Die Schweiz macht Kinderbetreuung zur Sache des Staats
Kinderbetreuung in der Schweiz ist Privatsache und teuer. Das hat volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen. Nun handelt das Parlament. Doch es geht um viel Geld. Ist es der Schweiz das wert?
Zwei Kinder? In der Schweiz ist das für viele Mütter ein Grund, das Erwerbsleben hinter sich zu lassen. Aus ökonomischen Motiven: Denn zwei Vollzeit-Krippenplätze fressen in der Schweiz 46% eines mittleren Einkommens auf. Ein kleines Arbeitspensum zu behalten, lohnt sich für eine durchschnittliche Schweizer Zweifach-Mutter darum selten.
Mit Ihren hohen Kosten für externe Betreuung liegt die Schweiz an der Spitze der OECD-Länder.
Ein Grund dafür ist, dass 90% der Kindertagesstätten in der Schweiz privat betrieben werden, zum Grossteil finanziert durch die Eltern, dies gemäss einer BranchenstudieExterner Link von 2015.
Der Staat gewährt zwar Steuererleichterungen, aber sonst hält er sich weitgehend raus. Kinderbetreuung wird von Kantonen und Gemeinden organisiert, die Tarife unterscheiden je nach Wohnort, teils erheblich.
Schlusslicht Schweiz
So gibt die Schweiz bisher weniger als 0,1% ihres Bruttoinland-Produkts (BIP) für die Finanzierung familienexterner Betreuungsstrukturen auf, weniger als die meisten europäischen Länder, und viel weniger als für die Armee, die 0,8% des Schweizer BIP beansprucht.
Bezüglich Kosten figuriert die Schweiz in einem VergleichExterner Link des Kinderhilfswerks Unicef unter 41 hoch entwickelten Ländern ganz hinten, auf Rang 37.
Doch ist die teure Betreuung auch gut? Nein. Auch da schneidet die Schweiz nicht gut ab, Rang 25 für Qualität. Ein Kriterium der Unicef ist die Anzahl Kinder pro ausgebildete Betreuungsperson. In der Schweiz sind es 18. In Island, dem Spitzenreiter der Tabelle, sind es fünf.
Systemrelevante Grosseltern
Dazu kommt ein kurzer Mutterschaftsurlaub. «Selbst einige der reichsten Länder der Welt, wie die Schweiz, haben sowohl einen kurzen Urlaub als auch eine geringe Beteiligung an der Kinderbetreuung», bilanziert die Unicef.
Teure Kitaplätze, schlechte Qualität, wenig Elternurlaub: Das alles führt dazu, dass in der Schweiz für die Kinderbetreuung oft Grosseltern zum Einsatz kommen. Oder Eltern organisieren sich auf privater Basis untereinander.
Auch dafür erstellte die Unicef eine Rangliste; die Schweiz figuriert darauf am Schluss, mit Ungarn und Tschechien.
Teure Schweizer Kinder
Dabei spüren gerade Familien die hohen Lebenshaltungskosten der Schweiz besonders. Denn ein Kind kostet laut der Zürcher Kinderkosten-TabelleExterner Link pro Monat zwischen 935 und 1790 Franken, je nach Alter und Familienkonstellation. Das ist ohne Betreuungskosten gerechnet. Ein Kitaplatz kostet pro Tag und Kind nochmals 130 Franken.
Das schafft kurzfristig ein Problem im Budget junger Familien, und langfristig ein strukturelles für die Schweiz. Denn ein Kind bringt oft auch einen drastischen Rückgang der Erwerbsquote eines der Elternteile mit sich. In der Schweiz betrifft dieses Phänomen vor allem Frauen: Die Hälfte der Mütter arbeitet hier Teilzeit, die meisten weniger als 50 Prozent.
Diese sogenannte «Kinderstrafe» bleibt spürbar, auch nachdem die Kinder ausgeflogen sind, da die Zeit der Mutterschaft oft negative Auswirkungen auf den Rest ihrer beruflichen LaufbahnExterner Link hat, konkret für Karriere, beim Lohn und bei der Altersvorsorge.
Allianz von Wirtschaft und Frauen
Es überrascht darum kaum, dass sich jene Kreise für bessere Betreuungslösungen stark machen, die auch für Frauenrechte und Gleichberechtigung kämpfen – allen voran der Frauendachverband Alliance F.
Politische Schlagkraft erhielt ihre Forderung aber erst in den letzten Jahren, als auch die Wirtschaft bemerkte, dass dem Land Fachkräfte fehlen. Da allmählich sahen Arbeitgeber in den gut ausgebildeten Frauen in der Schweiz auch ein Potenzial.
So brachte der Fachkräftemangel den einflussreichen Arbeitgeberverband ins Boot.
Konkret vereinten sich Frauen und Arbeitgeber:innen hinter der Forderung, der Staat solle die Kinderbetreuung subventionieren, damit diese um 20% günstiger werde. Kostenpunkt dieses Vorhabens ist zum jetzigen Stand: 770 Millionen Franken.
Gibt es einen Effekt?
Anfang März kam das Geschäft, entworfen in der Bildungskommission des Nationalrats, ins Parlament. Als erste von zwei Kammern hatte es der Nationalrat zu beraten, das allein dauerte fünf Stunden. Ein Knackpunkt war, dass Kinderbetreuung eigentlich Sache der Kantone und Gemeinden ist. Das wollte der Bundesrat so beibehalten. Laut Innenminister Alain Berset fehlt für diese Finanzierung zudem auch einfach das Geld.
Doch animieren solche Vergünstigungen denn tatsächlich mehr Mütter zum Wiedereinstieg ins Berufsleben? Oder dazu, ihre Pensen aufzustocken? Mitten in die Debatte platzte eine Studie der Universität Zürich Studien, die auf Daten aus Österreich basiert. Sie konnte einen solchen Einfluss nicht belegen.
Der Studienautor, Ökonom Josef Zweimüller von der Universität Zürich, sprach von einem «frustrierenden Ergebnis»: «Unsere Untersuchungen zeigen, dass das Problem tiefer liegt», sagte er der Neuen Zürcher Zeitung. Denn: «In der Schweiz dominiert nach wie vor eine traditionelle, konservative Denkweise in Bezug auf die Rollenverteilung der Eltern.» Andere Studien sehen zwar auch keinen linearen Zusammenhang, beschreiben aber sehr wohl einen strukturellen Effekt.
Kaum zu ignorieren
Gegen die Vorlage argumentierten im Nationalrat die rechtskonservative SVP und der männliche Teil der wirtschaftsliberalen FDP. Man spricht von «einseitiger Symbolpolitik» und argumentiert mit den hohen Kosten. Mit 107 zu 79 Stimmen nahm die Grosse Kammer die Vorlage dennoch an.
Die neue Regelung geht nun zur weiteren Ausgestaltung in den Ständerat. Es wird erwartet, dass dort noch am Betrag geschliffen und das Giesskannen-Prinzip eliminiert wird.
Doch die Wucht des ersten Beschlusses wird schwer zu ignorieren sein. Denn auch das steht fest: Die Schweizer Wirtschaft hat die Kosten des gesellschaftlichen Defizits erkannt. Sie wird diese nicht selbst tragen wollen.
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Der Fachkräftemangel ist erst der Anfang
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