Die erste Professorin der ETH war eine Architektin: Flora Ruchat-Roncati
Die Architekturszene südlich der Alpen erlangte in den 1970er-Jahren internationale Berühmtheit: Wie die Karriere von Baukünstlern wie Luigi Snozzi, Mario Botta, Aurelio Galfetti und Livio Vacchini begann auch die von Flora Ruchat-Roncati im Tessin.
Die erste Frau, die von der ETH zur Professorin ernannt wurde, war eine Architektin. Dis ist erstaunlich, denn die Architektur gilt bis heute bei vielen als beständige Männerbastion.
Mit Sicherheit war das auch 1985 noch der Fall, als Flora Ruchat-Roncati (1937–2012) an der der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) eine Professur verliehen wurde.
Viele ihrer Bauten entstanden in unterschiedlichen Kooperationen und Zusammenschlüssen mit anderen Berufsleuten, zur Mehrheit Männer. Viele halten das «Bagno di Bellinzona» aus dem Jahr 1970, das sie gemeinsam mit Aurelio Galfetti und Ivo Trümpy erschaffen hat, gilt vielen als ihr Hauptwerk.
Andere verweisen auf die in den 1990ern gemeinsam mit Renato Salvi entwickelten Autobahnportale, die wie Skulpturen erhaben aus der Landschaft ragen.
Für wiederum andere liegt der Höhepunkt von Ruchat-Roncatis Schaffen in den frühen Bauten, so der Kindergarten und die Schule in Riva San Vitale, wo sie in einem verfallenen und von ihr restauriertem Gutshof ein Zuhause für sich, ihre Familie, befreundete Künstlerinnen, Architekten und Schriftstellerinnen einrichtete. Ab 1971 installierte sie dort zudem ihr Büro.
Mehr als Le Corbusier
Unsere Sommerserie porträtiert einflussreiche und verquere Schweizer Architekt:innen der letzten hundert Jahre. Wie haben sie prägend über den Raum nachgedacht? Wo auf der Welt haben sie Spuren hinterlassen? Und: Welche Bauten beeindrucken uns noch heute?
Auch das kleine Bootshaus in Brusino am Luganersee, dass sie als junge Architektin für ihre Eltern gebaut hat, kann es durchaus mit Le Corbusiers Haus für dessen Mutter am Genfersee aufnehmen.
Nur hat das Gebäude, bestechend elegant und doch schlicht, bisher keine solche Aufmerksamkeit erhalten. Diese Lücke füllte kürzlich die italienischsprachige Publikation „Una casa sul lago“ von Nicola Navone und Anna Ruchat.
Flora Ruchat-Roncatis Lebenswerk wurde kürzlich in einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt aufgearbeitetExterner Link, bald wird daraus auch ein Buch, das 2024 im «gta-Verlag» erscheinen wird.
Dass Ruchat-Roncati eine volle Professur erhielt, war nicht nur für die ETH Zürich ein grosser Schritt, sondern auch für sie selbst ein Karrieresprung. Sie fühlte sich der Institution verbunden, hatte dort ihr Studium absolviert und lange als Gastdozentin unterrichtet. Ihr erster Ehemann, der kurz nach der Geburt der ersten Tochter tödlich verunfallte Ingenieur André Ruchat, war für sein Studium mit ihr nach Zürich gekommen.
Zwischen Landschaft und Moderne
Doch nicht alle feierten mit ihr: Die Tessiner Herrenschar nahm es der zarten Frau mitunter übel, dass sie sie im Wettbewerb um den begehrten Posten ausgestochen hatte. Schliesslich war sie nur eine unter vielen, die Bellinzona und auch viele der kleineren Tessiner Gemeinden in den 1970er-Jahren für eine eigenwillige und doch körperhafte Architektur bekannt gemacht hatten.
Den regionalen Traditionen und gleichzeitig der Moderne verpflichtet, konnten die Tessiner Baukünstler:innen diese scheinbaren Gegensätze dank einem starken Bezug zur Landschaft vereinbaren. Kompromisslos und doch sensibel legen sich die Bauten in ihre jeweiligen Umgebungen. Selbstbewusst präsentierten ihre Entwerfer:innen die Ideen.
Überrascht reagierte die Architekturkritik. Die Tessiner Architektenwelt war bis anhin eine periphere Angelegenheit gewesen, nun schaute alle Welt dorthin.
Der Schweizer Architekturtheoretiker Martin Steinmann (1942–2022) fasste die florierende Architekturszene südlich der Schweizer Alpen 1975 im Rahmen eines Ausstellungsprojekts als «Tessiner Schule» zusammen und schrieb damit Geschichte.
Obwohl die Kooperationen der unterschiedlich geprägten, mitunter eigensinnigen Charaktere selten lange währten und sich auch kein gemeinsamer Stil herausbildete, hielt sich die prägnant formulierte Idee einer «Tessiner Schule» jahrzehntelang im kulturellen Gedächtnis.
1996 erhielt sie mit der Gründung der Accademia di Architettura di Mendrisio weiteren Auftrieb. Bis anhin nämlich mussten die Menschen aus der Südschweiz für ein Architekturstudium an die Hochschulen in Mailand, Lausanne, Genf oder Zürich verreisen und das anspruchsvolle Studium im Inland in einer fremden Sprache absolvieren.
