Die Schulden der Entwicklungsländer explodieren – und welche Rolle spielt die Schweiz?
Die UNO hat wegen der kritischen Verschuldung der Entwicklungsländer Alarm geschlagen. Die Schweiz hat 39 Millionen Franken bereitgestellt und setzt sich in internationalen Gremien für die Refinanzierung und Umstrukturierung der Schulden ein. Aber reicht das?
Es ist eine indirekte Folge der Covid-Pandemie: Die Schulden der Entwicklungsländer sind explodiert und gefährden fast die Hälfte der Weltbevölkerung.
Die Schweiz kündigte im September 2022 an, ihren jährlichen Beitrag bis 2028 um 39 Millionen Franken zu erhöhen, um den Entwicklungsländern zu helfen. Die Krise könnte die wirtschaftliche Entwicklung in Teilen Afrikas und Südamerikas erheblich gefährden.
Der Beitrag aus der Schweiz, der seit 2017 stetig steigt, kommt zu den über 3 Milliarden Franken hinzu, die die Schweiz jedes Jahr für die öffentliche Entwicklungshilfe bereitstellt. Im Jahr 2021 belief sich diese auf über 3,2 Milliarden Franken.
Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) ist eine der aussenpolitischen Prioritäten der Schweiz für 2021-2024 die «Förderung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums in den Entwicklungsländern durch gute Regierungsführung und starke öffentliche Institutionen».
Der Schweizer Beitrag fällt mit einem Aufruf zusammen, den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) im Oktober letzten Jahres veröffentlicht hat. In einem englischsprachigen Bericht mit dem Titel «Avoiding too little too late»Externer Link (Vermeidung des Zuwenig zu spät) warnte das UNDP vor den katastrophalen Folgen, welche die chronische Überschuldung der ärmsten Länder mit sich bringt.
«Viele Länder leiden unter einer Überschuldung, die sie daran hindert, neue wachstumsfördernde Investitionen zu finanzieren und die dringend benötigten Entwicklungsausgaben zu tätigen», warnt er in dem Dokument.
Die Problematik der Verschuldung von Entwicklungsländern und deren Erlass ist zwar nicht neu, doch das UNDP sowie die NGOs sind alarmiert angesichts des Ausmasses, das durch die Covid-19-Pandemie und den Krieg in der Ukraine noch verschärft wurde. Die Gesamtverschuldung der Entwicklungsländer erreichte 2020 205% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), gegenüber 174% im Jahr 2018.
Der Präsident der Weltbank, David Malpass, warnte seinerseits am 8. Oktober 2022 vor dem Ernst der Lage, indem er ankündigte, dass die Welt vor einer «fünften Schuldenkrise» stehe.
Dominik Gross, Schweizer Experte für internationale Finanzen und Steuerpolitik, und leitender Mitarbeiter der in Bern ansässigen NGO Alliance Sud sagt: «54 Länder können die Zinsen für ihre Schulden nicht mehr bezahlen oder sie nicht mehr aus eigener Kraft zurückzahlen.»
«Ineffektiv und unzureichend»
Als Reaktion auf die neue Krise hatte die Schweiz bereits im Februar 2022 die vorübergehende Aussetzung des Schuldendienstes für 48 Länder unterstützt. Diese Initiative war jedoch unter anderem vom Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen kritisiert worden. Der Vorwurf lautete, sie sei nicht auf die Bedürfnisse der schwächsten Länder zugeschnitten, insbesondere weil sie nur bilaterale Schulden abdeckte und Zugangsbedingungen aufstellte, die einen Teil der Länder ausschliessen würden.
Seit August 2021 beteiligt sich die Schweiz in Partnerschaft mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auch an der Umsetzung der Sonderziehungsrechte (SZR), einem internationalen Währungsinstrument, das die bestehenden offiziellen Reserven der Mitgliedsländer ergänzen soll.
