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«Die Franzosen wissen nicht, was Macron wirklich denkt»

Keystone / Sarah Meyssonnier / Pool

Wer ist Emmanuel Macron wirklich? In einem neuen Buch zeichnet der Schweizer Politologe und Historiker Joseph de Weck ein Porträt des widersprüchlichen und oft schwer fassbaren Präsidenten Frankreichs.

Die Wiedergeburt Frankreichs und die Rückkehr Europas auf die internationale Bühne – das versprach Emmanuel Macron bei seiner Wahl 2017. Der jüngste Präsident der Fünften Republik spaltet das Land, aber seine Chancen auf eine Wiederwahl sind intakt, sagt Joseph de Weck im Interview mit swissinfo.ch.

Der in Paris lebende Schweizer Politologe und Historiker ist Autor des Buches «Emmanuel Macron. Der revolutionäre PräsidentExterner Link«. Das im Berliner Verlag Weltkiosk erschienene und fast 200 Seiten umfassende Buch soll einem deutschsprachigen Publikum den Zustand Frankreichs anhand seines Präsidenten näherbringen.  

swissinfo.ch: Herr de Weck, Sie widmen, dem «Revolutionspräsidenten» Macron ein ausführliches Buch. Wie sehr fasziniert er Sie?

Joseph de Weck: Abgesehen von seinem klaren Eintreten für die Europäische Union in dem Präsidentschaftswahlkampf 2017, faszinierte mich Macron anfangs wenig. Er präsentierte sich als Verfechter eines dritten Wegs, wollte die Kluft zwischen links und rechts überwinden. Eine Ansage, die vor ihm schon andere Politiker gemacht haben.

Aber ich gebe zu, dass meine Faszination im Laufe der Zeit gewachsen ist. Vier Jahre nach Amtsantritt ist Macron noch immer schwer fassbar. Die Franzosen wissen nicht, was er wirklich denkt. Es ist ein bisschen so wie bei den Deutschen mit Merkel: Auch nach 16 Jahren an der Macht haben es viele schwer, ihre Kanzlerin zu lesen. Das macht die Faszination Merkels als auch Macrons aus.

Joseph de Weck ist Historiker und Politologe und lebt in Paris, wo er 1986 geboren wurde. Heute ist er als Europa-Chef eines Beratungsunternehmens für geopolitische und makroökonomische Risiken tätig. Er ist zudem Fellow des Foreign Policy Research Institute in Philadelphia und schreibt unter anderem als Kolumnist für die Zeitschrift Internationale Politik Quarterly. Im Juni ist sein neues Buch «Emmanuel Macron: Der revolutionäre Präsident» erschienen. Joseph de Weck

Wie wirkt sich Macrons Image auf sein politisches Handeln aus?

In gesellschaftlichen Fragen kann er sehr fortschrittlich sein. Zum Beispiel führte er Gratis-Hygieneartikel für Frauen in Schulen und Gefängnissen ein. Gleichzeitig steht er in der französischen Tradition eines aggressiven Säkularismus, der quer zur neuen identitätspolitischen Denkschule aus den USA steht.

Auf wirtschaftlicher Ebene liberalisierte er den Arbeitsmarkt und senkte die Kapitalsteuern. Doch gleichzeitig erhöht er den Mindestlohn und die Mindestrente noch stärker als sein sozialdemokratischer Vorgänger François Hollande.

Wenn er weder die neoliberale Karikatur ist, die seine Gegner von ihm zeichnen, noch der fortschrittliche Macher, wie manche es gerne hätten – wer ist er dann?

Ich glaube nicht, dass Macron von einer bestimmten Ideologie durchdrungen ist. Er wuchs nach Ende des Kalten Krieges auf. Der Neoliberalismus, der auf den Fall der Mauer folgte, beeindruckte ihn wenig. Im Gegenteil: Als Banker sah er die Schwächen des Finanzkapitalismus aus nächster Nähe. Er ist relativ frei in der Gestaltung seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, und wie ein Technokrat wendet er häufig die von internationalen Organisationen empfohlenen Massnahmen an.

