Wehrli und Molina: «Die Schweiz muss darauf achten, dass sie ihre Werte auch umsetzt»
Wo steht die Schweiz heute in der Welt? Ein Gespräch mit Laurent Wehrli und Fabian Molina, zwei prononcierten Stimmen der schweizerischen Aussenpolitik.
Die letzten Jahre haben gezeigt: Globale Krisen häufen sich – und sie greifen ineinander ein. Das Resultat ist eine zunehmend komplexe geopolitische Lage. Wie positioniert sich die Schweiz? Und wie wird sie dabei wahrgenommen?
Laurent Wehrli (FDP) und Fabian Molina (SP) sind in der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, Wehrli präsidiert diese seit Anfang des Jahres.
SWI swissinfo.ch: Was funktioniert in der Schweizer Aussenpolitik gut, was nicht?
Laurent Wehrli: Beim EU-Dossier ist klar, dass wir zu langsam waren. Es gelang uns nicht, den Geist der guten Zusammenarbeit mit der EU zu halten. Aber dies war nicht die Schuld der Aussenpolitik oder des Aussenministeriums. Es war die Innenpolitik, die Einfluss nahm. Auf globaler Ebene sehe ich es als Fehler, dass das Parlament für die Entwicklungszusammenarbeit nicht genug Mittel bereitstellte. Die Schweiz könnte dafür durchaus 0,5% des BIP verkraften.
Wir wischten mit der Aussenpolitik die Trümmer, die wir mit der Wirtschaft angerichtet hatten.
Fabian Molina
Fabian Molina: Dank ihres starken diplomatischen Engagements geniesst die Schweiz international immer noch einen guten Ruf. Wir werden als Land ohne versteckte Agenda anerkannt. Das ist eine Stärke. Was nicht gut funktioniert, ist aber die Kohärenz unserer Aussenpolitik, und das liegt auch an der Haltung des Aussenministers, Ignazio Cassis. Er hat den Satz geprägt: Aussenpolitik ist Innenpolitik. Ich würde es umdrehen: Innenpolitik ist Aussenpolitik. Was wir in der Schweiz beschliessen, hat Einfluss auf das Leben der Menschen auf der anderen Seite des Planeten. Gerade angesichts der momentanen Erosion der regelbasierten Weltordnung müsste die Schweiz mehr Verantwortung übernehmen für das Leben auf diesem Planeten.
Macht die Schweiz überhaupt Aussenpolitik, oder macht sie Aussenwirtschaftspolitik?
Molina: Sie macht weiterhin vor allem Aussenwirtschaftspolitik. Aussenpolitik macht sie überhaupt erst seit den 1990er-Jahren, jedoch sehr sektoriell. Im Zweifel stehen wirtschaftliche Interessen im Zentrum und man ordnet diesen die Aussenpolitik unter.
Herr Wehrli, sind Sie einverstanden?
Wehrli: Jein. Natürlich machen wir Aussenwirtschaftspolitik. Sie ist wichtig und hat grossen Einfluss. Doch bei den aktuellen Krisen betreiben wir Aussenpolitik und nicht Wirtschaftspolitik. Es war zum Beispiel die Schweizer Diplomatie, die den Frieden in den Norden Mosambiks brachte. Das war nicht von einer Wirtschaftsvision geleitet.
Molina: Mosambik ist ein gutes Beispiel. Die Schweiz leistete einen wichtigen Beitrag für den Friedensprozess. Aber erst, nachdem die Schweizer Credit Suisse mit einem Korruptionsdeal das Land ruiniert und in die Schuldenkrise getrieben hatte. Das war auch ein Beitrag zur Gewalteskalation. Wir wischten mit der Aussenpolitik dann den Trümmerhaufen zusammen, den wir zuvor angerichtet hatten.