Um die finanzielle Belastung durch Covid-19 zu verringern, hatte der IWF eine allgemeine Zuteilung dieser Rechte in Höhe von 650 Milliarden US-Dollar genehmigt. Da die SZR jedoch in erster Linie an die Mitgliedsländer im Verhältnis zu ihrer IWF-Quote verteilt wurden, flossen nur 275 Mrd. US-Dollar an die Entwicklungsländer.
Das Programm zielte nicht auf die Länder ab, die am dringendsten zusätzliche Reserven benötigten (d.h. die am wenigsten wohlhabenden Länder) und war in diesem Sinne «sehr ineffizient», bedauert Lars Jensen, Ökonom beim UNDP. Ausserdem war seine Umsetzung sehr langsam. Der IWF hatte sich darüber hinaus verpflichtet, zusätzliche Finanzmittel in Höhe von 117 Milliarden US-Dollar für die schwächsten Volkswirtschaften bereitzustellen.
Die Schweiz gehört zu den am wenigsten verschuldeten Ländern der Welt und kann daher ihr Fachwissen einbringen. Sie ist in allen internationalen Gremien vertreten, die sich für die Restrukturierung und den Schuldenerlass von Entwicklungsländern einsetzen. Sie ist Mitglied des Pariser Clubs, der sich mit der Überwindung von Zahlungsschwierigkeiten befasst, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank sowie in verschiedenen Gremien der G20.
Diese verschiedenen Mandate ermöglichen es ihr, direkt auf die Umstrukturierung und den Schuldenerlass Einfluss zu nehmen. Zwar verhandelt sie nie bilateral, aber über das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), ist die Schweiz in den internationalen Institutionen aktiv.
Konkret bedeutet das, dass der Bund «die Partnerregierungen bei der Planung (der Rückzahlung und der Investitionen), der Genehmigung der Budgets und schliesslich bei der Revision gemäss den internationalen Standards unterstützt», erklärt Lorenz Jakob, Informationsbeauftragter im Ressort Wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit des SECO.
Die Schweiz bietet beispielsweise Fahrpläne für die Verwaltung von Budgets an, für die Korruptionseindämmung oder die Festsetzung des Steuerniveaus. Sie unterstützt Länder mit mittlerem Einkommen (MICs) bei der Entwicklung eines Schuldenmanagements und der Risikoanalyse, um ihre Anfälligkeit für finanzielle Schocks zu verringern. Zu den Empfängerländern dieser Programme gehören Albanien, Ägypten, Kolumbien, Ghana, Serbien und Tunesien.
Im September 2020 sponserte die Schweiz unter anderem eine Initiative der Weltbank, die es Ägypten ermöglichen sollte, grüne Staatsanleihen zu emittieren, die als «nachhaltige Finanzlösung» gedacht sind.
Die Schweiz könnte mehr machen
Die Solidarität der Schweiz überzeugt nicht alle. Mehrere Expert:innen und NGOs weisen auf eine gewisse Scheinheiligkeit hin. Das gilt insbesondere für die Appelle gegen die Korruption, zumal in den letzten Jahren eine Reihe von Skandalen aufgedeckt wurden, in die Schweizer Unternehmen in Entwicklungsländern verwickelt waren. Zu nennen sind hier die Fälle der Credit Suisse in MosambikExterner Link, der UBS in Papua-NeuguineaExterner Link oder auch die undurchsichtigen Verbindungen von GlencoreExterner Link, einem internationalen Handelsriesen mit Sitz im Kanton Zug, zum Tschad.
Der Schweiz wird auch ihre geringe finanzielle Beteiligung vorgeworfen. «Angesichts der Rolle der Schweiz als Wohnsitzland wichtiger privater Gläubiger reicht es in ihrem Fall nicht aus, sich mit bescheidenen Beiträgen an den Schuldenerlassprogrammen des IWF oder der Weltbank zu beteiligen», meint Dominik Gross von Alliance Sud.
