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Warum die Schweiz ausländische Arbeitskräfte braucht

«Die Beschäftigten könnten profitieren»

Bauarbeiter:innen sind es gewohnt, für ihre Lohnforderungen auf die Strasse zu gehen, wie hier während eines Streiks im Oktober 2018 in Genf. © Keystone / Salvatore Di Nolfi

Die Gewerkschaften in der Schweiz fordern für nächstes Jahr Lohnerhöhungen von 3% bis 5%. Der Arbeitskräftemangel könnte ihnen in die Hände spielen, sagt Soziologe Daniel Oesch.

Unter dem Strich haben Schweizer Arbeitnehmer:innen in diesem Jahr durchschnittlich 2,2% ihres Einkommens verloren. Denn die leichte Erhöhung, die die Sozialpartner:innen Ende 2021 vereinbart hatten, wurde durch die Teuerung von 3% zunichte gemacht.

Ein Ausgleich sei unerlässlich, fordern die grossen Gewerkschaften des Landes. Sie haben beschlossen, für 2023 mit Lohnforderungen zwischen 3% und 5% an den Verhandlungstisch zu gehen.

Gleichzeitig verschärfen einige Berufsgruppen den Ton. So gingen die Maurer:innen am 7. und 8. November auf die Strasse, um ihre Arbeitsbedingungen zu verteidigen und bessere Löhne zu fordern.

Sie wehren sich gegen die Vorschläge des Schweizerischen Baumeisterverbands, der unter anderem die Flexibilisierung der Arbeitszeit in den Gesamtarbeitsvertrag (GAV) aufnehmen will. Dieser wird derzeit neu verhandelt.

Daniel Oesch, Professor für Soziologie an der Universität Lausanne, beleuchtet im Interview die laufenden Lohnverhandlungen.

Sieht jetzt die Arbeitnehmenden im Vorteil: Daniel Oesch. DR

swissinfo.ch: Wird der grosse Fachkräftemangel die Angestellten in den anstehenden Lohnverhandlungen begünstigen?

Daniel Oesch: Die Knappheit an Arbeitskräften ist ein entscheidender Faktor für die Lohnentwicklung. Er ist weitaus wichtiger als der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, der nicht unbedingt mit automatischen Lohnerhöhungen verbunden ist.

Nun ist der inländische Arbeitsmarkt erstmals seit Jahrzehnten ausgetrocknet, es ist viel schwieriger geworden, Arbeitskräfte aus der EU anzulocken, da unsere Nachbarn mit denselben Rekrutierungsschwierigkeiten zu kämpfen haben wie wir. Das Kräfteverhältnis verschiebt sich also zugunsten der Beschäftigten.

Die Inflation ist ein zentrales Thema. Sehen viele Gesamtarbeitsverträge den vollen Teuerungsausgleich vor oder bildet die Uhrenindustrie hier eine Ausnahme?

Es ist eher die Ausnahme. Diese Klausel wurde während der Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahren aus den meisten GAVs gestrichen. Aufgrund der hohen Inflation (4-5%) wollten die Arbeitgeber nicht mehr, dass die Teuerung automatisch ausgeglichen wird.

Die hohe Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Schwächung der Gewerkschaften kam den Arbeitgebern zugute, da sie neue, für sie bessere GAVs aushandeln konnten. Der volle Teuerungsausgleich ist deshalb heute nicht mehr garantiert, wird aber in den meisten GAVs neben dem Produktivitätsanstieg und der wirtschaftlichen Situation als Verhandlungsgegenstand genannt.

Gemäss Prognosen der Credit Suisse könnten die Lohnerhöhungen die Inflation nicht vollständig ausgleichen. Sind die Arbeitnehmer:innen immer die Verlierer:innen?

Nein, historisch gesehen wuchsen die Löhne in der Schweiz schneller als die Teuerung. In den letzten 20 Jahren stiegen die Löhne durchschnittlich um 1,2% pro Jahr, während die Inflation bei 0,5% lag. 2022 ist aufgrund einer Inflationsrate von fast 3% ein spezielles Jahr. Dennoch bleiben die Löhne in der Schweiz im europäischen Vergleich hoch.

Wie laufen Lohnverhandlungen in der Schweiz ab?

Es gibt laut Daniel Oesch drei Modelle:

«Im ersten werden Lohnerhöhungen für eine ganze Branche ausgehandelt, z. B. für das Baugewerbe oder die Uhrenindustrie.

