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Die Schweiz, ein Land der Minderheiten

Fünf Menschen im Nationalrat
Vorbereitungen auf die Bundesratsersatzwahlen: Auch die Aufnahmen für die Vereidigung der Neugewählten wollen geübt sein. © Keystone / Alessandro Della Valle

Die Wintersession des Parlaments bot wieder einmal Einblick in das politische Selbstverständnis der Schweiz, wo zwischen Mehrheiten und Minderheiten routiniert der Ausgleich gesucht wird. Ein Rückblick.

Was ist die Schweiz eigentlich für ein Land? Die Parlamentssessionen der Bundesversammlung bieten zuverlässig Anschauungsmaterial, um sich dem Selbstverständnis der Nation anzunähern – und die Doppelwahl für den Bundesrat bot reichlich Stoff für Diskussionen. Mussten doch im Highlight der diesjährigen Wintersession und des Politjahrgangs 2022 gleich zwei Bundesrät:innen ersetzt werden.

Mit Umwelt- und Energieministerin Simonetta Sommaruga (SP) und Finanzminister Ueli Maurer (SVP) verlassen auf Ende Jahr zwei politische Schwergewichte die Regierung. Lange schien die Sache klar: Die Baslerin Eva Herzog und der Berner Albert Rösti würden sie ersetzen.

Die Zauberformel würde respektiert, Sprachen und Regionen würden adäquat in der Schweizer Regierung vertreten sein. Die Sache schien auch darum bereits gelaufen, weil vor den Parlamentswahlen im nächsten Jahr keine grossen Verwerfungen mehr entstehen sollten – keine Partei hat dann Lust auf Retourkutschen.

Es kam anders: Während Rösti den SVP-Sitz unumstritten erhielt, ging der SP-Sitz überraschend an die Jurassierin Elisabeth Baume-Schneider, ländlich geprägt, französischer Muttersprache, Teilzeit-Landwirtin. Und plötzlich diskutierte die politische Schweiz über Intrigen und Foulspiel. Rasch entstand die Theorie, die bürgerliche Mehrheit habe die Linke im Hinblick auf die in einem Jahr anstehenden Wahlen schwächen und sich die wichtigen Departemente sichern wollen.

Tatsache ist: Es finden sich nun gleich zwei Mehrheitsgruppen in der Minderheit im Bundesrat. Die deutschsprachige Bevölkerung und die urbane; denn immerhin ist die Schweiz ihrem touristischen Image zum Trotz ein stark urbanisiertes Land.

In der Romandie und im Tessin nahm man den Vertretungs-Streit entspannt zur Kenntnis, immerhin kennt man die Problematik der Unter-Repräsentation nur zu gut. Und im Jura, dem jüngsten Kanton und ehemalige frankophone Minderheit in Bern, war die Freude verständlicherweise gross.

Als Verliererin fühlte sich nicht nur Eva Herzog – und mit ihr Basel, wo Politiker:innen monierten, die Schweiz hätte etwas gegen die wirtschaftsstarken Städte. Sondern auch der SP-Ständerat mit Bundesratsambitionen Daniel Jositsch, der sein Unverständnis über das reine Frauenticket seiner Partei lautstark kundtat: Als Mann sei er damit diskriminiert worden. Fürs Protokoll: Rein rechnerisch sind Männer die Minderheit in der Geschlechterzusammensetzung der Schweiz.

Dass Jositsch bis zum letzten Wahlgang Stimmen erhielt, jedoch seinen Verzicht auf den Sitz nicht öffentlich kommunizierte, nehmen ihm in seiner Partei manche übel. Gemäss Prognosen dürfte ihn das bei den nächsten Wahlen einholen, auf die er sich als Zürcher Mann Hoffnungen auf den Sitz von Alain Berset machen konnte. Eines ist sicher: Die Bundesratsarithmetik bleibt kompliziert.

Andere Perspektiven

Bei der Antrittsrede des neuen Nationalratspräsidenten Martin Candinas, protokollarisch nun «höchster Schweizer», rückten zuvor gleich zwei weitere Minderheiten in den Fokus: Menschen mit Behinderungen machen etwa ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung aus, Candinas sprach sich für deren bessere Inklusion aus.

Daneben die Rätoroman:innen: Die Rede hielt er abwechselnd auf Rumantsch und Deutsch – für die Parlamentarier:innen ein Primeur, ist es doch das erste Mal seit 37 Jahren, dass ein Vertreter der grössten kleinsten Sprachminderheit auf diesem Posten sitzt.

Im Laufe der dreiwöchigen Session drehten sich zahlreiche weitere Geschäfte um Minderheiten. So etwa der Entscheid des Nationalrats, sogenannte Konversionstherapien an LGBTQ-PersonenExterner Link zu verbieten. Die mediale Aufmerksamkeit, die darum herum entstand, erstaunt nicht, nimmt Identitätspolitik doch generell mehr Raum ein in den öffentlichen Debatten.