Wehrli: Und dennoch – die CS befahl dem Bundesrat ja nicht: «Haltet euch draussen aus Mosambik, das ist besser für uns, weil Korruption uns nützt.» Die Wirtschaft hat die Aussenpolitik also nicht an der Leine. Und die konkreten Aktionen der Schweiz wie etwa die Flüchtlingslager in Bangladesch oder im Libanon sind gewiss nicht an Wirtschaftspolitik gebunden.
Der Krieg im Nahen Osten wirbelt die politische Landschaft auch in Europa auf. Wie wirkt sich dieser aus, auch auf die Rolle der Schweiz?
Molina: Er wird einen dauerhaften und gerechten Frieden basierend auf einer Zweistaatenlösung noch einmal erschweren. Ich glaube immer noch, dass dies die einzige Garantie für Frieden in der Region ist. Der Tag danach muss man international viel stärker diskutieren, da könnte die Schweiz eine Rolle übernehmen.
Es gibt gute Gründe, warum sich Europa so klar an die Seite Israels gestellt hat, denn es trägt eine Verantwortung für das schlimmste Menschheitsverbrechen der Geschichte. Aber gleichzeitig wird im globalen Süden nicht verstanden, weshalb der Westen mit unterschiedlichen langen Ellen misst.
Alle Angriffe und Massnahmen gegen die Zivilbevölkerung sind unannehmbar, von welcher Seite sie auch immer ergriffen werden. Das sollte sich gerade ein Land wie die Schweiz bewusst sein. Noch haben wir im Vergleich zu Deutschland, Frankreich oder den USA ein besseres Image im globalen Süden.
Wehrli: Es gibt ein Vor und ein Nach den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober, das ist klar. Die Situation ist komplexer als die Aussage: «Der Westen ist für Israel, die Araber für die Palästinenser.» Wir befinden uns ebenso wieder in einem Konflikt zwischen Saudi-Arabien und Iran – nicht umsonst sind die mit Iran verbündeten Huthis im Jemen dabei, eine Reihe von Konflikten anzuheizen.
Was mich ebenso beunruhigt, ist die Schwäche der Palästinensischen Autonomiebehörde, die weder von den Palästinenserinnen und Palästinensern noch von den arabischen Ländern anerkannt wird.
Das Parlament diskutierte zuletzt das Streichen von Geldern für das UNO-Hilfswerk UNRWA. Wie positioniert sich die Schweiz damit?
Wehrli: Man spricht nur über die 20 Millionen Franken an die UNRWA. Dabei hat der Bundesrat auch 86 Millionen für die Unterstützung der Palästinensischen Autonomiebehörde und anderer palästinensischer NGOs bewilligt. Dies zeugt vom Handlungswillen der Schweiz.
Die Schweiz hatte lange direkten Kontakt mit der Hamas, jetzt wird ein Hamas-Verbot diskutiert. Was sagt das über die Position der Schweiz?
Molina: Die Schweiz hat immer mit allen gesprochen. Diese Politik, die auch von der israelischen Regierung geschätzt wurde, sollte die Schweiz fortsetzen.
Der Dialog mit Hamas war ein Erfolg?
Molina: Es gibt keinen Dialog, aber eine Kontaktpolitik. Wenn es darum ging, Geiseln freizubekommen, dann hat die Schweiz das ermöglicht. Ja, wenn man ein Leben retten kann, dann ist das ein Erfolg.
Der grösste Unruhestifter in der Region ist der Iran. Die Schweiz hat eine spezielle Beziehung zum Iran – ist diese noch zu rechtfertigen?
Molina: Nein. Wenn wir sagen «Stand with Israel», dann muss das ebenso heissen, den Iran in der Region als Destabilisierungsfaktor einzudämmen. Das hat die Schweiz noch nicht verstanden. Es dominiert ein Dogma der Neutralität und der guten Dienste. China hat die Schweiz in nur einem halben Jahr in der Friedensförderung mit dem Iran abgelöst – und damit grössere Erfolge als die schweizerische Aussenpolitik in den letzten 30 Jahren erzielt. Die Schweiz muss, wie es die EU-Länder schon getan haben, ihre Haltung gegenüber dem Iran ändern.
