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Die Schweiz und die Arktis: Näher als man glaubt

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Eisbrecher in der Baffin Bay (Kanada) im Jahr 2008. Heute ist es im Sommer möglich, die Arktis ohne diese speziellen Boote zu überqueren Keystone / Jonathan Hayward

Die arktischen Regionen stossen wegen ihrer Bodenschätze auf zunehmendes Interesse vieler Staaten. Doch der Wettlauf im hohen Norden unseres Planeten berge zahlreiche Risiken, sagt Anna Stünzi, Präsidentin des Schweizer Think-Tanks ForausExterner Link.

Mit 38 Grad Celsius im sibirischen Dorf Werchojansk verzeichnete die Arktis während der Hitzewelle 2020 einen neuen Temperaturrekord.

Auch die Ausdehnung der arktischen Eiskappe hat ein Allzeittief erreicht, und jedes Jahr schrumpft der Eisschild um eine Fläche von der Grösse Österreichs.

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Mit dem Abschmelzen des «Ewigen Eises» entstehen neue Handelsrouten für die internationale Schifffahrt und die enormen Ressourcenschätze der Arktis werden leichter zugänglich. Diese Entwicklung sorgt bei direkt betroffenen Ländern der Region und den Grossmächten für eine zuvor noch nie dagewesene Aufmerksamkeit.

Die Trump-Administration gab grünes Licht für Bohrungen in einem Naturschutzgebiet in Alaska. Als eine der ersten Amtshandlungen hat der neue US-Präsident Joe Biden aber dieses Projekt gestoppt.

Russland hat mit dem Vostok-Oil-Megaprojekt begonnen, einem gigantischen Vorhaben zur Ausbeutung der arktischen Vorkommen, während Kanada und Norwegen ihre militärische Präsenz in der Region erhöht haben.

Was in der Arktis geschieht, ist auch für die Schweiz wichtig, die trotz ihrer geografischen Entfernung und ihrer geringeren Bedeutung in der weltweiten Geopolitik eine wichtige Rolle spielen könnte. Diese Meinung vertritt Anna Stünzi, Präsidentin des Schweizer Think-Tanks für Aussenpolitik Foraus, Forscherin des Potsdam-Instituts für Klimaforschung und Co-Autorin eines Berichts «Switzerland and the Arctic»Externer Link («Die Schweiz und die Arktis «).

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Anna Stünzi ist Präsidentin von Foraus, einem Ideenlabor, das wissenschaftliche Empfehlungen veröffentlicht und Debatten organisiert, um innovative Lösungen für die Aussenpolitik vorzuschlagen. Anna Stünzi

swissinfo.ch: Die Arktis ist eigentlich eine trostlose Region, weit weg von allem. Warum sollte man sich für diese Gegend interessieren?

Anna Stünzi: Die Arktis besteht nicht nur aus Eisbergen und der Polkappe. Vier Millionen Menschen leben nördlich des Polarkreises. Es handelt sich zudem um ein unglaublich reichhaltiges Ökosystem mit einer hohen Artenvielfalt. Es gibt reichlich Ressourcen wie Kupfer, Nickel, Zink und Diamanten. Es wird geschätzt, dass die Arktis 22 Prozent der weltweiten Ölreserven und 30 Prozent der Gasreserven enthält.

Die Arktis entwickelt sich zu einer Region von hoher geopolitischer Bedeutung. Dies spiegelt sich nicht nur im Interesse von regionalen Playern wie Kanada, Dänemark, Norwegen, Russland, den USA, Finnland, Island und Schweden, sondern auch von Grossmächten wie China.

Die Arktis gehört zu den Regionen der Erde, die am stärksten von der globalen Erwärmung betroffen sind. Es ist bekannt, dass das Eis schmilzt und die Eisbären bedroht sind. Aber inwiefern könnten sich Veränderungen in der Arktis konkrete Auswirkungen auf unser Leben haben?

Der Klimawandel in der Arktis bedroht nicht nur indigene Völker und die dortige Tierwelt, sondern uns alle. Der arktische Permafrost ist eine riesige natürliche Kohlenstoffsenke. Durch sein Schmelzen werden Treibhausgase freigesetzt, was die globale Erwärmung beschleunigt.

carta che mostra le nuove vie marittime attraverso il polo nord
Die arktischen Schifffahrtsrouten. Malte Humpert / The arctic institute

Bei der Suche und Gewinnung von Ressourcen herrschte bisher ein kooperativer Geist. Doch die wachsenden militärischen und kommerziellen Aktivitäten in der Region könnten eskalieren und weitreichenden Folgen haben.

Wir müssen verhindern, dass die Arktis zum Schauplatz geopolitischer Rivalitäten wird, zum Beispiel zwischen Russland und dem Westen oder zwischen den Vereinigten Staaten und China. Wir sollten vielmehr sicherstellen, dass sie eine friedliche und kooperative Region bleibt.

In Folge des geschmolzenen Eises gibt es mehr Land, mehr Energieressourcen und neue Handelswege. Ist das eigentlich nicht eine gute Sache?

