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Die Architekturbiennale in Venedig zweifelt am Sinn des Bauens selbst

Architekturbiennale 2023 Venedig
Das Team hinter dem österreichischen Pavillon in den Vorbereitungen: Wie öffnet man eine Architektur-Ausstellung gegenüber der Aussenwelt? Theresa Wey

Viele der Teilnehmenden der grössten internationalen Ausstellung zur Baukunst, der 18. Architekturbiennale in Venedig, gewichten soziale Nachhaltigkeit höher als die schöne Form. Wo sie Schönheit erkennen, überrascht.

Der Schweizer Pavillon ist gut positioniert: Er ist der erste, an dem der Weg der venezianischen Giardini vorbeiführt. Hier wurden an früheren Kunst- und Architekturbiennalen spektakuläre Bilder und Objekte ausgestellt.

Dieses Jahr aber, an der 18. Austragung, zeigen sich die Baukünstler:innen zurückhaltend.

Das Schweizer Team hat nicht nur nichts dazugebaut, sondern etwas abgebaut: So zum Beispiel eine Mauer, die 1952 nach Plänen des Schweizer Architekten Bruno Giacometti errichtet wurde.

Es steht mit dieser Haltung nicht alleine: Die gesamte Biennale ist durchzogen von einem Zögern, einer neuen Nachdenklichkeit und sogar Skepsis gegenüber der Bauwirtschaft.

Mauern einreissen

Für die Dauer einer Ausstellungsaison haben die Künstlerin Karin Sander und der Kunsthistoriker Philip Ursprung, beide haben eine Professur an der ETH, auch einen Abschnitt des Backsteingemäuers und sämtliche Metallgitter des Schweizer Pavillons entfernt.

Mit diesem Rückbau haben sie eine Sichtachse in den venezolanischen Nachbarpavillon geöffnet: «Neighbours» heisst denn auch der diesjährige Schweizer BeitragExterner Link in Venedig.

Er thematisiert mit dieser Nachbarschaft der Pavillons auch die Zusammenarbeit des schweizerischen Architekten Bruno Giacometti und seines italienischen Kollegen Carlo Scarpa.

Die beiden hatten ihre Entwürfe in den 1950er-Jahren in engem Austausch entwickelt. Diese Nähe wird nun trotz schwierigen politischen Beziehungen durch eine subtile bauliche Veränderung thematisiert. Der Eingriff soll durch die neuen Raumbeziehungen auch neue Sichtweisen wecken.

Karin Sander und Philip Ursprung
Karin Sander und Philip Ursprung, das Projektteam hinter dem Beitrag «Neighbours». Ggaetan Bally/Keystone

Es handelt sich um eine räumliche Manipulation, keine Rekonstruktion. Letztere wäre kaum zu realisieren, weil die Venezolaner vor vier Jahrzehnten eine zusätzliche Wand gebaut haben. Diese anzutasten, erschien den Organisator:innen ein zu schwieriges Unterfangen.

Anlässlich der Eröffnung, zu der auch Bundespräsident Alain Berset anreiste, lobte Philipp Bischof, Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, den Mut der Wettbewerbgewinner:innen.

Der erweiterte Horizont von Architektur als soziales und kulturelles Anliegen, das hier in einer präzisen formalen Reduktion artikuliert ist, war wohl auch der Grund, weshalb «Neighbours» den zum dritten Mal offen durchgeführten Wettbewerb gewinnen konnte.

Dabei verwies Bischof auch auf die seit Jahren virulente Frage nach Sinn und Unsinn nationaler Pavillons, deren Zusammenspiel nun Sander und Ursprung in überraschender Weise in ein neues Licht rücken.

So ist im Schweizer Pavillon nichts wie im Jahr zuvor. Die Backsteine sind zwar seit eh und je um eine Platane aus dem 19. Jahrhundert gruppiert. Nach dem temporären Entfernen des Mauerstücks erscheint dieser Hof aber anders: offener.

Die Backsteine in ihrem Zwischenlager im Hof bilden winkelförmige Sitzbänke, daneben steht der Baumstrunk der Platane, die im gefällten Zustand erst recht Teil der räumlichen Komposition wird.

