Die Schweiz neu erfinden
Umstrittene Neutralität, desavouierter Finanzplatz, fehlende politische Visionen: Gleich mehrere Pfeiler des helvetischen Selbstverständnisses wanken. Die Schweiz muss grundsätzlich über die Bücher, schreibt Mark Pieth.
Der Niedergang der Credit Suisse weckt Erinnerungen an das Swissair-Grounding. Es gibt zwar Parallelen, vor allem die Ignoranz und der Eigensinn der Führungsetagen, der Absturz der CS ist aber viel dramatischer. Er stellt das Fundament des Schweizer Finanzplatzes und damit eine zentrale Voraussetzung unserer Wertschöpfungskette in Frage.
Wenn der erfahrene Banker und Unternehmer Konrad Hummler (in der NZZ vom 18. März 2023) sagt, «der Sturm zieht nicht vorbei. Er rast direkt auf die Schweiz zu», weiss er, wovon er spricht: Der Niedergang der CS ist nur eine der aktuellen Herausforderungen der Schweiz. Es sollte den Schweizern aufgefallen sein, dass sie im Ausland nicht sonderlich beliebt sind, auch weil die Nachbarn und Konkurrenten das Gefühl haben, sie würden sich etwa bei den Russlandsanktionen aus der Verantwortung stehlen.
Steckt die Schweiz in einer Imagekrise? Ex-Botschafter Martin Dahinden verneint in seinem Gastbeitrag und verweist auf Umfagewerte:
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Die Macht des Images: Warum die Schweiz ihr Handeln nicht davon abhängig machen sollte
Krisen können aber auch Veranlassung sein, die Situation zu reflektieren. Die Schweiz ist ein attraktiver Wirtschaftsstandort. Man muss aber zugeben, dass die offizielle Schweiz gerne die Augen vor ihren Risiken verschliesst. Die Herausforderungen der Finanzbranche mit Geldwäscherei, Potentatengeldern und nun Oligarchen sind sattsam bekannt.
Es wäre im Übrigen naiv anzunehmen, man könne der weltweit grösste Rohstoffhandelsplatz sein und keine Risiken eingehen. Was ganz offensichtlich fehlt ist Gouvernanz, wo in der Schweiz niedergelassene Unternehmen und Verbände im In- und Ausland Schaden anrichten können: Eine glaubwürdige FINMA hätte vermutlich den CS Absturz antizipieren können.
Die Rohstoffmärkte und mit ihnen die Reedereien sind gar nicht reguliert. Die marktbeherrschende Stellung im Goldraffineriewesen interessiert die offizielle Schweiz kaum, ebenso wenig der Kunsthandel. Die Exposition der Schweiz mit ihren 60 internationalen Sportdachverbänden ist gerade mal für Stammtischwitze gut genug.
Markus Somm, Verleger der Zeitschrift Nebelspalter, schreibt, die Schweiz bestehe gerade daraus, dass sie kaum je zu definieren war:
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L’Identitätskrise n’existe pas
Risikomanagement ist allerdings nicht das einzige Thema, dem man mehr Aufmerksamkeit widmen sollte. Aus meiner Sicht müsste die offizielle Schweiz viel grundsätzlicher über die Bücher: Die traditionelle Reaktion auf internationale Kritik ist die alte Wagenburgmentalität, seit 1291. Es ist höchste Zeit, dass sich die Schweiz um Freunde bemüht.
Das heisst nicht, dass sie gleich der EU beitreten muss. Allerdings gehört die Peinlichkeit, mit der die Schweiz ihre Beziehungen zur EU gestaltet, mit zum Krisenszenario: Sie müsste dringend proaktiv auf gleichgesinnte Staaten zugehen, denen Demokratie und Rechtstaat ebenso am Herzen liegt wie ihr. Denken wir an die Niederlande, Belgien, Schweden, Norwegen oder Österreich, um nur einige Staaten zu nennen.
Wirtschaft und Politik müssen dringend kreativer werden. Und es fällt nicht leicht, es so drastisch zu sagen: In Wirtschaft und Politik braucht die Schweiz womöglich andere Akteure als die, die den Karren in den Dreck gefahren haben.
Die Schweiz im Image-Tief
Der Beinahe-Kollaps der Traditionsbank Credit Suisse hat für ein finanzpolitisches Erdbeben gesorgt, das weit über die Schweizer Grenzen hinaus Schlagzeilen gemacht hat. Obwohl das Krisenmanagement der Regierung im Ausland überwiegend positiv aufgenommen wurde, hat die Reputation des Schweizer Finanzplatzes arg gelitten – und mit ihr das gesamte Image der Schweiz. Ein Image, um das es nicht zum Besten steht.
Bereits länger sieht sich das Land mit Kritik konfrontiert: Seit der russischen Invasion in der Ukraine ist die helvetische Neutralität international umstritten. Für Russland ist die Schweiz nicht mehr neutral, die westlichen Partner sehen das Abseitsstehen der Schweiz als opportunistisch und werfen ihr vor, der Ukraine zu schaden. Die von den Schweizer Behörden untersagte Wiederausfuhr von Kriegsgerät an das angegriffene Land mehrt Zweifel, dass die Schweiz überhaupt noch ein zuverlässiger Verbündeter ist. Die Kritik schliesst auch die Sanktionen gegenüber russischen Oligarchen ein, in den Augen vieler internationaler Beobachter:innen geht die Schweiz nicht weit genug.
Neutralität, Bankenplatz, Sanktionspolitik : Die Fragen betreffen nichts weniger als die Identität des Landes. Wir haben verschiedene Schweizer Persönlichkeiten angefragt, wie sie das Renommee der Schweiz in der Welt beurteilen und was jetzt nötig wäre.
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