Im zweiten finden die Verhandlungen zwischen der Gewerkschaftsvertretung und der Geschäftsleitung eines Unternehmens statt, z. B. Coop oder SBB.

Im dritten Modell schliesslich finden die Verhandlungen direkt zwischen der Unternehmensleitung und der Personalkommission statt, wie z. B. in der Maschinen- oder Pharmaindustrie. In diesem Rahmen begegnen sich die Verhandlungsteilnehmer:innen jedoch nicht wirklich auf Augenhöhe, da eine Seite stark von der anderen abhängig ist.»

Die Schweiz wird allgemein als ein Land mit einer besonders ausgeprägten Sozialpartnerschaft angesehen. In Wirklichkeit sind aber viele Arbeitnehmer:innen von GAVs ausgeschlossen. Ist dies auch bei diesen Verhandlungen der Fall?

Es stimmt, dass die Sozialpartnerschaft in den meisten Nachbarstaaten stärker ausgeprägt ist, sei es in Deutschland, Österreich oder Italien. In Frankreich hingegen spielt sie eine geringere Rolle, was auf die zentrale Bedeutung des Mindestlohns zurückzuführen ist. Die Hälfte der Schweizer Arbeitnehmer:innen unterliegt keinem GAV und ist deshalb de facto von den Lohnverhandlungen ausgeschlossen.

Diese Personen profitieren aber in der Regel von der Sogwirkung der Verhandlungen, die in anderen Unternehmen der Branche stattfinden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn sich die Sozialpartner:innen auf Lohnerhöhungen im Einzelhandel einigen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Aldi und Lidl, die keinen GAV haben, diese Erhöhungen übernehmen, um als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben.

In einigen Berufen, die es gewohnt sind, sich zu mobilisieren, wird das Kräftemessen stärker. Die Maurer riefen für den 7. und 8. November zu Protestaktionen auf. Werden sich die Fronten weiter verhärten?

Aufgrund der unsicheren Konjunkturentwicklung ist es sehr schwierig, Prognosen aufzustellen. Aber wenn die Inflation anhält und der Arbeitskräftemangel nicht behoben wird, könnte es tatsächlich zu mehr Protesten kommen. Dies ist eine gute Nachricht für die Gewerkschaften, die dadurch an Einfluss gewinnen könnten.

In den letzten Jahren haben die Unternehmen das günstige Kräfteverhältnis genutzt, um den Anteil individueller Lohnerhöhungen auf Kosten kollektiver Lohnerhöhungen zu vergrössern. Diese ungleiche Verteilung ist in der angekündigten Gesamterhöhung der Lohnsumme nicht sichtbar.

Wenn man für alle die gleiche Lohnerhöhung fordert – so wie es beispielsweise die Gewerkschaften in der Baubranche tun, indem sie für jeden Arbeiter 200 Franken mehr pro Monat verlangen – begünstigt man die Geringverdiener, da sie eine proportional höhere Lohnerhöhung erhalten. Diese Art von Forderungen könnte in Zukunft an Bedeutung gewinnen.

Wie steht es um die Sozialpartner:innenschaft in der Schweiz angesichts der zunehmenden «Uberisierung» der Arbeitswelt und der Individualisierung der Gesellschaft?

Ziemlich gut, würde ich sagen. In vielen Unternehmen treffen sich die Sozialpartner:innen regelmässig und versuchen, konstruktive Lösungen zu finden. Auch in vielen anderen Bereichen wie der beruflichen Vorsorge, der Arbeitslosenversicherung oder der Berufsbildung wird die Sozialpartnerschaft gelebt.

Dieses dezentrale System ist ziemlich leistungsfähig. Es ist hervorzuheben, dass es auch für Arbeitgeber:innen von Interesse ist, über legitime Ansprechpartner:innen zu verfügen –besonders in Krisensituationen. Dies zeigte sich zu Beginn der Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020, als der Bundesrat mit den Sozialpartner:innen den Plan zur wirtschaftlichen Unterstützung der vom «Lockdown» betroffenen Unternehmen und Angestellten aushandelte. 

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Guillaume Pousaz

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Genfer Guillaume Pousaz, Gründer von Checkout.com, besitzt ein Vermögen von 23 Milliarden US-Dollar. Porträt eines sehr diskreten Geschäftsmanns.

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Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer

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