Die abgetragenen Backsteine erzeugen mit altem Material neue Wirkungen. Hinzugefügt wurde nur ein einziges Objekt: Im grössten Raum des Schweizer Pavillons, der ursprünglich für Skulpturen vorgesehen war, ist ein Teppich ausgelegt.

Darauf montiert sind die Vergrösserungen der Planzeichnungen des Schweizer Pavillons und seines Nachbarn Venezuela, die ineinander verschränkt sind, bisher aber keine begehbare Verbindung hatten.

Schweizer Pavillon Architekturbiennale Venedig 2023
Blick in den Hof des Schweizer Pavillons und das Projekt «Neighbours». Gaetan Bally/Keystone

Schönheit andersrum

In fast allen Beiträgen zur diesjährigen Biennale stellt sich die Frage, wie Architektur, wenn nicht mehr mit glänzenden Modellen und schwungvollen Skulpturen, nach dem Ende des Starkults noch ausgestellt werden könne.

Und noch kritischer als das Wie erscheint in Zeiten der Klimakrise die Frage des Warum: Die Bauwirtschaft verantwortet mehr als ein Drittel des weltweiten CO2-Fussabdrucks und steht zunehmend unter Druck, alternative Wege zu gehen.

Am besten also gar nichts mehr bauen? – Für viele scheint dies die vorläufige Antwort zur Nachhaltigkeit, so vermittelt es zumindest die 18. Architekturbiennale.

Soziale und ökologische Themen stehen (abgesehen von wenigen Ausnahmen wie den prächtigen Modellen grosser Repräsentationsbauten im chinesischen Länderpavillon) dieses Jahr im Vordergrund. Obwohl die nationalen Beiträge unabhängig von der Gesamtschau kuratiert werden, fügen sich viele davon bestens ins Gesamtbild.

Es geht weniger um das Schöne und Imposante, sondern vielmehr um eine zukunftsfähige Architektur. Dabei spielt auch die planetarische Gerechtigkeit eine grosse Rolle. Im Ausgleich zu früheren Biennalen erhält das Schaffen auf dem und aus dem afrikanischen Kontinent 2023 grosse Aufmerksamkeit.

Schönheit wird neu definiert: nicht mehr mit geschwungenen Formen oder glänzenden Fassaden, entworfen von jüngeren oder älteren Architekturstars. Hier bestimmen nicht nur die Oberflächen, ob etwas schön ist oder nicht.

Sogar die Titanfassaden der Hochhäuser auf den New Yorker Hudson Yards beispielsweise werden – auf dem grössten Event der Baukunst weltweit – einzig im Zusammenhang mit der Ausbeutung und der Umweltschäden in der afrikanischen Berglandschaft erwähnt.

Für den Beitrag haben der spanische Architekt Andrés Jaque und sein Office for Political Innovation mit politischen Aktivist:innen aus Südafrika zusammengearbeitet.

Die Gewinnung der Rohstoffe ist hochgradig problematisch, und dieses Fazit führen die glänzenden Paneele unter dem hohen Dach der Arsenale neben erschreckenden Bildern und Texten vor.

Die Nachricht der diesjährigen Chefkuratorin Lesley Lokko ist klar: Es ist nicht alles schön, was glänzt. Schönheit entsteht viel eher da, wo in Zusammenhängen gedacht und umsichtig gehandelt wird.

Hudson Yards New York
Hudson Yards Gebäudekomplex in Manhattan, New York: Die Materialien, die für den Bau dieser Fassaden verwendet wurden, stammen aus Minen in Simbabwe und Namibia. Keystone

Nicht mehr bauen?

Diese Einsicht hatte bei vielen Mitwirkenden der Architekturbiennale zur Folge, dass sie keine neuen Objekte entwerfen wollten, sondern mit Bestehendem arbeiteten.

Das Schweizer Team ist da bei weitem nicht allein. Statt monumentaler Modelle wie an früheren Austragungen gibt es 2023 absichtliche Lücken und Leeren und massenweise Anhäufungen von Materialien, die auf ihre weitere Verarbeitung warten.

Der israelische Pavillon beispielsweise wurde versiegelt. Geräusche dringen aus den Wänden: das Rauschen eines Datacenters. Diesem Thema widmet sich dann auch die Begleitpublikation mit dem poetischen Titel «cloud-to-ground».

