Die Schweiz wird atomfrei
Fünf Jahre nachdem Stimmbevölkerung Ja gesagt hat zu einer Energiestrategie mit einem Strommix aus Sonne, Wasser und Wind, aber ohne Atomkraft, ist klar: Die Schweiz ist auf Kurs – aber zu langsam, sagt Fabian Lüscher von der Schweizerischen Energie-Stiftung.
Das deutliche Bekenntnis zu einer nachhaltigen Energiestrategie ist einigen Vertreter:innen der Öl-, Gas- und Atomlobby in den falschen Hals geraten. Fünf Jahre nach der Abstimmung fordern sie, den richtungsweisenden Volksentscheid von 2017 zu verwerfen und die Atomenergie zurückzuholen. Im Jahr 2022 ist diese Idee geradezu aus der Zeit gefallen.
Heute ist klar: Wir brauchen eine Stromversorgung, die emissionsarm, risikoarm, dezentral, zuverlässig, nachhaltig und vor allem schnell ausbaubar ist. Denn die Energiewende ist auch ein Wettlauf gegen die Zeit.
Zunächst stellt sich also die Frage, was eine Aufhebung des Verbots von neuen Atomkraftwerken (AKW) im Kampf gegen die Klimakatastrophe nützen würde. Die Antwort ist kurz und simpel: Nichts. In der Schweiz würden mindestens 20 Jahre ins Land ziehen, bevor ein neues AKW erstmals Strom liefern könnte. Strom, der bis dann längst von erneuerbaren Quellen kommt – ja, kommen muss, wenn man eine wirklich nachhaltige, sichere und umweltfreundliche Energieversorgung aufbauen will.
Klimawirksamkeit basiert ganz zentral auf dem Faktor Tempo und dieses kann beim Zubau von erneuerbaren Energien erhöht werden, während die Bauzeiten von neuen AKW in Europa seit Jahren immer länger werden.
«Falscher Freund» der erneuerbaren Energien
Je schneller der Anteil erneuerbarer Energien im Strommix wächst, desto besser, darüber besteht heute ein breiter politischer Konsens. Für die Atomindustrie ist der Ausbau der erneuerbaren Energien hingegen Gift. Das Problem ist, dass AKW unflexibel sind. Um die gigantischen Investitionen zumindest ansatzweise amortisieren zu können, müssen sie – egal welcher Generation und Bauart – rund um die Uhr auf Volllast Strom produzieren.
Dieses Apriori der Atomstromproduktion ist in einem erneuerbaren System ein Problem. Denn die ebenfalls unflexiblen Sonnenkraftwerke sind auf eine flexible Ergänzung angewiesen.
Versorgungssicherheit auf Französisch
Während im Namen einer zuverlässigen Stromversorgung der atomare Geist der 1960er Jahre beschworen wird, steht in Frankreich die HälfteExterner Link der Reaktorflotte stillExterner Link – aus Sicherheitsgründen.
Unfreiwillig gibt uns die grande nation nucléaire Anschauungsunterricht dafür, was ein atomlastiger Strommix für die Versorgungssicherheit tatsächlich bedeutet: Kunden und Kundinnen erhalten schriftliche Appelle, weniger Strom zu verbrauchen, der französische Strompreis hat im Frühjahr am Spotmarkt astronomische Höhen erreicht und weil für AKW typischerweise kein gleichwertiges Backup verfügbar ist, wird Kohle und Gas verfeuert oder Strom aus Deutschland importiert.
Die Zukunft ist dezentral und intelligent
Wenn uns die Situation in Frankreich eines lehrt, dann dass Reaktoren keine Lösung, sondern die Ursache für Versorgungsprobleme sind. Ein widerstandsfähiges Energiesystem ist dezentral, intelligent und vernetzt. AKW sind hingegen Klumpenrisiken, die bei Sicherheitsproblemen urplötzlich vom Netz müssen und damit Kapazitätslücken im Gigawattbereich aufreissen.
Das sieht auch die Elektrizitätskommission ElCom so, die in der Schweiz über die Versorgungssicherheit wacht. In ihrer StudieExterner Link, die immer wieder als Beleg einer drohenden Stromlücke herangezogen wird, definiert die Elcom für 2025 folgendes Worst-Case Szenario: Sollten beide Reaktoren des AKW Beznau und ein Drittel der französischen Atomkraftwerke ausfallen, könnte der Schweiz in dieser «besonders schwierigen Stresssituation» in den Spätwinterwochen 47 Stunden lang der Strom ausgehen.
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Die Analyse ist in einem Punkt mehr als klar: Kommt es tatsächlich zu einem Engpass, dann deshalb, weil eines oder mehrere AKW unplanmässig ausfallen – Frankreich liefert gerade das Praxisbeispiel zu dieser Theorie. Das heisst letztlich nichts anderes, als dass wir dringend von der verhängnisvollen Abhängigkeit von veralteten Atomkraftwerken loskommen sollten.
Gemeinsam statt einsam
Die Idee, AKW in die Energiezukunft der Schweiz zu reintegrieren, ist mehr denn je eine Aussenseiterposition. Alle grossen Schweizer Energiebetreiber lehnen es kategorisch ab, auf die eigentlich ad acta gelegte Atomdebatte zurückzukommen: Niemand wolle weiter in die Atomtechnologie investieren, die Diskussion darum lenke von der Dringlichkeit ab, mit der erneuerbare Energien ausgebaut werden müssten.
Die Frage, ob AKW in der Energiestrategie der Schweiz eine Rolle spielen sollen oder nicht, ist deshalb falsch gestellt. In der aktuellen Atomdebatte geht es grundsätzlich darum, ob wir zusammen mit Wirtschaft und Politik das Jahrhundertprojekt Energiewende verwirklichen – oder ob wir uns lieber auf die x-te Atompolemik einlassen und damit die Chance auf eine wirkliche Veränderung ungenutzt verstreichen lassen.
>> Lesen Sie hier die gegenteilige Meinung von Natalia Amosova von der Beratungsfirma Apollo Plus:
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Ohne Atom kann die Schweiz nicht energieunabhängig werden
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