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Der Iran und die Schweiz: eine spezielle Beziehung
Herr Wehrli, haben sich die guten Dienste erledigt?
Wehrli: Nein. Nur weil wir für die USA ein Mandat übernehmen, heisst das ja nicht, dass wir die Innenpolitik des Iran unterstützen. Sicherlich konnte China zwischen dem Iran und Saudi-Arabien eine Position einnehmen. Aber auf der anderen Seite kann China heute absolut nichts in Gaza erreichen. Das bringt uns wieder zum Thema Aussenpolitik oder Aussenwirtschaft: China hat weit stärkere wirtschaftliche Mittel als die Schweiz, um eine Regierung zu bewegen, aber auch das hat seine Grenzen.
Die Schweizer Verteidigungsministerin will näher an die NATO. Verträgt sich das mit der Neutralität?
Molina: Der russische Überfall auf die Ukraine stellt die Frage, ob Europa in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen oder nicht. Deswegen darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen. Wir müssen die Ukraine im zivilen Bereich stärker unterstützen, aber auch mitwirken, dass die Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa gestärkt wird. Die Schweiz muss sich also politisch näher zu Europa hin bewegen und ihren friedenspolitischen Beitrag leisten. Denn die USA verlieren das Interesse an Europa nach den nächsten amerikanischen Wahlen möglicherweise sehr abrupt.
Militärische Annäherung an Europa wäre aber ein Bruch mit der Neutralität.
Molina: Die Neutralität ist primär ein militärisches Konzept. Wir sind bündnisfrei und wir beteiligen uns nicht an Kriegen. Das finde ich richtig für uns, weil es uns aussenpolitisch sehr viele Spielräume eröffnet. Diese Spielräume müssen wir aber für eine engagierte Friedens- und Entwicklungspolitik nutzen.
Neutralität ist ein Instrument, das der Schweiz gedient hat.
Laurent Wehrli
Wehrli: Wenn die Schweiz sich zu sehr der NATO annähert, dann ist sie ab einem gewissen Punkt nicht mehr neutral. Aber wir müssen diese Risiko-Analyse machen, und zwar mit Blick auf den Verfassungsauftrag. Dieser lautet: Verteidigung der Schweiz und ihrer Einwohner. Man muss die Sondierungsgespräche in der NATO relativieren. Wir sagten nie, dass wir der NATO beitreten. Aber unter Wahrung der Neutralität einen Austausch zu führen, ist richtig.
Der Ukraine-Konflikt ist uns viel näher ist als jeder andere Konflikt auf der Welt. Es ist klar, dass man eine Analyse der Landesverteidigung vornehmen muss, und dass dies dann Fragen in Bezug auf die Neutralität aufwerfen wird. Neutralität ist ein Werkzeug, das der Schweiz gedient hat. In Schweden sieht man, dass die Neutralität dort nicht mehr als Werkzeug zur Verteidigung dient. Daher trat Schweden der NATO bei.
Pandemie, Migration, Verteidigung – das alles erfordert mehr Koordination mit der EU. Kann die Schweiz noch eine eigene Aussenpolitik machen?
Mitten in Europa die Schweiz, die in den 1990er-Jahren verharrt ist.
Fabian Molina
Wehrli: In der Pandemie konnten wir aufzeigen, wie eng die Koordination war. Doch die Frage geht über Europa hinaus: Es gibt einen Angriff von autoritären Staaten auf den Multilateralismus und einen Anstieg des Multipolarismus – insbesondere zu den BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Diese Verschiebung der Pole schadet dem Frieden und der globalen Entwicklung. Die Entwicklung zwingt Europa, den europäischen Pol zu stärken, da wir gemeinsame Werte teilen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Beitritt derzeit der beste Weg wäre.
