Die Auferstehung des Saisonnier-Statuts
Im Rahmen ihrer Volksinitiative "Gegen Masseneinwanderung" fordert die SVP, das 2002 abgeschaffte Statut der Saisonniers wieder einzuführen. Die Einwanderung könne so gesteuert werden, gleichzeitig verfüge die Wirtschaft im Bedarfsfall über die nötigen Arbeitskräfte. Wer die Realität der Saisonarbeit selbst erfahrern hat, erschaudert angesichts dieser Perspektive.
«Für saisonale Branchen wie den Bau oder die Landwirtschaft sollten wir das Saisonnier-Statut wieder einführen. Das war ein sehr gutes System, leider hat es die Politik zuerst aufgeweicht und dann abgeschafft.» Dies sagt Toni Brunner, Präsident der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), welche die Volksinitiative gegen Masseneinwanderung lanciert hat, in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung im November 2013.
Mit dieser Forderung hat die SVP ein bereits abgeschafftes Statut wieder ausgegraben. Mit der Wiedereinführung dieses Status will man auch das Niederlassungsrecht und den garantierten Familiennachzug abschaffen sowie die Arbeitslosenversicherung entlasten.
Das Saisonnier-Statut war in den 1930er-Jahren eingeführt worden, um – wie der Name sagt – während einer Saison in der Schweiz arbeiten zu können. Doch mit der so genannten A-Bewilligung waren weitere Einschränkungen verbunden: So gab es nur ein beschränktes Recht auf Sozialversicherungsleistungen, die Arbeitskräfte konnten während der laufenden Saison weder den Arbeitgeber noch ihr Domizil wechseln. Zudem war der Familiennachzug für Ehepartner und Kinder verboten.
In den Zeiten des Wirtschaftsbooms machte die Schweiz ausgiebig von dieser Bewilligung für ausländische Arbeitskräfte Gebrauch. Zwischen 1945 und 2002 wurden mehr als 6 Millionen Bewilligungen für Saisonnier-Arbeitskräfte erteilt. Erst mit der Einführung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) wurde dieses Statut 2002 abgeschafft.
Keinerlei soziale Absicherung
Luciano Turla, ein 69-jähriger Italiener aus der Provinz Brescia, kam erstmals 1960 im Alter von 16 Jahren in die Schweiz. Er war Maurer, später Baustellenchef, und arbeitete als Saisonnier. Inzwischen ist er pensioniert. Wir treffen ihn in der Casa d’Italia in Biel. Als er von den Vorschlägen der Wiedereinführung des Saisonnier-Statuts hört, rümpft er die Nase.
Er kann die Meinung von Toni Brunner, dass es «ein gutes System» gewesen sei, überhaupt nicht teilen. Turla erinnert daran, dass ein Saisonarbeiter damals praktisch keinerlei soziale Sicherheit hatte: «Solange es Arbeiter brauchte, behielt man uns. Wenn es uns nicht mehr brauchte, gab man uns einen Tritt in den Hintern. Wer gekündigt wurde, musste nach Italien zurückkehren und hatte keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Wir hatten keinerlei Rechte.»
In der Baubranche dauerte die Saison in der Regel bis Anfang Dezember. Doch es konnte passieren, dass die Saisonniers ohne Vorankündigung früher nach Hause geschickt wurden, wenn die Wetteraussichten schlecht waren. Umgekehrt konnten die Arbeiter aus dem gleichen Grund auch zu Beginn der Saison manchmal erst später ihre Arbeit aufnehmen. Dann kam der Vertrag einfach später; und ohne Vertrag konnte ein Saisonarbeiter nicht einreisen.
Keine Italiener im Gasthaus
«Die ersten zwei Jahre als Saisonnier waren ziemlich übel. Ich arbeitete in La Neuveville in der Nähe von Biel, hatte nur ein Zimmer in einem alten Haus. Es war eisig kalt im Winter und im Sommer unglaublich feucht…»
Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Landsleute hatte Luciano Turla aber das Glück, dass er nicht in einer Baracke leben musste, wie sie häufig für die italienischen Gastarbeiter zur Verfügung gestellt wurden: «1963 wurde ich von einer Firma in Nidau angestellt. Sie hatten eigens Wohnungen für die Arbeiter gebaut. Das war ein Luxus. Wir hatten Drei-Bett-Zimmer. Es gab eine Dusche und eine Mensa», erinnert er sich.
«In Nidau wurden wir gut behandelt. Ich habe 25 Jahre lang für dieses Unternehmen gearbeitet. Doch mit den Einheimischen vor Ort war es eine andere Geschichte. In der Zeit der Schwarzenbach-Überfremdungs-Initiative zog man ständig über uns her. Wenn wir ausgingen, konnten wir nur in Gasthäusern verkehren, wo andere Italiener waren. In rein schweizerische Gaststätten konnten wir gar nicht gehen. Wir waren unerwünscht. Das machten die Blicke der Gäste klar. Wenn Blicke töten könnten…»
Bürokratische Hürden
Mehrere Generationen von Saisonarbeitern mussten sich besonders mit endlosen bürokratischen Problemen herumschlagen. «1965 bin ich für den Militärdienst nach Italien zurückgekehrt. 1966 kam ich erneut als Saisonnier in die Schweiz. 1968 habe ich eine junge Italienerin geheiratet, die eine Niederlassungsbewilligung besass. Im Oktober bekamen wir ein Kind», erzählt Turla.
«Meine Schwiegermutter wollte, dass ich wenigstens über Weihnachten in der Schweiz bleiben kann. Sie schrieb den Behörden, die erlaubten, dass ich bis zum 23. Dezember bleiben konnte, dann aber die Schweiz verlassen musste. So ging ich wieder nach Italien, um im Januar in die Schweiz zurückzukehren, zuerst als Tourist, dann als Saisonarbeiter.»
