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«Die Schweiz und ihre Neutralität stehen vor grossen Herausforderungen»

Micheline Calmy Rey
Micheline Calmy-Rey (*1945) war viele Jahre kantonale Politikerin für die Sozialdemokratische Partei (SP) in Genf, bevor sie auf nationaler Ebene Politkarriere machte. 2003 bis 2011 war sie als Bundesrätin Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). 2007 und 2011 amtete sie auch als Bundespräsidentin. 2010 war sie Präsidentin des Europäischen Rats. Seit 2012 ist sie Professorin am Global Studies Institute der Universität Genf. Alex Spichale Fotografie

Ist eine neutrale EU denkbar? Diese Frage wirft die frühere Schweizer Bundesrätin und Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in einem neuen Buch auf.

Die Schweizer Neutralität bietet regelmässig Diskussionsstoff. In einem Buch trägt Micheline Calmy-Rey, die den Begriff der «aktiven Aussenpolitik» geprägt hat, Geschichte, Theorie und Praxis der Schweizer Neutralität zusammen und wartet mit brisanten Vorschlägen auf.

swissinfo.ch: Die Schweiz kandidiert für einen nicht ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat. Warum ist diese Kandidatur Ihrer Meinung nach mit der Neutralität vereinbar?

Micheline Calmy-Rey: Der Sicherheitsrat handelt in der überwiegenden Anzahl aller Situationen nicht militärisch, sondern politisch. Er hat in vier Situationen militärisch entschieden: Korea, Irak, Kosovo im Jahr 1999 und Libyen 2011. In diesen Fällen handelte der Sicherheitsrat geschlossen. Das heisst, im Auftrag der Weltgemeinschaft.

Genau das macht den wesentlichen Unterschied zum klassischen zwischenstaatlichen Konflikt aus, auf den die Neutralität anwendbar ist. In den eben genannten Fällen wäre die Neutralität nicht anwendbar, weil es sich um ein Eingreifen im Auftrag der Weltgemeinschaft handelt.

Aber müsste sich die Schweiz im Sicherheitsrat nicht positionieren oder wäre Druckversuchen ausgesetzt?

Die Schweiz ist jetzt schon aktiv innerhalb der Uno. Sie nimmt Positionen ein, sie spricht – sie sitzt nicht schweigend da. Und ein Sitz im Sicherheitsrat würde ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern und ihr zu mehr Einfluss verhelfen.

Es geht also auch um Eigeninteressen, also darum, als Kleinstaat auf dem internationalen Parkett mittanzen zu können?

Ja, dank der intensiven internationalen Kontakte, die ein Mitwirken im Sicherheitsrat nach sich ziehen, könnte die Schweiz sich noch besser vernetzen, was für die Wirksamkeit unserer Aussenpolitik wesentlich ist. Dies verschafft der Schweiz Zugang zu den Grossen und hilft ihr die eigenen Interessen zu verteidigen.

In Schweden übrigens hat es diese Diskussion über die Vereinbarkeit der Neutralität mit dem Sitz im Sicherheitsrat auch gegeben. Schweden übernahm die Rolle der Vermittlerin. Sie wissen ja, es ist nicht einfach, im Sicherheitsrat eine Einigung zu erzielen. Die Schweiz könnte ebenfalls diese Aufgabe übernehmen, denn wir sind uns gewöhnt, konsensuelle Lösungen zu finden. Und wir haben gute Diplomatinnen und Diplomaten. Diese Rolle ist wie für uns gemacht.

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Sie lassen im Buch Jean Ziegler zu Wort kommen, der die Schweiz als heuchlerisch bezeichnet. Was müsste die Schweiz Ihrer Meinung nach ändern, um nicht mehr als heuchlerisch zu gelten?

Es stellt sich die Frage, ob es mit der Neutralität vereinbar ist, wenn die Schweiz enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Staaten unterhält, die systematisch Menschenrechte verletzen oder in Konflikte verwickelt sind.

Ich bringe das Beispiel Saudi-Arabien: Die Schweiz verweigerte im Frühling 2019 ihre Zustimmung zur gemeinsamen Erklärung von rund drei Dutzend Staaten, welche die Freilassung von Menschenrechtsaktivisten sowie eine Ermittlung der Uno-Sonderberichterstatterin für aussergerichtliche Hinrichtungen im Fall Jamal Khashoggi forderte. Die Schweiz hat sich ihrer Stimme enthalten.

Da stellt sich die Frage: Hat man unsere humanitäre Tradition vergessen? Ist das im Interesse der Schweiz, die eigentlich ihren Einfluss stärken will, dass sie sich so zurückhaltend äussert?

Es geht um unsere Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Ich finde, man sollte nicht Wirtschaft und Neutralität gegeneinander ausspielen, sondern auf der internationalen Bühne kohärent agieren.

