Dick Marty: Advokat der unverblümten Wahrheit
Der für seine investigativen Recherchen für den Europarat bekannte Schweizer Politiker Dick Marty ist 78-jährig in seinem Haus im Tessin verstorben. Eine Würdigung.
Es ist eine schwierige Aufgabe, alle Ämter, Ermittlungen und Mandate von Dick Marty aufzuzählen, der am 28. Dezember im Alter von 78 an den Folgen einer Krankheit verstorben ist. Die Meldung kam nicht unerwartet. Er hatte seine Erkrankung in seinen letzten Interviews und in dem im November veröffentlichten Buch Verita irriverenti («Unverblümte Wahrheit») öffentlich gemacht hatte.
Der ehemalige Staatsanwalt Piergiorgio Mordasini bezeichnete Marty einst als Magistrat und Politiker, ja als «Magistrat im Dienste der Politik».
Marty war sicherlich eine der herausragendsten Tessiner Persönlichkeiten auf der nationalen und internationalen Bühne der letzten Jahrzehnte.
Und es ist einfach, den gemeinsamen Nenner seiner Vita zu finden: Er war ein entschiedener Verfechter der Menschenrechte und hat sein Leben auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit verbracht.
Diese Werte sind eine unabdingbare Voraussetzung für die Demokratie, wie er selbst vor einigen Monaten in einem Interview sagte.
«Wenn es um die Menschenrechte und die Gerechtigkeit geht, kann man alle Agenden haben, die man will, aber Priorität muss immer die Gerechtigkeit haben. Das ist meine Überzeugung, und die werde ich nicht aufgeben», sagte er.
Verfechter des Rechts
Geboren am 7. Januar 1945 in Sorengo (die Familie seines Vaters stammte aus dem Oberwallis) studierte er nach der Schule in Lugano Jura in Neuenburg und erwarb 1969 das Lizenziat.
Danach spezialisierte er sich in Freiburg im Breisgau und promovierte 1974 mit einer preisgekrönten Arbeit über die Rolle von Richter:innen bei der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen.
Nach einigen Jahren am Max-Planck-Institut wechselte er von der Forschung in die Praxis, und die Justiz war seine erste Anlaufstelle im Tessin.
Er war zunächst stellvertretender Staatsanwalt (ab 1975) und dann von 1978 bis 1989 Staatsanwalt des Kantons Tessin.
Hundert Kilo Heroin, die Libanon-Connection und Elisabeth Kopp
Es waren die Jahre der grossen Ermittlungen gegen das organisierte Verbrechen und den Drogenhandel, die in der bedeutendsten Beschlagnahmung von Heroin und Morphinbasen in der Schweizer Geschichte gipfelten. Insgesamt 100 Kilo wurden auf einem Lastwagen in Bellinzona abgefangen, wo der Drogenhändler Haci Mirza verhaftet wurde.
Die Ermittlungen brachten Marty 1987 zusammen mit dem 2019 verstorbenen Kommissar Fausto Cattaneo den «Award of Honour» des US-Justizministeriums und der International Narcotic Officers Association ein.
Im Juli 1988 liess Marty die Brüder Jean und Barkev Magharian wegen des Verdachts der Wäsche von Drogengeldern verhaften. Am Rande dieser Untersuchung, der Libanon-Connection, tauchte auch der Name Shakarchi Trading auf, in dessen Vorstand Hans Kopp sass.
Als die damalige Bundesrätin Elisabeth Kopp dies einige Monate später erfuhr, teilte sie es ihrem Mann mit, der sich daraufhin aus dem Gremium zurückzog, was sie jedoch ihre politische Karriere kostete. Kopp gab zu, dass sie ihren Mann gewarnt hatte, und musste am 12. Januar 1989 aus dem Bundesrat zurücktreten.
In der Folge wurde Marty 1989 von den Zuschauer:innen des damaligen Westschweizer Fernsehens TSR zum «Schweizer des Jahres» gekürt.
