Der Schweizer Film: Immer präsent und doch unterm Radar
Zehn Produktionen im Programm und ein Shooting Star-Award für Kasey Mottet Klein: Das Schweizer Filmschaffen war an der 66. Berlinale gut vertreten – wie so oft. Und doch ist es im Bewusstsein der deutschen Filmöffentlichkeit wenig präsent. Eine Ursachenforschung.
Catherine Ann Berger ist zufrieden, sehr zufrieden. «An der Berlinale 2016Externer Link haben wir ein vielseitiges, starkes und auffallend junges Gesicht des Schweizer Films gesehen», freut sich die Direktorin von Swiss Films.
Und in der Tat: Mit Jan Gassmanns «Europe, She Loves» als Eröffnungsfilm der Panorama-Sektion, viel Lob für Tobias’ Nölles «Aloys», dazu Kurz- und Animationsfilmen, Kinder- und Jugendformate, war die Schweiz gut aufgestellt. Im Wettbewerb hielten Shooting Star Kasey Mottet Klein und Regisseur Vincent Perez die Schweizer Fahne hoch.
Die Schweiz an der Berlinale 2016
Zehn Schweizer Produktionen waren an der Berlinale 2016 zu sehen. Jan Gassmanns «Europe, She Loves» über vier Paare an den Rändern Europas kam dabei die Ehre zuteil, die Panorama-Sektion eröffnen zu dürfen. Breit besprochen und oft gelobt wurde die Einzelgänger-Story «Aloys» von Tobias Nölle (ebenfalls Panorama).
Die Reihe «LOLA @Berlinale» zeigte die für den Deutschen Filmpreis vorausgewählten Filme – darunter gleich drei Schweizer Produktionen: «Above and Below» (Nicolas Steiner), «Das Dunkle Gen» (Miriam Jakobs/Gerhard Schick, beide Dokumentarfilm) sowie die aktuelle Heidi-Adaptation von Alain Gsponer mit Bruno Ganz als Alpöhi (Kinderfilm).
Im Wettbewerb überzeugte Ausnahmetalent Kasey Mottet Klein in der Coming-Out-Story «Quand on a 17 ans», während Regisseur Vincent Perez› Fallada-Adaptation «Alone in Berlin» eher kritisch begleitet wurde. Bei der Preisvergabe ging «Quand on a 17 ans» leer aus; Mottet Klein hingegen darf sich mit dem Titel «European Shooting Star» schmücken.
Den Goldenen Bären erhielt der italienische Dokumentarfilm «Fuocoammare» über das Leben eines 12-jährigen Flüchtlingsjungen auf Lampedusa.
Der starke Auftritt an den Berliner Filmfestspielen hat Tradition: Stattliche 221 helvetische Produktionen sind bis heute gezeigt worden. Gleich im ersten Jahr, 1951, gewann Leopold Lindtbergs «Die Vier im Jeep» einen goldenen Bären – den bis heute einzigen für die Eidgenossenschaft. Der noch unbekannte Kurt Früh wirkte als Regieassistent.
1981 war Markus Imhoofs «Das Boot ist voll» das dominierende Gesprächsthema – mit einem Thema, das auch heute mehr als aktuell ist: Die Schweiz verschärft die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge. Am goldenen Bären schlitterte Imhoof knapp vorbei, gewann jedoch einen silbernen für seine «herausragende Einzelleistung» – und fast jeden der vielen weiteren Preise, die ihm Rahmen der Berlinale von unabhängigen Jurys vergeben werden. Zuletzt erhielt den Silbernen Bären Ursula Meiers «L’enfant d’en haut» (2012).
Der Schweizer Film – (k)eine Marke?
Welche Spuren haben diese Filme bei der deutschen Kinoöffentlichkeit hinterlassen? Was für ein Bild haben die Deutschen vom Schweizer Kino? – Auf Stimmenfang bei Filmschaffenden, Fachjournalisten und Berlinale-Fans decken sich die Reaktionen: Immer dauert es ein paar Sekunden, bevor persönliche Highlights genannt werden: Alain Tanner, Dani Levy, Dokumentarisches wie «Sieben Mulden und eine Leiche». Während einzelne Filme und Filmer in Erinnerung bleiben, scheint ein Gesamtbild zu fehlen.
Da ist Miriam aus Hessen, die seit 1998 zur Berlinale kommt. «L’enfant d’en haut» gehört zu ihren All-Time-Favourites – dass der Film eine Schweizer Co-Produktion ist, wusste sie nicht. Da ist Radio-Urgestein Hans-Ulrich Pönack, seit 1969 dabei und ein Mann, dessen Wertungsfreudigkeit ihm einst den Titel «Terminator der deutschen Filmkritik» eingebracht hat: Selbst er muss beim Thema Schweizer Film passen. Filmemacherin Jana Keuchel bringt es auf den Punkt: «Ein österreichischer Film weckt gewisse Erwartungen: Man denkt an Abgründe, einen bestimmten Humor. ‹Der Schweizer Film› ist keine Marke, die solche Assoziationen hervorruft.» Warum ist das so? Hat das Schweizer Filmschaffen in Deutschland ein Wahrnehmungsproblem?