Molina: Europa integriert sich mehr und mehr, geht Krisen und Herausforderungen gemeinsam an, sei es bei der Klimakrise, bei Handelsbeziehungen oder Lieferketten-Problemen. Gleichzeitig versucht man sich auch sicherheitspolitisch stärker zu koordinieren. Neuerdings beschafft man sogar gemeinsam militärische Güter.
Mittendrin liegt die Schweiz, die in den 1990er-Jahren verharrt ist. Sie sitzt am Fluss und schaut teilnahmslos zu, wie das Wasser vorbeiplätschert. Ich glaube, wenn sich die Schweiz nicht auch solidarisch am europäischen Projekt beteiligt, wird die Lust, uns zu helfen, bei unseren europäischen Verbündeten immer weiter abnehmen.
Wehrli: Wir müssen die Entwicklungen im Auge behalten. In Holland gewannen die Kräfte, die sagten, dass man nicht so stark in Europa integriert sein sollte. Das niederländische Parlament gab eine Studie zum Austritt aus dem Schengen-Vertrag in Auftrag.
Die Schweiz ist seit einem Jahr im UNO-Sicherheitsrat. Man hört nicht viel…
Molina: Das liegt aber an der Presse…
…oder daran, dass der Rat dysfunktional ist?
Molina: Der Sicherheitsrat findet fast immer eine Lösung. In normalen Zeiten funktioniert er sehr gut und nimmt seine Rolle als Hüterin des Weltfriedens wahr. Doch wir leben nicht in normalen Zeiten. Es ist eine Binsenwahrheit, dass die UNO reformiert gehört und die Schweiz einen Beitrag dazu leisten will. Das Problem ist: Wir haben ein multilaterales System, das Machtungleichgewichte aus Kolonialzeiten aufrechterhält. Verschiedene Staaten wollen jetzt auch ihren Platz am Tisch. Das ist verständlich. Jetzt stellt sich die Frage, welche Forderungen legitim sind. Klar ist: So wie wir Multilateralismus jetzt leben, kann es nicht weitergehen.
Der Westen muss seine Werte auch umsetzen. Sonst hat die Schweiz ein Problem.
Laurent Wehrli
Wird die UNO tatsächlich überall auf der Welt als legitim anerkannt?
Wehrli: Wir sehen Phänomene von Folgekrisen, die nicht nur aufeinander folgen, sondern sich auch überlagern, und darüber hinaus von Krisen, die Vetomächte des UNO-Sicherheitsrats betreffen. Ein solches Problem hat die UNO-Charta nie vorgesehen. Entweder gelingt es der UNO, sich zu reformieren, oder sie verliert an Einfluss und Mitteln.
Was wird aus dem internationalen Genf? Bereits hat man den UNO-Sitz in Genf wochenlang geschlossen, um Heizkosten zu sparen. Ich will nicht negativ sein, aber wenn wir heute nicht reagieren, werden grössere Probleme auf den Tisch kommen. Wir müssen darauf achten, dass die westlichen Länder ihre Werte auch umsetzen. Aber gleichzeitig müssen wir den Dialog aufrechterhalten und nach Lösungen suchen. Sonst hat auch die Schweiz ein Problem.
Molina: Eine wertebasierte Aussenpolitik heisst ja nicht, anderen seine Werte aufzudrücken, sondern sich selbst von diesen Werten leiten zu lassen. Doch der Westen agiert seit 100 Jahren mit dem gleichen Paternalismus. Als sich die UNO mit grosser Mehrheit auf den Weg zu einer UNO-Steuerkonvention aufmachte, antwortete mir der Schweizer Bundesrat unglaublich paternalistisch: Das machen wir im Rahmen der OECD – wo der globale Süden nicht dabei ist. Der Bundesrat sei der Meinung, dass der globale Süden das gar nicht könne, das würde diese Länder überfordern. Das ist genau die Art, wie man diese Länder weiter weg treibt vom Multilateralismus. Wir müssen also unsere Werte auch vorleben.
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