Andererseits hat Macron einen sehr französischen Charakter: Er bettet sein Handeln in konstruierte Erzählungen ein, die stets in der Geschichte der Republik verankert sind. Auch wenn seine Entscheidungen oft eher pragmatisch als revolutionär sind, verkauft er sie in einem ideologisierten Rahmen.

Sie porträtieren eine sehr französische Figur, einen Erben des Etatismus, Elitismus und auch eines gewissen republikanischen Monarchismus. Es ist also nicht wirklich ein Bruch mit seinen Vorgängern?

Nein, ganz und gar nicht. Für Macron steht der Staat im Mittelpunkt, auch wenn er die Wirtschaft in bestimmten Bereichen liberalisiert hat. Auf europäischer Ebene befürwortet er eine klassische staatsorientierte Politik zum Schutz der Bürger. Er befürwortet auch massive Investitionen zur Ankurbelung der Wirtschaft.

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Aber Macron zögert auch nicht, bestimmte Tabus zu brechen. So löste er beispielsweise die von de Gaulle gegründete Eliteschule ENA auf, um eine Ausbildungsstätte für höhere Verwaltungsangestellte aufzubauen, die Quoten für Bewerber aus benachteiligten Schichten vorsieht – in Frankreich ein geradezu subversiver Akt.  

Paradoxerweise war die Abneigung gegenüber einem französischen Präsidenten noch nie so gross wie heute.  

Da bin ich anderer Meinung. Umfragen zufolge befürworten fast 50% der Franzosen Macrons Politik. Bei Nicolas Sarkozy betrug die Popularität 35% und bei Hollande 21% im Vergleichszeitraum. Wir erleben viel mehr eine starke Polarisierung der französischen Politik mit dem Zusammenbruch der Linken und der traditionellen Rechten. Jene, die Macron ablehnen, hassen ihn abgrundtief und zeigen dies auch bei Demonstrationen. Aber die Abneigung ist weniger weit verbreitet.  

«Das Geheimnis der Franzosen ist, dass sie protestieren, aber gehorchen. Wenn die Franzosen überhaupt nicht protestieren und schweigen, ist das ein schlechtes Omen», zitieren Sie den Philosophen Émile-Auguste Chartier. In dieser Hinsicht kann man sagen, dass Macrons Amtszeit ein Erfolg ist!  

Ja, Macron ist präsent in der Debatte, und das wollen die Franzosen. Seine sehr konfrontative Politik entspricht eher der französischen Tradition als die Kompromisspolitik von François Hollande. Im Hinblick auf die Wahlen 2022 muss er nun aber die Wogen etwas glätten.

Bei der Gelbwestenbewegung knickte er ein, wie viele seiner Vorgänger, die das Land reformieren wollten. War Macron zu arrogant?

Macrons Fehler war, dass er die Massnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu Beginn des Mandats vor allem durch die Erhöhung der Kraftstoff-Steuern finanzieren wollte. Dies hätte vor allem die untere Mittelschicht getroffen. Angesichts der Proteste blieb er viel zu lange unnachgiebig.

Aber als er bei der Steuerrevolte der Gelbwesten einlenkte und mit dem «grand débat national» reagierte, erlebten wir den magischen Moment seiner Präsidentschaft: Er verstand, dass die Proteste weit über die wirtschaftliche Frage hinausgingen und dass die Franzosen gehört und verstanden werden wollen. Indem er sich der Kritik stellte und stundenlang mit seinen Bürgern debattierte stillte er den Durst der Franzosen nach demokratischer Teilhabe und konnte somit die Proteste auffangen. Dies mag aus Schweizer Sicht eher seltsam erscheinen, weil die Demokratie hier ganz anders aufgefasst wird.

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Macron wies die Forderungen nach mehr direkter Demokratie, die vor allem von den «gilets jaunes» erschallten, unmissverständlich zurück. «Wir sind ein gewalttätiges Volk, und das seit Jahrhunderten. Frankreich ist nicht die Schweiz», erklärte er, um seine Weigerung zu rechtfertigen, ein Referendums- und Initiativrecht für Bürger einzuführen. Sind Sie mit ihm einverstanden?