Geheime CIA-Gefängnisse, Tschetschenien und Kosovo
Martys Ermittlungen sind in dem Buch Una certa idea di giustizia («Eine bestimmte Vorstellung von Gerechtigkeit») nachzulesen, das 2020 mit einem Vorwort des ehemaligen Turiner Staatsanwalts Armando Spataro veröffentlicht wurde.
Das Buch enthält Fälle aus seiner Zeit als Staatsanwalt. Aber auch Ermittlungen, die er nach seiner Wahl zum Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates im Jahr 1998 angestellt hat. Der Europarat würdigte seine Arbeit am 1. Dezember 2023 mit der Verleihung des Pro-Merito-Preises.
Bekanntestes Beispiel seiner Erfolge sind seine beiden Berichte aus den Jahren 2006 und 2007 über ein «globales Netz» von CIA-Verhaftungen und geheimen Transfers im Rahmen der Terrorismusbekämpfung und über die wahrscheinliche Verwicklung von 14 Mitgliedstaaten des Europarates in dieses System.
Dabei verschonte er auch die Schweiz nicht, die angeblich die Nutzung ihres Luftraums für Gefangenentransportflüge erlaubte.
Martys Schlussfolgerungen wurden von der Versammlung, die die Berichte genehmigte, zweimal bestätigt: Die europäischen Länder hatten bei ausserordentlichen Überstellungen ein Auge zugedrückt, und in Polen und Rumänien waren Geheimgefängnisse eingerichtet worden.
Es war eine Untersuchung, die unter tausend Erschwernissen, Kritik und Widerstand, auch aus der Schweiz selbst, durchgeführt wurde. «Alle gegen Marty» hatte eine Zeitung jenseits des Gotthards getitelt.
Als Berichterstatter für den Europarat war Marty 2010 auch in den Nordkaukasus gereist: nach Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien, um die Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, die nach der neun Jahre zuvor begonnenen russischen Militärintervention gegen tschetschenische Separatisten begangen wurden.
«Es war die Mission, die mich auf menschlicher Ebene am meisten beeindruckte», schrieb er später.
Im Dezember 2012 prangerte er in einem neuen, von Strassburg in Auftrag gegebenen Bericht den Organhandel an, der in den späten 1990er-Jahren von der UCK, der Kosovo-Befreiungsarmee, angeblich betrieben wurde. Die Opfer waren unter anderem serbische Gefangene.
Diese Geschichte war erstmals in einem Buch der ehemaligen Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, Carla Del Ponte, erwähnt worden.
Unter Personenschutz
Dieser Fall «verfolgte» ihn und holte ihn in seinen letzten Lebensjahren ein: Im April 2022 kam dank dem Westschweizer Radio und Fernsehen RTS ans Licht, dass Marty bereits seit 16 Monaten (genauer gesagt seit dem 18. Dezember 2020) unter strengem Polizeischutz (Stufe 4 von 5) stand.
Man hatte ihm sogar angeboten, seinen Namen und seine Adresse zu ändern. «Aber darauf bin ich gar nicht eingegangen», erzählte er später und bedauerte, wie sehr diese Drohungen auch seine Familie belastet hätten, die er bis dahin immer «aus allem herausgehalten» habe.
Die anderthalb Jahre dauernde Sicherheitsmassnahme war auf nachrichtendienstliche Informationen zurückzuführen, wonach sein Leben von Elementen des serbischen Geheimdienstes bedroht wurde, die dann die Schuld auf die Kosovar:innen schieben wollten.
«Ich glaube, diese Affäre hätte schneller gelöst werden können, wenn in Bern der politische Wille vorhanden gewesen wäre», sagte er im April gegenüber RSI und warf der Bundesregierung ausdrücklich vor, «keinen Ärger zu wollen».
Diese Erfahrung hat er auch in seinem Buch Sous haute protection und in seiner jüngsten Publikation Verità irriverenti geschildert, in der er die «verweigerte Untersuchung» gegen seine Verfolger:innen anprangert.
Die Bewilligung der Staatsanwaltschaft durch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (damals unter der Leitung von Karin Keller-Sutter) dauerte acht Monate, andere Schritte wurden mit erheblicher Verzögerung eingeleitet und mehrere Anfragen von Marty selbst blieben unbeantwortet.