Rechtlich ist die Schweiz nicht zu einer Neutralitätspolitik verpflichtet. Warum praktiziert die Schweiz sie dennoch und ist so streng mit sich?

Die schweizerische Neutralität hat sich entwickelt und ist heute nicht mehr, was sie im 16. Jahrhundert war. Geboren ist sie aus der Not, aus einem Sicherheitsbedürfnis. Jetzt ist sie zu einer aktiven Neutralität übergangen, die auf dem Völkerrecht basiert.

Buchcover
NZZ Libro

Die Neutralität hat sich entwickelt, um den globalisierten Risiken und Herausforderungen wie – was wir gerade erleben – einer Pandemie oder der nachhaltigen Entwicklung zu begegnen. Das Vorbeugen und Lösen globaler Probleme bilden einen grossen Teil der nationalen Sicherheits- und Interessenwahrung der Schweiz in der Welt.

Aber Sie haben Recht: Die Regeln des Neutralitätsrechts gelten nur für zwischenstaatliche Konflikte. Die Neutralitätspolitik ist nicht rechtlich geregelt, sondern entspringt dem Willen des neutralen Staates, sich im Falle eines zwischenstaatlichen Konfliktes neutral zu verhalten. Der konkrete politische Gehalt der Neutralitätspolitik ist folglich offen und muss aussenpolitische und Sicherheitsinteressen berücksichtigen.

Schweden und Österreich wenden sich von der Neutralität ab. Nur die Schweiz hält am alten Verständnis fest. Sind wir naiv und glauben, die Neutralität könne uns schützen?

Ich plädiere für eine Politik der aktiven Neutralität. Ich plädiere nicht dafür, dass die Schweiz ihre Neutralität aufgibt.

Eine Politik der aktiven Neutralität heisst: Die Schweiz ist auf der Seite des Völkerrechts, sie stellt sich nicht auf die eine oder andere Seite eines Konflikts, sondern auf die Seite des Rechts. Natürlich ist es angebracht, sich zu äussern und Verletzungen des Völkerrechts zu verurteilen. Still sein und schweigen genügt nicht.

Aber müsste die Schweiz nicht noch einen Schritt weitergehen und sich via NATO dem amerikanischen Schutzschild unterstellen – in diesen unruhigen Zeiten?

Das schreibe ich ja im Buch: Die Schweiz und ihre Neutralität stehen vor grossen Herausforderungen. Das kollektive Sicherheitssystem der Uno ist geschwächt, neue Formen von Konflikten entstehen.

Ebenfalls eine Herausforderung ist die Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee – Ziel der bewaffneten Neutralität ist ja, dass wir unser Territorium verteidigen können. Und die Waffenexporte stellen die Glaubwürdigkeit der Schweiz bei der Umsetzung der Neutralität in Frage.

Die Schweizer Neutralität steht also vor Herausforderungen, aber das heisst nicht, dass sie nicht mehr nützlich ist. Sie ist auch heute noch ein Trumpf in unseren Händen. Sie gibt der Schweiz eine besondere Rolle in der Staatengemeinschaft durch ihr humanitäres Engagement, ihre Guten Dienste und eine Politik der «soft power», das heisst Diplomatie und Friendensförderung.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Giannis Mavris

Welche Zukunft hat das Schweizer Neutralitätsmodell?

Kann es in Zeiten der Blockbildung und des geopolitischen Antagonismus überhaupt einen neutralen Weg geben?

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Sie werfen im Buch gar die Frage auf, ob eine neutrale EU denkbar sei. Wenn die EU neutral würde, müsste die NATO aufgelöst werden. Wie realistisch ist das?

Wissen Sie, das Schweizer Neutralitätsmodell kann nicht tel quel auf ein anderes Land oder eine Institution wie die EU übertragen werden. Dafür plädiere ich nicht.

Vielleicht habe ich mich unglücklich ausgedrückt und hätte im Zusammenhang mit der EU nicht das Wort «Neutralität» verwenden sollen. Aber die Grundlagen und Prinzipien der Neutralität können inspirierend sein.

Der harte Kern der Neutralität ist der Wille zu einer gewaltlosen Politik basierend auf dem Recht. Es ist ein Verzicht auf aggressive Gewaltanwendung. Das ist nicht inkompatibel mit einer europäischen Verteidigungspolitik oder mit einem transnationalen Ansatz der Verteidigung. Ich plädiere eigentlich für ein kollektives Sicherheitssystem der EU.

Wenn die EU sich tatsächlich in diese Richtung entwickeln würde, könnte die Schweiz dann auch reinpassen?

Bei einem EU-Beitritt der Schweiz wäre der Verzicht auf die Neutralität rechtlich nicht zwingend aber politisch heikel. Vergessen wir nicht, dass die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU das Ziel einer gemeinsamen Verteidigungspolitik ist. Wenn es der EU gelingen würde, eine solche umzusetzen, dann wäre diese kaum mit unserer Neutralität vereinbar.

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