Er hat oft mit der Idee eines Referendums in der gaullistischen Tradition gespielt. Doch der Ausgang des Brexit-Referendums in Grossbritannien und die 2016 abgelehnte Verfassungsreform in Italien haben ihn davor abgeschreckt.

Die meisten Franzosen können sich auch nicht vorstellen, ihr politisches System über den Haufen zu werfen. Die französische Gesellschaft ist in der Tat gewalttätig und sieht sich ausgeprägten Gefahren gegenüber, etwa dem Terrorismus. Das privilegiert eine zentrale Macht und eine Politik der starken Hand.

Sie rechnen also nicht damit, dass in Frankreich die Volksinitiative oder das Gesetzesreferendum eingeführt wird?

Im Gespräch äussern Franzosen oft Bewunderung für die direkte Demokratie. Doch ein solches System ist schwierig mit ihren Institutionen und ihrem politischen Denken zu vereinbaren. Frankreichs System beruht eher auf dem Kampf der Ideen als auf der Suche nach Kompromissen. Kompromisse werden von vielen Franzosen als «schmutzig» und Zeichen der «Schwäche» empfunden.

Ausserdem kann man nicht gleichzeitig einen omnipräsenten Machthaber und die Instrumente der direkten Demokratie haben. Der Preis der direkten Demokratie ist eine schwache Regierung, die keine ehrgeizige und proaktive Politik betreiben kann.

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Bleiben wir gleich bei den Verbindungen zur Schweiz: Die Ära Sarkozy (2007-2012) war für die französisch-schweizerischen Beziehungen katastrophal. Diese verbesserten sich während der fünfjährigen Amtszeit von François Hollande (2012-2017) deutlich. Wie würden Sie das Verhältnis unter Macron beschreiben?

Auf der einen Seite hat sich das französisch-schweizerische Verhältnis seit Ende des Steuerstreits beruhigt. Auf der anderen Seite gibt es nicht viele Themen, über die Macron mit der Schweiz sprechen könnte. Für ihn hat die Schaffung einer souveränen EU, welche das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell verteidigt, Priorität.

Er erkannte, dass er sich bei seinem EU-Projekt nicht nur auf Deutschland verlassen kann. Deshalb besuchte er oft die kleinen EU-Staaten, um mit ihnen Koalitionen in Brüssel zu schmieden. Da die Schweiz nicht Teil der EU ist, spielt sie keine Rolle in dieser Debatte zur Zukunft Europas. Somit hat Macron wenig Interesse, neue und starke Beziehungen zur Schweiz zu knüpfen.

Im Februar 2018 bezeichnete Macron den Bundesrat als «Rosinenpicker», als es um die Gespräche mit der EU ging. Wie steht er dazu, dass die Schweiz das Rahmenabkommen gekippt hat?

Dies ist sicherlich kein gutes Zeichen für die französisch-schweizerischen Beziehungen. Macron nimmt mehr oder weniger die gleiche Position wie Brüssel ein. Er wird deshalb gegenüber der Schweiz unnachgiebig sein.

Letzte Frage: Wie schätzen Sie Macrons Chancen auf eine Wiederwahl im kommenden Frühjahr ein?

In einem Land, das seine Präsidenten gerne abwählt, hat es jeder amtierende Präsident schwierig. Aber Macrons Chancen stehen recht gut. Ein Viertel der Franzosen ist von seinem Handeln überzeugt und will ihn im ersten Wahlgang wählen. Die Linke ist nicht in der Lage, sich um einen Kandidaten zu scharen. Bei den Rechten fehlt die Dynamik.

Das wahrscheinlichste Szenario ist ein neues Duell zwischen Macron und der rechtsextremen Kandidatin Marine Le Pen im zweiten Wahlgang. Und in diesem Fall wird es für Le Pen sehr schwierig sein, die Mehrheit zu holen.

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