Die UCI und das Doping
Unter den von Marty durchgeführten Untersuchungen ist auch diejenige zu erwähnen, mit der ihn der Internationale Radsportverband 2014 beauftragte, um Licht in das Management der ehemaligen Manager Hein Verbruggen und Pat McQuaid und den Kampf gegen Doping zu bringen.
Dabei stellte sich insbesondere heraus, dass Lance Armstrong eine Vorzugsbehandlung genossen hatte.
Von der Justiz zur Politik
In der Zeit zwischen diesen Untersuchungen wurde er 1989 auch in die Politik (Kanton und Bund) berufen, um den scheidenden Claudio Generali im Staatsrat zu ersetzen. Er beschloss, die Herausforderung anzunehmen, und erklärte 2015, warum.
«Ich hatte einen Ehrgeiz für meinen Kanton», erklärte er. «Ich wollte einen Kanton, der weniger weinerlich, selbstbewusster und selbstsicherer in seinen Mitteln ist.»
Der FDP-Politiker leitete das Finanz- und Baudepartement, das 1992 in Finanz- und Wirtschaftsdepartement umbenannt wurde, es war das Jahr, in dem er auch Regierungspräsident war.
Die Jahre in Bern
Sechs Jahre lang blieb er in Bellinzona, dann war Bern an der Reihe. 1995 wurde Marty in den Ständerat gewählt, wo er dreimal wiedergewählt wurde. Er nahm an zahlreichen parlamentarischen Missionen im Ausland teil, von Ruanda bis Kuba, vom Iran bis Guatemala und Taiwan.
Er war insbesondere Mitglied der Kommissionen für Finanzen, Aussenpolitik, politische Institutionen und Rechtsfragen, die er von 1999 bis 2001 präsidierte.
Als Ständerat wirkte er an der Ausarbeitung der Gesetze mit, die er umzusetzen hatte. Zu den politischen Kämpfen, die er geführt und gewonnen hat, gehört die Ausweitung der Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft auf Fälle von organisierter und internationaler Kriminalität.
Er setzte sich auch für die Unabhängigkeit der Bundesanwaltschaft selbst ein, deren Leiter bis dahin von der Regierung gewählt wurde, die auch die Aufsicht ausübte.
Eine Reform, deren Ergebnis nach einigen Jahren «enttäuschend ist und das nicht zu knapp», wie er später in Una certa idea di giustizia schrieb. Aber er sei nach wie vor überzeugt, dass der eingeschlagene Weg der richtige sei, um die Herausforderungen der modernen Kriminalität zu bewältigen.
Auch andere Ämter gehen auf diese Jahre zurück: das Präsidium von Schweiz Tourismus, das er von 1996 bis 2007 auf Drängen des damaligen Bundesrats Jean-Pascal Delamuraz übernahm, oder dasjenige der Schweizerischen Stiftung für Pfadfinderwesen, um nur einige zu nennen.
Er war es auch, der 1999 vorschlug, eine Sondersession der Bundesversammlung in Lugano abzuhalten. Ein Vorschlag, der angenommen wurde. So tagte das Parlament vom 5. bis 23. März 2001 im Tessin, zum zweiten Mal ausserhalb der Mauern des Bundeshauses, nach Genf im Jahr 1993.
Marty fehlte vielleicht nur noch die Wahl zum Bundesrat. Als es 2009 darum ging, den Nachfolger von Pascal Couchepin zu nominieren, setzte die FDP auf Didier Burkhalter (der später gewählt wurde) und Christian Lüscher.
Der Tessiner, der nicht offiziell kandidierte, erhielt im ersten Wahlgang immerhin 34 Stimmen und schied im dritten Wahlgang aus.
Am Ende seiner vierten Legislaturperiode im Ständerat kandidierte Marty 2011 nicht mehr. In diesem Jahr, am 14. Oktober, verlieh ihm die Universität Genf die Ehrendoktorwürde «für sein Engagement ohne Zugeständnisse».
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