Als Bündner Zuckerbäcker Norditalien eroberten
Zwei in der Lombardei berühmte Süssigkeiten – die Torta Helvetia und Anello di Monaco, ein Vorgänger des Panetones – wurden vor zweihundert Jahren von einer aus dem Graubünden ausgewanderten Bäcker-Familie erfunden.
Zahlreiche Schweizer Zuckerbäcker:innen liessen sich ab Ende des 18. Jahrhunderts in der norditalienischen Stadt Mantua nieder. Sie stiegen aus den Graubündner Dörfern hinab, hatten Geld und Geschäftspläne. In kurzer Zeit fügte ihre Anwesenheit der bereits umfangreichen Liste der Süssigkeiten der Stadt weitere Kreationen hinzu. Eine echte «süsse Welle», die die Stadt in der Poebene, die dank der Renaissance-Experimente des Gonzaga-Hofes bereits eine der europäischen Hauptstädte der Süsswarenherstellung war, weiter bereicherte.
Nachnamen wie Braun, Brazer, Rüedi, Schumacher und Schwarz begannen, die Bevölkerungsregister zu füllen. Letztlich wurden 54 Schweizer Familien gezählt, die fast alle in der Lebensmittelindustrie tätig waren. Einige arbeiteten als Bäcker und Confiseurinnen, andere handelten mit Kaffee und Spirituosen. Die meisten produzierten und verkauften Süssigkeiten.
Die Putscher-Legende
So auch die Familie Putscher, die 1798 nach Mantua kam. Die Familie stammte aus Sufers, einem kleinen Bündner Dorf am Hinterrhein. Im Herzen von Mantua eröffneten sie eine historische Konditorei. Samson Putscher übergab den Stab bald an seinen Sohn Adolf. Und Adolf an Antonio. Von Letzterem stammen zwei Rezepte, die noch heute in der Mantuaer Konditortradition lebendig sind: die Torta Helvetia (Helvetia-Torte) und der Anello di Monaco (Ring von Monaco).
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Der Erfolg war unmittelbar und überwältigend. So sehr, dass einige der Mitarbeitenden der Putschers, so etwa die Familie von Hans Rüuh, später beschlossen, sich selbständig zu machen und ihre eigene Konditorei in der nahe gelegenen Via degli Orefici zu eröffnen.
«Torta Helvetia», die Königin der Poebene
Die Torta Helvetia wurde Anfang des 19. Jahrhunderts geboren. Antonio besann sich auf die mitteleuropäische Tradition und brachte Butter, Sahne und einige gebrannte Wasser mit, die von weit her kommen, wie zum Beispiel Rum. In Mantua stiess er jedoch auf neue und spannende Zutaten, die aus lokalen Produkten gewonnen wurden. Zum Beispiel die in der Region weit verbreiten Mandeln und Eier.
Das Ergebnis: Drei Amaretto-Scheiben, die aus mit Puderzucker vermischtem Mandelgranulat und Eischnee hergestellt werden. Dazwischen die Füllung aus in Rum getränkter Buttercreme und Zabaglione, einem der exklusivsten Rezepte des Hofes Gonzaga. Mandeln garnieren das ganze.
Das Rezept mauserte sich schnell zu einer der beliebtesten Nachspeisen Mantuas. Vom Landwirtschaftsministerium wurde das Dessert in die Liste der traditionellen italienischen Agrar- und Ernährungsprodukte (PAT) aufgenommen.
Professor Giancarlo Malacarne, Historiker und Direktor der Kulturzeitschrift Civiltà mantovana, der in seinem Buch Rituali e ricette della tradizione dolciaria mantovana (Rituale und Rezepte der mantuanischen Süsswarentradition) ausführlich darüber geschrieben hat, bekräftigt: «In der Schweiz gibt es nichts Vergleichbares zur Helvetia-Torte.»
«Sowohl die Torta Helvetia als auch der Anello di Monaco haben Namen, die uns weit weg führen. Aber sie sind auch und vor allem Kinder des Gebiets und der regionalen Produkte», sagt Malacarne.
«Anello di Monaco», der Panettone der Mantuaner
Die Region Mantua kennt viele lokale Spezialitäten internationalen Ursprungs: Die Torta greca (Griechischer Kuchen) ist höchstwahrscheinlich jüdischen Ursprungs. Die Torta belga (Belgischer Kuchen) wird oft als «Pudding» bezeichnet – aber das ist sie nicht. Was sie dagegen ist: Sehr mantuanisch.
Anders der Fall des Anelle di Monaco (Münchner Ring), der von Antonio Putscher geschaffen wurde. Das Gebäck ähnelt sehr dem in der Schweiz bestens bekannten Gugelhopf, der in der ganzen Region von Bayern bis zum Elsass, aber auch in Polen gerne verzehrt wird.
Die Putschers und Rüuhs haben das Rezept leicht überarbeitet und die Oberfläche mit dem charakteristischen weissen Zuckerguss aus Puderzucker und Wasser glasiert.
In kurzer Zeit wurde aus dem Münchner Ring der Panettone, bis heute der beliebteste italienische Weihnachtskuchen.
Zwischen Mythos und Zukunft
Die historische Konditorei Putscher schloss 1922 ihre Türen. Das «Rüuh’s» wurde 25 Jahre später geschlossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben von den Bündner Zuckerbäckereien in Mantua nur noch der Mythos und die Rezepte übrig, die zunehmend von kommerziellen Experimenten verwässert werden.
«Schokolade oder Marmelade in Helvetia-Kuchen zu geben, kann legitim sein. Aber es ist nicht mehr das Originalrezept», sagt Giovanni Comparini, den alle nur «Gianni» nennen und der einer der wenigen Konditor:innen ist, die dem Putscher-Rezept der Torta Helvetia noch originalgetreu folgen. Seine erste solche machte Gianni vor 60 Jahren, als er noch ein Junge war. In wenigen Monaten wird seine Konditorei «La Tur dal Sucar», in der zentralen Via San Longino, 50 Jahre alt. «Ich habe mehrere Junge , die mit mir arbeiten, und solange sie da sind, werden diese Traditionen wahrscheinlich nicht verschwinden», sagt er.
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