Deutschland auch aus allerdings umstrittenen geschichtlichen Gründen viel weniger stark als in der benachbarten Schweiz.
Unser Video «So funktioniert das politische System der Schweiz»:
Am markantesten gegen Volksbegehren positionieren sich aber die Freien Demokraten. «Die zentralen Orte der Diskussion und Entscheidung sind unsere Parlamente», bekräftigt die FDP in ihrem im April 2021 veröffentlichen Wahlprogramm. Immerhin hatte die FDP sich 1994 beim Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission offen gezeigt und noch 2004 eine Kampagne für einen deutschlandweiten Volksentscheid zur damals diskutierten EU-Verfassung lanciert.
Volksabstimmungen sieht das deutsche Grundgesetz bislang nur für zwei Fälle vor: Im Falle der Abstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung, wie zunächst nach der Wiedervereinigung angestrebt worden war. Und bei der Neugliederung des Bundesgebietes.
Beispiele dafür sind 1952 die Abstimmung über die Fusion der Länder Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern zum heutigen Baden-Württemberg und 1996 die Frage, ob Berlin und Brandenburg zu einem Bundesland verschmolzen werden sollen. Ersteres wurde positiv entschieden, letztere von der Mehrheit der Brandenburger abgelehnt.
Die Liberalen wie auch andere Parteien haben jedoch unterdessen eine Liebe für eine andere Form der Bürgerpartizipation entwickelt. Dies nachdem – auch auf Initiative von «Mehr Demokratie» – mehrere ausgeloste Bürgerräte zu Themen wie Demokratie, Klimawandel und Deutschlands Rolle in der Welt getestet worden sind.
Brexit und Corona als Abschreckung
Bemerkenswert ist, dass sich neben den Grünen auch die SPD recht lautlos von ihrem einstigen Einsatz für Volksabstimmungen verabschiedet hat. Auch bei Sozialdemokraten findet sich der Begriff im aktuellen Wahlprogramm gar nicht mehr.
Stattdessen heisst es auch hier nun: «Wir werden die Erfahrungen mit Bürgerräten aufgreifen und es uns zur Aufgabe machen, neue Wege der unmittelbaren Beteiligung an staatlichen Entscheidungen zu gehen.»
Zur Erinnerung: 2002 zusammen mit den Grünen und noch 2013 hatte die SPD-Fraktion im Bundestag eine Grundgesetzänderung beantragt, die Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheid und Referendum auch auf Bundesebene ermöglichen sollte.
Zwar stimmte eine Mehrheit der Abgeordneten diesem Vorschlag zu, doch die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit wurde damals, wie auch bei früheren Anläufen verpasst, denn dazu müsste auch die CDU/CSU mit an Bord sein.
Für die Trendwende bei Grünen und SPD gibt es verschiedene Gründe: das Brexit-Plebiszit in Grossbritannien hatte eine abschreckende Wirkung und die teilweise wenig sachorientierten und gehässigen Debatten während der Corona-Pandemie haben das Verhältnis zwischen Teilen des Volkes und Volksvertretern weiter belastet.
Zum Vergleich: In der Schweiz mit ihren starken Instrumenten der direkten Demokratie lösten Skeptiker der staatlichen Corona-Politik mittels Unterschriftensammlungen alleine in diesem Jahr gleich zwei Volksabstimmungen über Covid19-Gesetze aus.
Schlechte Aussichten für den bundesweiten Volksentscheid
Kommt hinzu, dass in Deutschland Forderungen nach bundesweiten Volksabstimmungen derzeit nur noch von den Parteien am rechten und linken Rand vertreten werden: der AfD, die am äussersten rechten Rand angesiedelt ist, und der Linken.
Dabei werden die Akzente jedoch sehr unterschiedlich gesetzt: für die Linke sind direktdemokratische Verfahren ausdrücklich als Ergänzung zu den parlamentarischen Entscheidungsprozessen zu sehen, nicht als Alternative.
Von den trendigen Bürgerräten aus so genannten Zufallsbürger:innen als Ersatzlösung möchte die Partei jedoch nichts wissen: «Erst durch den Volksentscheid erhalten die Vorschläge der Bürgerräte echte demokratische Legitimation», heisst es von Seiten der Bundestagsfraktion der Linken.
Anders die Haltung der anti-parlamentarischen «Alternative für Deutschland»: sie fordert ein Ende der «elenden Parteibuchwirtschaft», wie es der AfD-Abgeordnete Roman Reusch Anfang 2021 formulierte, als seine Partei einen Gesetzentwurf «zur Einführung der direkten Demokratie auf Bundesebene» in den Bundestag einbrachte. Je mehr das Volk direkt entscheiden kann und je weniger die Parlamente, desto besser.
Für die AfD, die über einen starken rechtsextremen Flügel verfügt, ist es ein wichtiges Thema: Die Forderung nach mehr direkter Demokratie steht im Grundsatz- und im Wahlprogramm der Partei ganz oben. Dabei wird gerne auf die Schweiz verwiesen, allerdings nicht immer mit korrektem Bezug auf die dortigen Verfahren.
Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen -stehen die Chancen auf bundesweite Volksabstimmungen heute in Deutschland so schlecht wie schon lange nicht mehr.
Hier geht es zu den Wahlprogrammen der deutschen Parteien:
- CDUExterner Link
- SozialdemokratenExterner Link
- Freie DemokratenExterner Link
- Die LinkeExterner Link
- AfDExterner Link
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