«Die Mobilisierung für die Kriegsopfer in Bangladesch war damals beispiellos»
Am 13. März 1972 anerkannte die Schweiz den neu gegründeten Staat Bangladesch. René Holenstein, der ehemalige Schweizer Botschafter in Dhaka, hat kürzlich ein Buch zu Bangladesch publiziert. Im Interview erzählt er, wie es zur Staatsgründung kam und wie sich das Land seither entwickelt hat.
swissinfo.ch: Das heutige Bangladesch war bis 1971 ein Teil Pakistans. Dies, obschon Pakistan und Bangladesch rund 1700 Kilometer auseinander liegen. Wie kam es dazu?
René Holenstein: Die britische Kolonialherrschaft in Südasien endete 1947 mit der Gründung Indiens und Pakistans als unabhängige Staaten. Pakistan bestand aus Ostpakistan und Westpakistan [Ostpakistan existierte von 1955 bis 1971 im östlichen Teil der historischen Region der Bengalen, dem heutigen Bangladesch; Anm.d.Red.].
Trotz der gemeinsamen islamischen Religion führte die grosse Entfernung zu Spannungen zwischen den beiden Landesteilen und erschwerte nicht nur die staatliche und wirtschaftliche Organisation, sondern auch die Entstehung einer gemeinsamen nationalen Identität.
Als die Zentralregierung in Westpakistan den Wahlsieg der Awami-Liga 1970 nicht anerkannte, eskalierte die Situation. Es folgte ein neunmonatiger Krieg, bei dem laut offiziellen Angaben drei Millionen Menschen ums Leben kamen. Der Krieg endete am 16. Dezember 1971 und Bangladesch erlangte die formelle Unabhängigkeit. Die Schweiz gehörte zu den 50 ersten Staaten, die den neuen Staat anerkannten.
Wie umstritten war diese offizielle Anerkennung in der Schweiz?
Die Schweiz vertrat damals die Interessen von Pakistan in Indien und umgekehrt. Die Schweizer Diplomatie war daher zunächst besorgt, dass dieses sogenannte Schutzmachtmandat durch die Anerkennung Bangladeschs gefährdet sein könnte. Damals herrschte Kalter Krieg, die Amerikaner waren in den Vietnamkrieg verstrickt und auch in der Schweiz gab es Befürchtungen, in Bangladesch könnten Kommunisten die Macht ergreifen.
Angesichts der Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung solidarisierten sich viele Menschen mit Bangladesch. Der ehemalige Beatles-Gitarrist George Harrison und der Musiker Ravi Shankar organisierten ein berühmtes Solidaritätskonzert in New York. Das war der Auftakt zu grosser internationaler Solidarität. Auch in der Schweiz war die Mobilisierung der Öffentlichkeit für die Kriegsopfer in Bangladesch beispiellos. Schweizer Hilfswerke leisteten vor Ort Nothilfe und unterstützten Flüchtlinge, die nach Indien geflohen waren.
Der Staatsgründer Sheikh Mujibur Rahman flog nach dem Krieg zur Erholung nach Genf. In der Schweiz sah er ein Vorbild für den Aufbau seines jungen Staates. Bangladesch sollte ihm zufolge «die Schweiz des Ostens» werden. Inwiefern finden sich Spuren dieser Vision heute noch im Land?
Laut Zeitzeugen war Rahman beeindruckt von der Neutralität und Unabhängigkeit der Schweiz. Ihm schwebte ein säkulares Bangladesch vor, in dem Menschen mit unterschiedlichen Religionen und Ethnien nebeneinander leben.
Bis heute hat die Schweiz in Bangladesch einen unglaublich guten Ruf – was auch auf die langjährige Arbeit des IKRK zurückzuführen ist, das bei der Repatriierung von Bangladeschi und Pakistani nach dem Krieg sehr aktiv war.
Sie beschreiben in ihrem aktuellen Buch Bangladesch als ein Beispiel für geglückte Entwicklungspolitik. Weshalb? Schliesslich gehört das Land bis heute zu der Gruppe der am wenigsten entwickelten Staaten der Welt; fast 40 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze.
Nach dem fürchterlichen Unabhängigkeitskrieg bezeichnete der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Henry Kissinger Bangladesch als «hoffnungslosen Fall». Die Kindersterblichkeit und Armut waren extrem hoch. 70 bis 80% der Menschen konnten weder lesen noch schreiben. Die Geburtenrate lag bei 7 Kindern pro Frau.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Situation komplett verändert: Die Armut wurde beinahe halbiert, die Geburtenrate liegt mit 2,1 ähnlich hoch wie in Staaten Europas, die meisten Kinder gehen zur Schule, und die Reisproduktion hat sich verdreifacht.
Auffallend ist, dass Bangladesch bereits früh von Frauen regiert wurde. Welche Rolle spielten sie bei der Entwicklung?
