Die Schweiz hat Probleme mit der Unabhängigkeit ihrer Bundesrichter
Lange Zeit Gegenstand wohlaustarierter politischer Kompromisse, sorgen Richterwahlen in der Schweiz neuerdings für Schlagzeilen. Dabei geht es um die Unabhängigkeit der Justiz - aber nicht nur.
Es war eine Schlammschlacht: Im September 2018 verfolgten Millionen von Amerikanerinnen und Amerikanern die Liveübertragung der Hearings für das Oberste Gericht im zuständigen US-Senatsausschuss. Der nominierte Brett Kavanaugh wurde zu Vorwürfen befragt, als Hochschulstudent Kommilitoninnen sexuell missbraucht zu haben.
Vor dem Kapitol in Washington demonstrierten Tausende für und gegen den Kandidaten von US-Präsident Donald Trump. Am Ende bestätigte der Senat den Yale-Absolventen mit einer hauchdünnen Mehrheit – und machte ihn zu einem von gerade einmal neun auf Lebenszeiten gewählten Obersten Richtern des Landes.
Wie die amerikanische garantiert auch die schweizerische Bundesverfassung die richterliche Unabhängigkeit (BV Art. 191c). Deshalb sorgen auch in der Schweiz die in einer Demokratie notwendigen Schnittstellen zwischen den Gewalten für öffentlichen Gesprächsstoff.
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So funktioniert ein Schweizer Gericht
Im Vorfeld der Gesamterneuerungswahl des Bundesgerichtes vom 23. September durch die Vereinigte Bundesversammlung (also National- und Ständerat gemeinsam) hat die rechtsbürgerliche Schweizerischen Volkspartei (SVP) dieser Tage eine kleine Bombe gezündet. «Wir empfehlen die Abwahl von Bundesrichter Yves Donzallaz», liess der Vorsitzende der Parlamentsfraktion Thomas Aeschi verlauten.
Die Reaktionen blieben nicht aus. «Mit diesem Vorgehen wird die Gewaltenteilung in Frage gestellt», meinte ein Bundesrichter-Kollege. Donzallaz – einst von SVP-Übervater Christoph Blocher nominiert – hat in den letzten Jahren wiederholt Urteile mitgetragen, welche der SVP politisch gegen den Strich gingen. So etwa in Bezug auf die Personenfreizügigkeit mit der EU: «Der SVP-Richter und seine Henker. Am Anfang war Liebe, jetzt nur noch Hass», kommentiert nun die Berner Zeitung, während die Neue Zürcher Zeitung zur Abwahlforderung meint: «Das erinnert an Vorgänge in zunehmend autokratischen Staaten wie der Türkei, Ungarn oder Polen.»
Tatsächlich markiert der Versuch einer politischen Partei, ein Mitglied des in Lausanne angesiedelten Höchsten Gerichtes abzuwählen, laut Lorenz Langer, «eine neue Dimension». Denn: «So etwas hat es noch nie gegeben», betont der Assistenzprofessor für Öffentliches Recht an der Universität Zürich.
Ein Teil des Gehalts geht an die Partei
Wie in den USA und anderen demokratischen Staaten der Welt werden hohe Richter auch in der Schweiz von Volksvertretern gewählt. In Deutschland ist es die Regierung, welche die Verfassungsrichter bestimmt, in Italien gar eine von der Richtergilde selbstgewählte Kommission. Aber auch schon vor dem aktuellen politischen Angriff auf einen der 38 Mitglieder des Gerichtes, ist die Art und Weise, wie in der Schweiz die höchsten Justizbeamten gewählt werden, in die Kritik gekommen – aussen- und innenpolitisch.
