Die Krux mit der Baumwolle ohne Zwangsarbeit
Die Schweiz ist einer der wichtigsten Handelsplätze für Baumwolle. Die Debatte über Zwangsarbeit in internationalen Lieferketten rückt den Rohstoff in den Fokus. Die Zustände in der chinesische Provinz Xinjiang sind dabei nicht das einzige Problem.
Um die Problematik zu verstehen, hilft ein Blick zurück: Im Oktober 2010 kam der Fall UsbekistanExterner Link vor die Schlichtungsstelle des Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Drei Schweizer Rohstoffhändler wurden beschuldigt, Baumwolle von staatlichen Händlern zu beziehen, die Kinder im grossen Stil zur Arbeit auf den Feldern zwingen würden. Die Firmen stimmten mit der beschwerdeführenden NGO übereinExterner Link, dass in der Ernte ein signifikantes Problem bestand.
Politischer Wille entscheidend
Die Debatte vor der Schlichtungsstelle drehte sich darum, wann Unternehmen ihre Geschäftsbeziehungen abbrechen müssen, und wann sie vor Ort eine langwierige Transformation unterstützen sollen. Schliesslich kam es zu einer Einigung zwischen der NGO und den Schweizer Baumwollhändlern: Die Firmen würden weiterhin mit der usbekischen Regierung zusammenarbeiten und gemeinsam mit anderen Akteuren darauf hinwirken, die Zwangsarbeit zu stoppen. Die Parteien befandenExterner Link, dass eine Untersuchung durch die internationale Arbeiterorganisation (ILO) wünschenswert sei.
Mehr als ein Jahrzehnt später, im März 2022, meldete die ILOExterner Link, dass es in der Baumwollernte in Usbekistan keine systematische Zwangsarbeit mehr gebe. Der Reformprozess habe gefruchtet, zwei Millionen Kinder und eine halbe Million Erwachsene seien dem System entkommen. «Usbekistan hat nun die Möglichkeit, sein Ziel zu verwirklichen, in der Wertschöpfungskette nach oben zu rücken und Millionen von menschenwürdigen Vollzeitarbeitsplätzen in der Textil- und Bekleidungsherstellung zu schaffen,» erklärte der damalige ILO-Generaldirektor Guy Ryder.
Wie es zum Erfolg kam, zeichnetExterner Link die internationale Cotton Campaign nach, die mit ihrem Uzbek Cotton PledgeExterner Link Firmen aufgefordert hatte, sich aus Usbekistan zurückzuziehen: Unter dem Druck des internationalen Boykotts habe die usbekische Regierung 2014 aufgehört, Kinder zur Erntearbeit zu zwingen. Die Zwangsarbeit unter Erwachsenen sei dafür schlimmer geworden. Erst der neue Präsident Shavkat Mirziyoyev habe 2017 ein ambitioniertes Reformprogramm gestartet, um das Land von der Planwirtschaft wegzuführen. Der staatliche Zwang zur Erntearbeit endete. Zwangsarbeit wurde kriminalisiert. Einzelne Fälle gebe es immer noch, schreibtExterner Link die Cotton Campaign. Dennoch hob sie am 10. März 2022 ihren Aufruf zum Boykott usbekischer Baumwolle auf.
Zwischen Rückzug und Reform
Anderswo stellt sich Unternehmen erneut die Frage, ob sie gehen oder bleiben sollen: In Myanmar zum Beispiel putschte sich im Februar 2021 das Militär an die Macht und unterdrückte die darauffolgenden Proteste mit Gewalt. Noch gibt es unterschiedliche Ansätze, mit der Situation umzugehen.
Internationale Gewerkschaften rufen ausländische Firmen dazu aufExterner Link, sich aus dem Land zurückzuziehen. Die Menschenrechtslage mache ethischen Handel unmöglich. Fabriken könnten die Sicherheit ihrer Mitarbeitenden nicht garantierenExterner Link.
Die Schweizer Outdoor-Marke Mammut hat diesen Rat befolgt, wie Adrian Huber, Head of Corporate Responsibility, erklärt: «Wir hatten bis Anfang 2021 Lieferantenbeziehungen in Myanmar. Nach dem Putsch haben wir die laufende Produktion fertiggestellt, aber keine neuen Aufträge mehr vergeben.»
Die Fair Wear Association, auf welche Mammut für die Einhaltung der Arbeitsrechte setzt, begrüsst den Rückzug. Dies entspreche ihrer Empfehlung, schreibtExterner Link die Organisation. Ein Kommentar im Bericht zu Mammut beleuchtet das Dilemma, das mit einer solchen Entscheidung einhergeht: Die Auswirkungen auf die Arbeitnehmenden seien begrenzt gewesen, da es dem Produktionsstandort gelungen sei, andere Aufträge anzuziehen.
Eines der führenden Labels für nachhaltige Baumwolle arbeitet weiterhinExterner Link mit Fabriken in Myanmar. «Aktuell sind die Zertifizierungsstellen immer noch in der Lage, unabhängige Audits in Myanmar durchzuführen,» erklärt eine Sprecherin des Global Organic Textile Standards (GOTS). Die Organisation verlasse sich auf das Urteil der Inspekteur:innen — gut ausgebildete Expert:innen, die mit den lokalen Gegebenheiten vertraut seien.
