Die «Freunde der Schweiz» werden überschätzt
Die Schweiz hat sich in den Beziehungen zur EU in die Sackgasse manövriert, auch weil sie ihre Strategie nie geändert und Verschiebungen im Machtgefüge der EU ignoriert hat. Jetzt reist Bundesrat Ignazio Cassis nach Brüssel. Eine Analyse.
Die Schweiz ist in der EU als Rosinenpickerin bekannt. Sie will am Binnenmarkt teilnehmen, politisch und rechtlich aber möglichst unabhängig bleiben. Im Mai 2021 hat die Schweizer Regierung die Verhandlungen mit der EU zu einem Rahmenabkommen abgebrochen. Jetzt versucht sie, gute Stimmung zu machen. Man verlässt sich darauf, dass sich schon noch alles einrenken wird.
Bundesrat Ignazio Cassis reist am 15. November nach Brüssel zu einem Treffen mit dem neuen EU-Ansprechpartner der Schweiz, Maros Sefcovic, Vize-Präsident der EU-Kommission. Ziel ist – nebst dem Kennenlernen –, gemeinsam eine Standortbestimmung vorzunehmen.
«Der Bundesrat hat sich beim Entscheid zum Rahmenabkommen an die traditionelle Europapolitik der Schweiz gehalten, die darin besteht, sowohl den Fünfer als auch das Weggli haben zu wollen», sagt der Schweizer Historiker Bastien Nançoz, der ein Buch über die Freundschaft des früheren französischen Staatspräsidenten François Mitterrand zur Schweiz geschrieben hat.
Nach der Finanzkrise, dem Brexit und den aktuellen Spannungen mit Polen und Ungarn sei Brüssel jedoch weniger geneigt, Forderungen aus Bern nachzugeben.
Anders gesagt: Die EU will keine Rosinenpickerei mehr dulden, die EU-Kommission tritt gegenüber der Schweiz konsequenter auf. «Hätte es den Brexit nicht gegeben, hätte man gegenüber der Schweiz eher ein Auge zugedrückt», meint auch Fabio Wasserfallen, Professor für Europäische Politik an der Universität Bern. Jetzt sei die EU sogar bereit, wirtschaftliche Nachteile in Kauf zu nehmen, um sicherzustellen, dass ihre Prinzipien eingehalten würden.
Rolle von Österreich und Deutschland wird überschätzt
Nicht alle EU-Mitgliedsländer stehen in gleichem Masse hinter dem härteren Kurs der EU-Kommission. Für die Grenzländer Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien steht mehr auf dem Spiel als für andere EU-Mitgliedsstaaten. Sie haben gewichtige Eigeninteressen an geordneten Beziehungen zur Schweiz, ihre Wirtschaft und Infrasruktur (Stromnetz) sind eng mit der Schweiz verflochten. Dazu kommen die zahlreichen Grenzgänger:innen.
Vor allem Österreich und Deutschland wünschen sich bessere Beziehungen und wären zu Kompromissen bereit. Das deutsche Bundeswirtschaftsministerium schreibt auf Anfrage von SWI swissinfo.ch, die Bundesregierung habe sich intensiv für eine Fortsetzung der Gespräche eingesetzt. Die EU-Kommission lehnte Nachverhandlungen bekanntlich ab.
Wasserfallen relativiert: «Deutschland und Österreich gelten zwar schon seit Längerem als ‹Freunde der Schweiz›, aber diese Rolle wird in der Schweiz überschätzt.» Vieles sei nur für die Galerie, also öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt, ohne reale Folgen.
Direkter Draht funktioniert nicht mehr
Laut Wasserfallen hat sich die Schweiz in der Vergangenheit auf die Hilfe ihrer Nachbarländer verlassen und den direkten Draht nach Berlin und Paris genutzt, um ihre Wünsche in Brüssel durchzusetzen. Auch nach dem Scheitern des Rahmenvertrags setze die Schweiz ihre Hoffnungen in diese nachbarschaftliche Hilfe.
Doch diese Methode, die EU-Mitgliedsländer gegen Brüssel auszuspielen, basiert laut Wasserfallen auf einem veralteten Bild der EU. «Die Schweiz hat noch zu wenig realisiert, dass die Stellung der EU-Kommission seit der EU-Erweiterung stärker geworden ist.» Für die Schweiz bedeute das: «Der direkte Draht nach Berlin, Rom, Paris oder Wien hat an Bedeutung verloren.»
Auch eine zweite Entwicklung hat die Schweiz laut Wasserfallen verschlafen: «Nach diversen Krisen und dem Brexit hat die EU das Mandat der EU-Kommission geschärft, was sie als Exekutive gestärkt hat. Das bedeutet: Die Kommission hat neu klare Handlungsanweisungen, was die Schweiz nicht richtig mitbekommen hat.» Bei der Aushandlung der Bilateralen I sei das Spielfeld noch flexibler gewesen. «Mein Eindruck war, dass die Schweiz weitermachen wollte wie bisher.»
Eine ähnliche Einschätzung liefert Historiker Bastien Nançoz: Die traditionelle Schweizer Strategie der direkten Kontakte und Verhandlungen mit Paris und Berlin sei beim Rahmenabkommen nicht so erfolgreich gewesen wie erwartet. «Die deutsch-französische Partnerschaft hat in den letzten Jahren in der EU viel von ihrer treibenden Kraft verloren. Die Zeiten, in denen Frankreich und Deutschland das Tempo des europäischen Aufbaus diktierten, sind längst vorbei.»
Es kann nur schlimmer werden
Im Moment ändert sich in den Nachbarländern der Schweiz einiges: Der österreichische Kanzler und «Schweiz-Freund» Sebastian Kurz ist zurückgetreten, in Deutschland formiert sich eine neue Regierung ohne Affinität zur SchweizExterner Link und in Frankreich stehen nächstes Jahr Präsidentschaftswahlen an.
«Die europäischen Staatsoberhäupter haben im Moment Besseres zu tun, als sich für die Schweiz einzusetzen», sagt Nançoz. «Paris und Berlin werden sicherlich erst nach den französischen Präsidentschaftswahlen im April 2022 über eine Wiederaufnahme ihrer Partnerschaft nachdenken.»
Die EU hingegen äussert sich voraussichtlich bereits in ein paar Wochen über das «Wie weiter» mit der Schweiz. Auf die Hilfe ihrer «besten Freunde» hätte die Schweiz besser nicht zählen sollen.
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