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«Die Schweiz hat bereits eine Rechtsgrundlage, um russische Gelder für die Ukraine zu verwenden»

Mark Pieth

Darf die Schweiz blockierte Oligarchen-Gelder für den Wiederaufbau der Ukraine verwenden? Ja, schreibt der Strafrechtsprofessor und Antikorruptionsexperte Mark Pieth, und zieht dafür einen Anti-Mafia-Strafartikel heran.

In der vergangenen Woche hat Bundesrat Ignazio Cassis die Schweizer Bankenwelt mit der Aussage erschreckt, die Schweiz könnte blockierte russische Oligarchengelder definitiv einziehen und der Ukraine zum Wiederaufbau übergeben.

Seitdem diskutieren die Schweizer Medien über die rechtlichen Optionen und kommen grösstenteils zum Ergebnis, die Einziehung sei unzulässig, weil sie gegen die Eigentumsgarantie verstosse.

Dabei wird übersehen, dass wir bereits seit 1994 über ein sehr einschneidendes Instrument im Strafgesetzbuch verfügen: Nach Art. 72 StGB werden Vermögenswerte definitiv eingezogen, «welche der Verfügungsmacht einer kriminellen Organisation unterliegen».

Interessant ist dabei die Umkehr der Beweislast in Satz 2: «Bei Vermögenswerten einer Person, die sich an einer kriminellen Organisation beteiligt oder sie unterstützt hat (Art. 260ter), wird die Verfügungsmacht der Organisation bis zum Beweis des Gegenteils vermutet». Es steht ausser Zweifel, dass diese Einziehungsregelung nicht gegen die Eigentumsgarantie verstösst.

Nun ist diese Sondernorm primär für Mafiagelder geschaffen worden. Allerdings vergessen wir, dass das Bundesgericht sie 2005 verwendet hatte, um Nigeria die vom früheren Staatschef Sani Abacha entwendeten Gelder einzuziehen: Sani Abacha wurde vorgeworfen, mit seinen Getreuen eine kriminelle Organisation zur Plünderung des Landes gegründet zu haben. 

Seinen Nachkommen gelang der Nachweis legalen Erwerbs nicht, sodass ein Grossteil der Gelder eingezogen und an die nigerianische Bevölkerung zurückgegeben wurde.

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Nach Schweizer Recht ist es möglich, die eingezogenen Gelder den Personen zukommen zu lassen, die durch die Straftat geschädigt wurden. Falls dies nicht möglich oder von den Opfern nicht gewünscht ist, fallen die eingezogenen Werte in die Schweizer Staatskasse. Die Schweiz ist frei, damit zu machen, was sie will – sie kann die Gelder also auch zum Wiederaufbau der Ukraine nutzen.

Auf Russland bezogen kann man einen Staat, der einen Angriffskrieg lostritt und damit gegen das Völkerrecht verstösst, vorwerfen, dass er ein «Schurkenstaat» sei. Nun ist völkerrechtlich auch ein kriminell handelnder Staat wohl ein Staat, der Immunität geniesst.

Die Pointe des Abacha-Falles aber war, dass Sani Abacha ein kriminelles Regime eingerichtet hatte. Es wäre denkbar, Putin und sein engeres Umfeld als kriminelle Organisation einzustufen. Oligarchen, die die Kriegskasse äufnen, wären in ähnlicher Weise Gehilfen wie die Schergen der Mafia.

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht «Die Haltung der Schweiz erinnert fatal an ihre Rolle während des Zweiten Weltkriegs und bei Südafrikas Apartheid», schreibt Mark Pieth.

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Man beachte, dass Art. 72 StGB die Einziehung nicht der Lust und Laune der Justiz überlässt: Er sagt klar und deutlich «das Gericht verfügt». Art. 72 untersteht dem Legalitätsprinzip.

Selbstverständlich bedarf der Einzelfall weiterer Überprüfung, insbesondere, ob Oligarchen tatsächlich bereit sind, den Krieg zu unterstützen und ob ihre Vermögenswerte wirtschaftlich dem Zugriff des Unrechtsregimes unterworfen sind.

Allerdings sollte man, weil man negative Konsequenzen für den Finanzplatz befürchtet, den Art. 72 StGB nicht leichthin ausser Betracht lassen.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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