Hintertüren auch bei Boykott
Bei der chinesischen Region Xinjiang ist der Fall klarer: Nachhaltigkeitslabels ziehen sich zurück. «Alle akkreditierten Zertifizierungsstellen von GOTS haben entschieden, ihre Aktivitäten in Xinjiang einzustellen,» schreibt der Global Organic Textile Standard.
Ganz ausschliessen lassen sich Verbindungen zur Region scheinbar dennoch nicht. Die Fasern zertifiziert GOTS nicht selbstExterner Link. Die Herkunft des Rohmaterials werde auf den Laufscheinen eingetragen und Inspekteur:innen könnten Fasern zurückweisen, wenn sie feststellten, dass beim Anbau Arbeitsrechte verletzt wurden: «Bei Beweisen für schwere Verletzungen müssen die Zertifizierungsstellen verhindern, dass das Material in die Lieferkette von GOTS eintritt,» erklärt eine Sprecherin.
Auf den Anbau von Baumwolle spezialisiert sich eine andere Initiative: Better Cotton mit Sitz in Genf. Fast ein Viertel aller Baumwolle weltweit werde bereits unter diesem Standard hergestellt, heisst esExterner Link auf der Website. Better Cotton kündigte 2020Externer Link an, sich aus Xinjiang zurückzuziehen, weil es nicht mehr möglich sei, glaubwürdige Kontrollen durchzuführen.
Die Organisation arbeitet nach wie vor in zwei anderen Regionen Chinas. Bauern würden dabei unterstützt, sozial und ökologisch nachhaltiger zu produzieren, sagt ein Sprecher. Sobald die Ware die Plantage verlässt, verliert sich aber die Spur der Fasern: «Die Sorgfaltsprüfung der Lieferkette jenseits der Hofgrenze liegt ausserhalb unseres Aufgabenbereichs», schreibt Better Cotton. Ab da könnten verarbeitende Betriebe und Händler:innen die unter dem Better Cotton Standard hergestellte Baumwolle mit konventioneller Ware ersetzen oder mischen. Es sei lediglich garantiert, dass die verkaufte Menge nie grösser sei als die eingekaufte. Better Cotton arbeite aktuell an einer Lösung, um die Wege zwischen Rohfasern und Produkt nachzuzeichnen.
Obligatorische Sorgfaltsprüfung
Der Verband der Schweizer Textilbranche hält die Situation in Xinjiang ebenfalls für inakzeptabel. «Wir sind betroffen von den Berichten über Zwangsarbeit,» erklärt Peter Flückiger, Vorsitzender der Geschäftsleitung von Swiss Textiles.
Seinen Mitgliedern vorschreiben, dass sie sich aus einzelnen Ländern oder Regionen zurückziehen sollen, will der Verband aber nicht. «Es ist die Verantwortung der einzelnen Firmen, mit den Vorlieferanten zu sprechen und herauszufinden, wo die Fasern herkommen,» sagt Flückiger. Diese Risikoabwägung müsse bei den Unternehmen liegen.
«Der wunde Punkt ist, dass weltweit sehr viel Baumwolle aus Xinjiang stammt, die meist schon in China selbst weiterverarbeitet wird.» Schlussendlich könne nur Technologie das Problem lösen, glaubt Flückiger — neue Verfahren, mit denen Fasern auf dem Feld gekennzeichnet werden und die Herkunft von den Endabnehmern mit einem Test festgestellt wird. VerschiedeneExterner LinkAnbieterExterner Link stehen in den Startlöchern, scheinen sich aber noch nicht durchgesetzt zu haben.
Ein Importverbot hält Swiss Textiles nicht für zielführend. «Kein Produkt hat eine Etikette, auf der ‹Made in Xinjiang› draufsteht.» Dass eine Zollbehörde die Herkunftsbestimmung vornehme, mit der schon Zertifizierungsinstitutionen und Firmen Mühe haben, sei impraktikabel, sagt Flückiger.
Stattdessen setzt der Verband auf die Sorgfaltsprüfung. Analog zur Kinderarbeit auch bei Zwangsarbeit eine gesetzliche Pflicht einzuführen, wie sie im Parlament bald diskutiert wird, ergebe Sinn, erklärt Flückiger. Ähnlich sieht es Heiko Schäfer, CEO der Mammut Sports Group: «Mammut unterstützt, dass die Zwangsarbeit in die Sorgfaltsprüfungspflicht einbezogen wird – gemäss der neuen Verordnung über Sorgfaltspflichten und Transparenz.»
Zurückhaltender ist der Verband jener Firmen, die 2010 den Fall Usbekistan verhandelten. Sie unterstütze ihre Mitglieder dabei, die bestehende Schweizer Verordnung umzusetzen und mache keine Empfehlungen zum Umgang mit einzelnen Ländern, schreibt die Swiss Trading and Shipping Association. Dies obwohl rund ein Viertel des weltweiten Baumwollhandels über die Schweiz läuft.
Die Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium des Reporter:innen-Forums SchweizExterner Link.
Editiert von Mark Livingston
Wie sich Firmen für «saubere» Baumwolle engagieren und womit sie zu kämpfen haben, lesen Sie hier, am Beispiel der Schweizer Outdoormarke Mammut:
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