Kai Kolwitz, Kino-Experte beim Berliner Radio FluxFM, begleitet die Berlinale seit 2006. Er wiegelt ab: «Es ist ja nicht so, dass Schweizer Filme in Deutschland nicht gesehen würden. Nur drängt sich oft nicht auf, dass es sich um einen Schweizer Film handelt.» Bei französischen Titeln denke man eben an Frankreich, deutschsprachige können auch aus Österreich kommen. «Wenn der Film gut klingt, ist das Produktionsland nebensächlich.»
Ein weiterer Aspekt: Etliche Schweizer Filmemacher verlassen die Schweiz, um ausländische Filmschulen zu besuchen – oft in einem Alter, in welchem ihr filmisches Schaffen nachhaltig geprägt wird. Schon Alain Tanner und Claude Goretta sammelten in London wichtige Erfahrungen, Jan Gassmann hat in München studiert, Tobias Nölle in New York. «Bei der Rückkehr in die Schweiz bringt jeder seine Schule gewissermassen mit – und damit eine bestimmte Ästhetik», sagt Gassmann. Auch das steht einem einheitlicheren Gesamtbild des Schweizer Films entgegen.
Kai Kolwitz betont aber auch, wie sehr die Wahrnehmung von Produktionsländern in einem Kinomarkt von Einzelpersonen abhängen kann: «Wenn sich ein engagierter deutscher Verleiher in den Schweizer Film verliebt und diesen pusht, kann das hier rasch wie eine Renaissance des Schweizer Films wirken.»
Die Schweiz – filmwirtschaftlich ein Drittland
Doch gerade in diesem Bereich haben Filme aus der Schweiz aktuell mit ganz handfesten Problemen zu kämpfen. Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar 2014 sistierteExterner Link die Europäische Union die Schweizer Teilnahme am MEDIA-AbkommenExterner Link im Rahmen von Creative Europe. Anders gesagt: Die Schweiz ist filmwirtschaftlich gesehen ein Drittland, grenzüberschreitende Förderungen aus europäischen Töpfen sind nicht möglich. Bei der Produktionsförderung kann die Schweiz dies mit Ersatzleistungen teilweise abfedern. Doch die Verleihförderung, mit welcher Anreize für europäische Verleiher geschaffen werden, Filme ausserhalb ihres Produktionslandes zu zeigen, fällt völlig weg. Ein harter Einschnitt.
«Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – er ist aber ziemlich anstrengend geworden»
Jan Gassmann
Das merkt Regisseur Jan Gassmann derzeit ganz direkt: «Europe, She Loves» spielt in Estland, Irland, Griechenland und Spanien und stösst auf Interesse bei Verleihern in ganz Europa. Doch ohne Förderzuschüsse drohen sich viele Optionen zu zerschlagen, nicht jeder ausländische Verleih ist bereit, das grössere Risiko zu tragen. Für Griechenland hat Gassmann gerade einen Partner gefunden: «Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – er ist aber ziemlich anstrengend geworden.»
Vielversprechende junge Generation
Wie weiter? Swiss Films-Chefin Berger ist optimistisch: «Man darf es ja kaum sagen, aber rein für den Schweizer Film sehe ich beim Ausschluss aus dem MEDIA-Programm auch positive Aspekte: Das hat enorme Energien freigesetzt und das Schaffen dieser vielversprechenden jungen Generation politisiert.»
Tatsächlich haben etwa die zehn Regisseure des Schweiz-Untergangsszenarios «HeimatlandExterner Link» (2015), darunter Gassmann und Nölle, ihren Film nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative noch einmal völlig umgekrempelt. «Unsere gemeinsame Empörung», erzählt Gassmann, «hat bei «Heimatland» eine gemeinsame Linie und auch eine Radikalität hineingebracht, die vorher so nicht da war.»
Entsteht da am Ende doch eine verschworene Gruppe, die dem Schweizer Film ein Gesicht mit klareren Konturen geben kann? Jan Gassmann lächelt: «Ein Schweizer Arthouse – warum nicht? Thematisch gibt es definitiv Gemeinsamkeiten, über die man sich finden kann – auch wenn wir cineastisch sehr unterschiedlich bleiben.» Spannende Aussichten, auch für die nächsten Berlinale-Ausgaben. Für die internationale Wahrnehmung würde die Wiederaufnahme ins europäische Fördersystem sicher helfen. Die Schweiz verhandelt.
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