Gegründet hat die Accademia di Architettura der jüngere Mario Botta (*1943), der kürzlich seinen achtzigsten Geburtstag feierte. Nicht nur mit Bauten in aller Welt, von der Cappella Santa Maria degli Angeli auf dem Monte Ceneri bis zum Museum of Modern Art in San Francisco, auch mit der Gründung der Tessiner Architekturhochschule hat er sich einen Namen gemacht.
Auf der Liste der dort unterrichtenden Baukünstler:innen finden sich viele berühmte, internationale Namen. Während vieler Jahre unterrichtete auch der in New York ansässige, britische Architekturtheoretiker Kenneth Frampton (*1930) in Mendrisio.
Er fasste die Tessiner Bauwerke unter dem von ihm geprägten Begriff des «Kritischen Regionalismus» zusammen und verlieh ihnen so, nach Steinmanns «Tessiner Schule», einen zweiten, nachhaltig wirksamen theoretischen Unterbau.
Erster Studiendirektor der Accademia war Aurelio Galfetti, der als junger Architekt gemeinsam mit Flora Ruchat-Roncati und Ivo Trümpy 1967 den Wettbewerb für die Badeanlage in Bellinzona gewonnen hatte. Das Bagno in Bellinzona wird von vielen als Initialzündung für die so genannte Tessiner Schule betrachtet.
Es ist nicht wirklich ein Gebäude, sondern vielmehr ein langer Balken, der sich am Stadtrand von Bellinzona in die Talebene des Flusses Ticino legt. Das Gebäude formt selbst eine Landschaft aus Wegen, Verbindungen, Aufenthaltsbereichen und Wasserbecken und ist weniger Objekt als Geste, Aufforderung und eben: eine Verbindung.
Inspiration und Ausflugsziel
Am rückseitigen Hang des Bagno di Bellinzona erhebt sich die Landschaft in Richtung der Alpen. Dort steht, direkt angrenzend an die Stadt Bellinzona, im Dorf Monte Carasso ein zweites wichtiges Werk der Tessiner Architektur, das exemplarisch den Gegensatz von traditioneller und moderner Architektur überwindet.
Das dortige Augustinerkloster aus dem 15. Jahrhundert hat der Architekt Luigi Snozzi (1932–2020) in Etappen so zu einer Primarschule umgebaut, dass der rohe Beton der Ergänzungen und das alte Mauerwerk von Kloster und Kirche ein harmonisches Ganzes bilden.
Snozzi hat mit seinen Planungen und Häusern in Monte Carasso massgeblich dazu beigetragen, dass das Dorf 1993 den Wakkerpreis Externer Linkerhielt, die prominenteste Schweizer Auszeichnung für eine dem Zeitgeist entsprechende, qualitätsbewusste SiedlungsentwicklungExterner Link.
Gelobt wurde schon vor dreissig Jahren die umsichtige Verdichtung innerhalb der historischen Bausubstanz des Ortes mit neuen, den heutigen Bedürfnissen entsprechenden Gebäuden. Diese Verdichtung geht weiter, und auch die berühmte Anlage der Augustinerschule wurde 2009, sogar von Snozzi selbst, mit einem parallel zur Kirchenmauer über archäologische Reste positionierten, aufgestemmten Trakt weiter ergänzt.
Die Tessiner Architektur bietet sich vielen als Inspiration und auch als Ausflugsziel an. Es gibt eine Vielfalt an vom Kontext inspirierten Bauwerken von Persönlichkeiten wie Luigi Snozzi und Flora Ruchat-Roncati (die auch die Autorin dieses Texts einst als Professorin, Architektin und MentorinExterner Link prägte).
Weiter gibt es die rationalistische, zuweilen strengere Formengewalt von Entwerfern wie Livio Vacchini (1933–2007) oder Mario Botta, um nur einige der vielen Charaktere der virulenten Architektengeneration zu nennen.
Nur noch wenige der ersten Generation dieser einst als «Tessiner Schule» vereinigten Architekt:innen verbleiben als Zeitzeug:innen. Unterdessen haben südlich der Schweizer Alpen bereits zwei Generationen jüngerer Architekt:innen das Feld noch breiter aufgespannt und diverser gemacht.
Die heutigen jungen Tessiner:innen wissen um die herausragenden Figuren der Vergangenheit. Doch jetzt, wo es im Tessin eine eigene Architekturschule, viele berühmte Werke und so auch Baukunst-Schaulustige aus aller Welt gibt, braucht die Tessiner Architektur keinen Mantelbegriff mehr. «Wir sind schlicht zu viele», sagt eine junge Tessiner Architektin. Man könne ihren Berufsstand eben nicht mehr so einfach zusammenfassen.
Sabine von Fischer ist Architektin und Architekturkritikerin. Im Oktober 2023 erscheint eine Auswahl ihrer Texte für die Tagespresse unter dem Titel «Architektur kann mehr. Von Gemeinschaft fördern bis Klimawandel entschleunigen» im Birkhäuser Verlag.
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