Sie waren Vorbilder und haben gezeigt, dass Frauen es in dieser Gesellschaft zu etwas bringen können. Zudem trugen sie dazu bei, dass der Staat bereits in den 1990er-Jahren Geld für Einschulungsprogramme, Impfkampagnen und reproduktive Gesundheit ausgab.
Die Stärke der Frauen hat mich tief beeindruckt. Oft arbeiten diese nicht nur auf dem Feld und im Haushalt, sondern engagieren sich auch für das Gemeinwohl. Heute gibt es im Parlament und auf lokaler Ebene eine Quotenregelung. Das ist vorbildlich – auch über die Region hinaus.
Trotzdem sind Frauen in der Politik nach wie vor eine Minderheit, die Gesellschaft ist weiterhin patriarchalisch geprägt und häusliche Gewalt ist ein grosses Problem.
Als Sie Ihren Posten als Botschafter im Sommer 2017 in Dhaka antraten, begann die massenhafte Vertreibung von Rohingyas, einer muslimischen Minderheit, aus dem benachbarten, mehrheitlich buddhistischen Myanmar. Mehr als 700’000 Menschen suchten in Bangladesch Schutz vor dem Genozid durch das burmesische Militär. Wie ging die Bevölkerung damit um?
Die «Willkommenskultur» im traditionell sehr armen Distrikt Cox`s Bazar an der Grenze zu Myanmar war zu Beginn sehr gross. Doch bald lebten in dieser Region mehr Flüchtlinge als Bangladeschi; es gab Konkurrenz um Jobs, die Preise für Lebensmittel stiegen stark und internationale Hilfsgelder flossen vor allem in die Flüchtlingscamps und an der lokalen Bevölkerung vorbei. All das hat zu Spannungen geführt.
Deswegen entschieden wir damals auf der Botschaft, sowohl die lokale Bevölkerung als auch die Flüchtlinge zu unterstützen – konkret mit Ausrüstung und Infrastruktur für das Spital in Cox’s Bazar.
Bangladesch hält bis heute daran fest, dass die Rohingyas nach Myanmar zurückkehren müssen. Zwei Abkommen dafür sind gescheitert und seit dem Militärputsch in Myanmar vom Februar 2021 ist eine Rückkehr noch unwahrscheinlicher geworden. Wie soll es mit den mittlerweile über eine Million Staatenlosen weitergehen?
Die Regierung in Bangladesch hat mehrmals auf die Gefahr hingewiesen, dass die Situation eskalieren könnte.
Bangladesch fühlt sich im Stich gelassen und hat die internationale Gemeinschaft wiederholt aufgefordert, mehr Druck auf Myanmar auszuüben, um eine sichere und langfristige Rückkehr der Rohingya in ihre Heimat zu erwirken. Hier könnte auch die Schweiz eine wichtige Rolle spielen.
Inwiefern?
Es braucht nebst humanitärer Hilfe eine längerfristige Friedensperspektive. Falls die Schweiz dieses Jahr in den UNO-Sicherheitsrat gewählt wird, könnte sie dem Thema auf internationaler Ebene wieder mehr Priorität verleihen und ihre guten Dienste für eine Lösungsfindung anbieten.
Auch im UNO-Menschenrechtsrat könnte sie dem Thema mehr Gewicht geben. Aktive Solidarität und humanitäre Diplomatie sind schliesslich Markenzeichen der Schweiz.
Bangladesch verzeichnete in den letzten Jahren ein unglaubliches Wirtschaftswachstum mit Raten von bis zu acht Prozent vor 2020. Durch die Covid-19-Pandemie fand der Aufschwung jedoch ein jähes Ende. Wie stark war Bangladesch von der Krise betroffen?
Durch die beiden Lockdowns ist die Armut dramatisch gestiegen. Vor allem die Ärmsten der Armen waren betroffen, diejenigen, die im informellen Sektor arbeiten, also die Tagelöhner. Sie wohnen meist in Slums und haben keinen Zugang zu sauberem Wasser.
Die unterbrochenen Lieferketten führten ausserdem dazu, dass viele Textilfabriken ihre Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen haben.
Medizinisch betrachtet, kam Bangladesch besser durch die Pandemie als befürchtet.
Sie kehrten 2020 in die Schweiz zurück und verfolgen die Entwicklung seither von hier aus. Wie blicken Sie persönlich in die Zukunft des 50-jährigen Staates?
Was ich vor Ort erlebt habe, ist eine unglaubliche Widerstandsfähigkeit der Menschen gegenüber Krisen. Die Zuversicht und der Glaube daran, dass es der nächsten Generation besser gehen wird als der eigenen, haben mich tief beeindruckt. Ein solches Gefühl gab es in Europa wahrscheinlich zum letzten Mal nach dem zweiten Weltkrieg.
Obschon die Herausforderungen – gerade auch in Hinblick auf die Klimakrise – riesig sind; ich bin trotz allem sehr optimistisch, was die Zukunft Bangladeschs angeht.
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