Auch Diskussionen um tierische Minderheiten durften nicht fehlen. So ist die Wolfsfrage ein Garant für wiederkehrende Vorstösse im Parlament und für angeregte Diskussionen in den Onlinekommentarspalten. Der Parlamentsentscheid, wonach die Kantone im Herbst und Winter die Wolfspopulationen präventiv regulieren – sprich: Abschussquoten festlegen – können, setzt nun einen vorläufigen Schlusspunkt. In der Schweiz leben geschätzt 150 Wölfe, Tendenz steigend.

Deutlich weniger thematisiert – obwohl mittlerweile ein politischer Dauerbrenner – wurde hingegen eine weitere Minderheit: Ausländer:innen machen in der Schweiz rund ein Viertel der Bevölkerung aus. Politisch haben sie wenig mitzubestimmen, auch wenn viele hier geboren und aufgewachsen sind.

Nun sprach sich der Nationalrat für eine erleichterte Einbürgerung von Ausländer:innen der dritten GenerationExterner Link aus, denn die Einbürgerungsquote sei in der Schweiz mit zwei Prozent im europäischen Vergleich sehr tief. Mehr Bewegung dürfte im nächsten Jahr in die Sache kommen: Verschiedene Vorstösse und eine angekündigte Initiative werden das Thema wieder aufgreifen.

Unterschiedliche Schwerpunkte

Dank einem Vorstoss im Parlament geriet auch eine finanzstarke Branche ins Scheinwerferlicht, über die sonst nicht viel bekannt ist: Die Schweizer Reedereien. Die Schweiz figuriert mittlerweile unter den zehn grössten Schifffahrtsnationen der Welt. Im Parlament führten nun Diskussionen um die sogenannte Tonnage-Steuer zu hitzigen Voten.

Die Frage war: Sollten Reedereien, die von der Schweiz aus operieren, vom Fiskus entlastet werden? Das Vorhaben generiere grosse Steuergeschenke für die internationale Schifffahrt, so die Kritiker:innen, und das ohne erkennbaren Nutzen für den Standort Schweiz.

Während selbst die wirtschaftsfreundliche NZZExterner Link von einem «kuriosen Steuerprivileg» sprach, wurde SP-Co-Präsident Cédric Wermuth deutlicher: Es handle sich entweder um «ökonomischen Dilettantismus», oder um «ökonomisches Sektierertum». Die Bürgerlichen im Nationalrat haben den Entwurf des Bundesrates trotzdem gutgeheissen.

Die Vorlage geht nun an den Ständerat – und die SP hat bereits ein Referendum angekündigt, sollte sie zustande kommen. Die letzten zwei Steuerreferenden hat die Linke, ihrerseits eine Minderheit im Parlament, beim Volk gewonnen.

Externer Inhalt

Ob all der Diskussionen über echte oder angebliche Minderheiten ging medial etwas unter, dass – natürlich – auch Geschäfte diskutiert wurden, die alle Menschen in der Schweiz betreffen.

So die Renten: Als einer der grossen Brocken der Session gelten die Beratungen über die Volksinitiative «Für ein besseres Leben im Alter», die analog zu einem in der Schweiz üblichen 13. Monatslohn eine 13. AHV-Rente fordert. Nach dem Bundesrat lehnt sie auch der Nationalrat ab.

Auch das Budget wird alle Jahre wieder zu dieser Zeit diskutiert – einer der wenigen Punkte, die die Bevölkerung des Landes in ihrer Gänze betrifft. Für dieses Jahr ist es noch ausgeglichen, ab 2023 machen sich allerdings die Ausgaben während der Pandemie und der Krieg in der Ukraine bemerkbar.

Das Parlament hat zum Vorschlag des Bundesrates ein paar Zusatzausgaben beschlossen, auch hier für Minderheiten: So sollen Winzer:innen zusätzlich subventioniert werden sowie auch Landwirt:innen für den Schutz ihrer Schafherden vor – da ist er wieder – dem Wolf.

Was also ist die Schweiz für ein Land? Politisch ist sie nicht nur für Aussenstehende schwer durchschaubar. Man liegt aber wohl nicht falsch, wenn man davon ausgeht, dass – trotz aller Querelen – das politische Personal dem Parlamentspräsidenten Candinas bei seiner EinschätzungExterner Link zustimmen würde: «Das Schweizer System ist nicht perfekt. Aber es ist das Beste, das es weltweit gibt.» Und das sagt vermutlich einiges über das Selbstverständnis eines Landes aus, in dem alle sich mal in einer Minderheitenposition wiederfinden.

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