2018 veröffentlichte die Antikorruptionskommission GRECO des Europarates einen Bericht, in dem das Bundesgerichts-Wahlverfahren in der Schweiz als «unvereinbar mit den Prinzipien einer modernen Demokratie» bezeichnet wurde. Besonders kritikwürdig sei laut Europarat der Umstand, dass gewählte Richter jedes Jahr einen Teil ihres Gehaltes an die eigene Partei abgeben müssen. Es ist eine Art indirekte Parteienfinanzierung und hat dazu beigetragen, dass seit 1943 kein parteiunabhängiger Richter mehr die Wahl ins Höchste Gericht des Landes geschafft hat. Hinzu kommt, dass sich jedes Bundesgerichtsmitglied regelmässig (alle sechs Jahre) zur Wiederwahl stellen muss.
An diesen Kritikpunkten macht sich auch eine Volksinitiative – die sogenannte Justiz-Initiative – fest, welche die jetzige Richterwahl durch das Parlament mit einem Losverfahren ersetzen möchte. Keine gute Lösung, findet Lorenz Langer, der gegenwärtig zum Thema Richterwahlen habilitiert: «Die Richterwahl in ihrer gegenwärtigen Form entspricht nicht in allen Punkten einer dogmatisch interpretierten richterlichen Unabhängigkeit. Aber sie trägt zur Akzeptanz der Rechtsprechung bei und schützt so deren Unabhängigkeit in der Praxis», schrieb er unlängst in einem Meinungsartikel in der Neuen Zürcher Zeitung.
Die Schweiz kennt kein Verfassungsgericht
Tatsächlich spiegelt die Ausgestaltung der Gewaltenteilung, ebenso wie jene von direktdemokratischen Volksrechten, die Geschichte und Machtverhältnisse in einem Land wieder: das lässt sich etwa an der Existenz oder eben Nicht-Existenz von Verfassungsgerichten zeigen. Während ein Verfassungsgericht in Ländern mit totalitären Brüchen, etwa Deutschland, eine wichtige Aufpasserrolle einnimmt, kennen Staaten ohne solche autoritäre Traumas nur selten ein Verfassungsgericht: Beispiele dafür sind in Europa neben der Schweiz auch die Niederlande und Schweden, beides Länder mit einer langen demokratischen Geschichte.
Trotzdem stellt sich die Frage, weshalb die wählerstärkste Regierungspartei der Schweiz gerade jetzt einen politisch begründeten Angriff auf das Bundesgericht lanciert hat: «Ich bin überrascht, denn wenn überhaupt erreicht die Partei damit eher das Gegenteil von dem was sie will, nämlich eine schwächere Anbindung der Bundesrichter an die Parteien», stellt Lorenz Langer fest und fügt hinzu, dass «mit dieser Aktion die Justiz-Initiative gestärkt wird, welche eben erst vom Bundesrat ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung vorgeschlagen worden ist».
Bundesgericht hat bereits reagiert
Noch etwas aber fällt auf: Die umstrittene Richterwahl findet gerade einmal vier Tage vor einer wichtigen Volksabstimmung statt. Am 27. September nehmen die Stimmberechtigten der Schweiz unter anderem zur sogenannten «Begrenzungsinitiative» der SVP Stellung. Da kann ein Angriff auf einen «abtrünnigen eigenen» Richter, der in Sachen Personenfreizügigkeit anders tickt, vielleicht doch noch einige Stammwähler mobilisieren.
Darauf zählt auch Donald Trump: vor wenigen Tagen veröffentlichte er eine Liste von 20 ihm politisch passenden Kandidatinnen und Kandidaten für das Oberste Gericht, die er – sollte er am 3. November wiedergewählt werden – nominieren könnte. Interessanterweise haben aber solche Wahlkampfmanöver über die Mobilisierung der eigene Stammwählerschaft hinaus oft auch noch eine andere Wirkung: so dürfte die aktuelle Auseinandersetzung das öffentliche Bewusstsein für die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat in der Schweiz eher stärken als schwächen. Und im Stillen hat auch das angegriffene Bundesgericht bereits reagiert: die bislang angegebenen Parteibezeichnungen hinter den Namen der Bundesrichter sind vor ein paar paar Tagen von der Webseite verschwunden.
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