Ebenso wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) würde er eine stärkere Beteiligung von Privatunternehmen, insbesondere von Banken, erwarten. Letztere profitieren von den Zinsen für die Kredite, die sie an Entwicklungsländer vergeben, ohne sich an der Entwicklungshilfe beteiligen zu müssen.
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Um dieses private Finanzkapital besser zu integrieren, wäre eine seit vielen Jahren diskutierte Lösung, die Schweizer Banken, die Zivilgesellschaft und die staatlichen Entwicklungshilfeagenturen an einen Tisch zu bringen. «So könnten schweizspezifische Lösungen zur Entschuldung dieser Länder ausgehandelt werden», so Dominik Gross. Bereits im Sommer 2020 hatten Alliance SudExterner Link und andere Schweizer NGOsExterner Link, darunter Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas oder Terre des Hommes Schweiz, dem Bundesrat vorgeworfen, dass er trotz mehrerer Vorstösse von Parlamentariern nicht reagiert habe.
Alliance Sud ist auch der Ansicht, dass die Schweiz alle ihre Sonderziehungsrechte (über 11 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021) an überschuldete Länder transferieren könnte, um ihnen Liquidität zu verschaffen. «Sie braucht diese Guthaben nicht», so Dominik Gross. Dies würde jedoch eine Änderung des Währungshilfegesetzes voraussetzen, die nur das Parlament initiieren kann, was derzeit nicht geplant ist.
Warten auf eine globale Lösung
«Wir erwarten eine umfassende Antwort, die dabei hilft, die Blockade der Entwicklungsfinanzierung zu lösen und ihre Langfristigkeit durch privates Kapital in den Entwicklungsländern zu fördern», erklärt Angela Lusigi, UNDP-Vertreterin in Ghana.
Sie schlägt unter anderem eine umfassende Reform des Ratingsystems vor sowie Unterstützung bei der Neuausrichtung der Volkswirtschaften der Entwicklungsländer auf den Export, wodurch sie Devisen zur Schuldentilgung anhäufen könnten.
Jacob, Informationsbeauftragter im Ressort Wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit des SECO: «Die Schweiz unterstützt Schuldenumstrukturierungen für Länder, deren Schulden nicht mehr dauerhaft tragbar sind.»
Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes (DSSI)
Ziel der DSSI, einer 2020 vom IWF und der Weltbank ins Leben gerufenen Initiative, war es, finanzielle Ressourcen bereitzustellen, um die berechtigten Länder bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zu unterstützen. Um an der Initiative teilzunehmen, musste sich das Empfängerland verpflichten, diese Ressourcen zur Deckung der sozialen, gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Ausgaben infolge der Krise zu verwenden.
Initiative für hochverschuldete arme Länder (HIPC)
Diese Initiative wurde 1996 vom IWF und der Weltbank ins Leben gerufen. Sie wurde entwickelt, damit die ärmsten Länder der Welt nicht von ihrer Schuldenlast überrollt werden.
Gemeinsamer Rahmen
Der Gemeinsame Rahmen erwägt die Schuldenbearbeitung von Fall zu Fall auf der Grundlage der Anträge der in Frage kommenden Schuldnerländer. Als Reaktion auf einen Antrag auf Schuldenbehandlung wird ein Gläubigerausschuss einberufen. Die Verhandlungen werden vom IWF und der Weltbank unterstützt, unter anderem durch eine Analyse der Schuldentragfähigkeit.
Analyse der Schuldentragfähigkeit
Die Weltbank und der IWF arbeiten mit Ländern mit niedrigem Steueraufkommen zusammen, um regelmässig die Tragfähigkeit ihrer Schulden zu analysieren. Beide Institutionen nutzen diesen Rahmen, um die Kreditentscheidungen der Länder zu lenken, damit ihr Finanzierungsbedarf und ihre Rückzahlungsfähigkeit in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.
Editiert von Virginie Mangin und Pauline Turuban, ins Deutsche übertragen von Marc Leutenegger
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