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1970 erhält Turla dann endlich die begehrte B-Bewilligung, welche das Recht auf einen Jahresaufenthalt sowie auf Familienzuzug beinhaltet. «Mit dieser Bewilligung war dann alles leichter, alles ging besser», sagt der Italiener.
Mit dem Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer wurde in der Schweiz 1931 offiziell das Saisonnier-Statut eingeführt, das ausländischen – in der Regel männlichen – Arbeitskräften eine maximale Aufenthaltsdauer von neun Monaten pro Jahr in der Schweiz ohne Möglichkeit des Familiennachzugs gewährte.
Der Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegsjahre zog bis in die 1970er-Jahre wiederum zahlreiche ausländische Saisonniers vor allem aus Italien an. Sie waren in erster Linie im Bausektor, aber auch im Gastgewerbe und in der Landwirtschaft tätig.
Im Jahr 1963 erliess der Bund Massnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte und führte Kontingente für Saisonniers pro Kanton ein.
Die Zahl der Saisonniers ging sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Gesamtheit der ausländischen Arbeitskräfte in der Schweiz zurück, von 26,5% (1957) auf 13,9% (1987).
Die Zahl der Saisoniers betrug 1967 genau 153’510 (davon 83,3% Italiener), 1977 waren es noch 67’280 (37% Italiener, 26,8% Jugoslawen, 23,3% Spanier). Im Jahr 1987 war ihre Zahl wieder auf 114’640 gestiegen. 1997 waren es noch 28’000.
Die Abschaffung des Saisonnier-Statuts hatte einen schweren Stand, auch bei der politischen Linken. So wurde die «Mitenand-Initiative – Für eine neue Ausländerpolitik», die eine Abschaffung dieses Statuts forderte, 1981 vom Volk mit 83,3% Nein-Stimmen abgelehnt.
Erst die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU besiegelten schliesslich 2002 das Ende des Saisonnier-Statuts.
Kinder mussten sich verstecken
Die Portugiesin Cristina Inacio Denti wuchs die ersten neun Jahre ihres Lebens praktisch getrennt von ihrem Vater auf. Als Saisonarbeiter konnte ihr Vater die Familie nicht in die Schweiz mitbringen.
«Er kam 1970 im Alter von 35 Jahren nach Genf. Er hatte schon viel Erfahrung als Maurer, musste aber trotzdem als einfacher Handlanger beginnen. Um eine B-Bewilligung zu erhalten, musste man vier Saisons hintereinander gearbeitet haben (bis 1970 sogar fünf Saisons, A.d.R.)», so Inacio Denti.
«Alles war sehr kompliziert. Wenn ein Arbeiter einige Arbeitstage vor Saisonende verloren hatte, weil er entlassen wurde, ging alles von vorne los. Mein Vater hatte solche Angst, einen Arbeitstag zu verlieren, dass er auch auf den Bau ging, wenn er krank war. Aus diesem Grund musste er einmal mit einer Lungenentzündung ins Spital eingeliefert werden.»
1982 war es endlich geschafft. Er konnte vier hintereinander liegende Saisons vorweisen. «Wir kamen im Oktober an. Und er dachte, es sei einfach. Doch neue Probleme taten sich auf. Denn es gab andere Bedingungen», erinnert sie sich.
«So musste man eine adäquate Wohnung vorweisen, in der maximal zwei Kinder gleichen Geschlechts in einem Zimmer schliefen. Wir waren sechs Geschwister und mein Vater lebte in einer kleinen Wohnung. Und schon damals war es extrem schwierig, in Genf eine Wohnung für eine Familie zu finden.»
Aus diesem Grund lebten Cristina und ihre Familie mehr als ein Jahr eigentlich illegal in der Schweiz und mussten sich teils verstecken. «Um Kontrollen zu entgehen, mussten wir am Morgen aus dem Haus gehen und den Tag bei Freunden verbringen. Wir mussten darauf achten, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen, und spielen, ohne Lärm zu machen. Mein Vater schrie uns an, wenn wir irgendwelche Geräusche machten.»
Im November 1983 fand die Familie endlich eine grössere Wohnung, auch wenn die Anzahl der Zimmer noch nicht ausreichte, um alle Familienmitglieder behördlich zu melden. «Einer meiner Brüder konnte erst später gemeldet werden», erzählt Inacio Denti.
Spuren hinterlassen
Es war eine schwierige Zeit. Und diese Zeit habe ihre Spuren hinterlassen, meint sie, die heute 40 Jahre alt ist, als Primarlehrerin in Genf arbeitet und ihre Abschlussarbeit an der Universität der portugiesischen Immigration in die Schweiz gewidmet hat.
«Als ich jung war, versuchte ich immer, diskret und still zu sein. Vielen Personen, die das durchgemacht haben, was ich erlebt habe, ging es gleich. Das zeigt, wie stark wir diese Erfahrung verinnerlicht haben. Wenn ich heute die Kinder meiner Schwester sehe, stelle ich fest, wie sich diese wirklich als Teil der Schweizer Gesellschaft fühlen. Doch es brauchte drei Generationen.»
Wir erzählen ihr, dass es Bestrebungen gibt, das Saisonnier-Statut wieder einzuführen. Sie kann es kaum glauben. «Wenn die Bedingungen so wären wie damals, würde dies ein Verstoss gegen die Menschen- und Kinderrechte darstellen. Für einige Kategorien von Arbeitskräften wäre es eine schreckliche Rückkehr in die Vergangenheit.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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