Seit 1979 hat das Volumen des arktischen Eises um 75 Prozent abgenommen. Im Sommer ist es mittlerweile möglich, ohne Eisbrecher vom Atlantik zum Pazifik zu fahren. Manche sprechen von einem «neuen Suezkanal» über den Nordpol.

Für die indigenen Völker könnten diese Entwicklung und das wachsende Interesse an der Region tatsächlich neue Arbeitsplätze und neue wirtschaftliche Aktivitäten bringen sowie einen Beitrag zum Ausbau von Strassen, Eisenbahnen, Telekommunikations- und Stromnetzen leisten.

Neue Routen und ein verbesserter Zugang bergen jedoch auch Risiken für die indigenen Gemeinschaften und stellen eine neue Belastung für die bereits stark strapazierten Ökosysteme dar. Zunehmende maritime Aktivitäten können negative Auswirkungen haben, etwa Unfälle und Meeresverschmutzung.

Aufgrund der garstigen Bedingungen sind Rettungs- oder Säuberungsaktionen in der Arktis im Falle eines Ölunfalls äusserst schwierig.

Was hat denn eigentlich die Schweiz mit der Arktis zu tun?

Die Schweiz und die Arktis liegen näher beieinander, als man denken könnte. Die stark globalisierte Wirtschaft der Schweiz ist von den weltweiten Handelswegen abhängig. Gewisse Interessensgruppen sehen im potenziellen Zugang zu den Ressourcen vielleicht auch Chancen für den Handelsplatz Schweiz, einem Zentrum für den internationalen Rohstoffhandel.

Die aktuelle geopolitische Konfrontation in der Arktis stellt aber zugleich eine Bedrohung für die Sicherheit Europas und damit auch für die Schweiz dar. Umweltschutz und menschliche Sicherheit sind globale Herausforderungen, die gemeinsam angepackt werden müssen.

Wir wissen zudem, dass die Schweiz von der globalen Erwärmung stärker betroffen ist als andere Länder. Da sie das Pariser Klimaabkommen und die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung ratifiziert hat, liegt es in ihrer Verantwortung, die Entwicklungen in der Arktis genau zu verfolgen. 2017 erhielt die Schweiz zudem den Beobachterstatus im Arktischen RatExterner Link, vor allem aufgrund ihrer wissenschaftlichen Kompetenzen im Bereich der alpinen und polaren Regionen.

Welche Arktis würden Sie gerne in der Zukunft sehen?

Handelsaktivitäten und regionale Entwicklungsprojekte in der Arktis sollten im Einklang mit den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung stehen und der lokalen Bevölkerung zugutekommen.

Die Arktis sollte ein Grundpfeiler der Stabilität sein sowie ein Beispiel für Gute Regierungsführung – Good Governance – im Geiste der Zusammenarbeit und des Multilateralismus. Da die Sicherheit und der Wohlstand der Schweiz von einer gut funktionierenden internationalen Ordnung abhängen, müssen Mechanismen unterstützt werden, welche zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten beitragen und militärische Aktivitäten beschränken.

Was kann die Schweiz konkret tun?

Sie kann auf verschiedenen Ebenen aktiv sein. Erstens kann sie aufgrund ihres Erfahrungsschatzes in alpinen Regionen und Gletschergegenden anregen, eine neue Arbeitsgruppe zu gründen, die sich auf die nachhaltige Entwicklung von Infrastrukturen konzentriert.

Zweitens kann sie über zwei institutionelle Kanäle handeln: Innerhalb des Arktischen Rates und über die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Da sie über gute Beziehungen zu allen Akteuren in der Arktis verfügt, könnte sie die Schaffung einer regionalen Sicherheitsordnung durch die OSZE anstossen, obwohl das politische Umfeld derzeit noch nicht reif für ein Engagement der Organisation in Angelegenheiten der arktischen Regionen ist.

Die Schweiz kann ihre guten Dienste anbieten, um die friedliche Lösung von Konflikten zu erleichtern und Diskussionen zwischen Regierungen, Experten und der Zivilgesellschaft zu fördern. Das internationale Genf kann zum Beispiel Treffen für konstruktive Gespräche über indigene Völker, den Erhalt des kulturellen Erbes und das Ressourcenmanagement in der Arktis organisieren.

Schliesslich könnte die Schweizer Regierung im Rahmen des wissenschaftlichen Austausches die Ausarbeitung einer gemeinsamen Erklärung zu den Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis vorantreiben.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Schweizer Banken und multinationale Unternehmen in der Arktis

Zwischen 2016 und 2018 sollen UBS und Credit Suisse 304 Millionen Dollar respektive 147 Millionen Dollar in Ölfirmen investiert haben, die in der Arktis aktiv sind, so der Bericht «Banking on Climate ChangeExterner Link«, der 2019 von mehreren NGOs veröffentlicht wurde. Auch der Zuger Rohstoffriese Glencore ist in der Region präsent, schreibt die Zeitung La LibertéExterner Link.

Anmerkung: wir haben diese Box am 2. Februar 2021 nach Hinweisen aus unserer Leserschaft auf TwitterExterner Link hinzugefügt.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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