Andere Beiträge wiederum fokussieren auf das Baumaterial als Grundstoff. Für seine Einblicke in das Bauen mit Lehm wurde der brasilianische Länderpavillon mit dem «Goldenen Löwen» ausgezeichnet.

Im deutschen Pavillon finden die Besucher:innen ein pedantisch geordnetes Baumaterialinventar der letztjährigen Kunstbiennale. Die USA widmen sich dem Plastik (Achtung, hier stinkt es nach verbranntem Styropor).

Skandinavien beigt Altholz und Felle auf (auch hier aufgepasst: geruchlich kritische Zone), und Japan destilliert Gerüche aus den Naturmaterialien der Umgebung (aufatmen, einatmen, die Sinne dürfen wieder aktiviert werden).

Das Umweltbewusstsein der Architekt:innen zeigt sich vor allem in Form eines schlechten Gewissens – als ob man sich schäme, weiterhin Baumaterial zu verbrauchen. Sogar: Als ob man sich entschuldigen wolle, überhaupt an der Biennale mitzumachen.

Zukunft ohne Nationalpavillons?

Architektur wird weiterhin benötigt werden. Aber braucht es die Architekturbiennale mit ihrem in einem ummauerten Parkgelände verstreuten Nationalpavillons noch? Es ginge auch anders: Den Bewohner:innen der vom Massentourismus überrannten Stadt Venedig (und auch den Besucher:innen) böte die Gartenanlage einen wunderbaren Erholungsraum.

Entlang dieser Kritik hat das junge österreichische Aktivistenkollektiv Akt zusammen mit Hermann Czech, einem berühmten Doyen der Wiener Baukunst, ein Projekt entwickelt: Man müsste die Giardini für die umliegenden Wohnquartiere öffnen!

Der österreichische Pavillon liegt für eine solche Idee am richtigen Ort. Ganz anders als direkt beim Eingang in die Giardini liegt er weit nördlich auf der Insel Sant’Elena.

Dort kann derzeit von einer temporär installierten Treppe eingesehen werden, was jenseits der Mauer liegt, ebenso der schmale, überwachsene Grenzstreifen zwischen der Aussenwand des Pavillons und der Mauer um die Parkanlage.

Die Treppe führt nicht ins Wohnquartier, nur bis zur Grenze: Weder ein Durchbruch noch eine Passerelle von Österreichs Länderpavillon ins Quartier wurde von der Biennale oder von der Stadtverwaltung bewilligt.

Architekturbiennale 2023 Pavillon Österreich
Österreichs Pavillon der Architekturbiennale 2023 vom Architekturkollektiv AKT. Keystone

Während also die Schweiz, ohne ein fremdes Grundstück zu berühren, einen Durchgang zum Nachbarpavillon freilegt, verlangt unser östlicher Landesnachbar sogar eine Brücke zur Welt ausserhalb der Giardini.

Obwohl dies nicht geschehen ist, stellen die unfertig belassene Baustelle und der eindrücklich dokumentierte Prozess dieser grenzüberschreitenden Idee im österreichischen Länderpavillon den mutigsten Beitrag.

Die Begleitveranstaltungen des sinngemäss «Participazione/ Beteiligung» betitelten österreichischen BeitragsExterner Link finden denn auch ausserhalb der Giardini-Mauern und jenseits der umfangreichen Architekturschau im Wohnquartier statt.

18. Architekturbiennale in Venedig, Giardini (Länderpavillons) und Arsenale (thematische Ausstellung und weitere Länderpavillons), bis 26.11.2023.

«Neighbours»Externer Link, Schweizer Beitrag, unterstützt von Pro Helvetia mit Rahmenprogramm und gleichnamiger Buchpublikation.

Zwei weitere Schweizer Beiträge zur 18. Architekturbiennale gibt es im Arsenale: Eine Rauminstallation und Filme von laboratoire d’architecture, Genf, wie auch Filmprojektionen von Ursula Biemann, Zürich.

Biemanns dokufiktionale Filme sind in Venedig derzeit auch in der Fondazione Prada Teil der sehenswerten Schau “Everybody Talks About the Weather”.

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