Die Schweizer Börse klopft bei China an, nachdem die EU sie vor die Tür stellte
Die Schweizer Börse, ausgeschlossen vom Handel der Europäischen Union, hat sich einer neuen Geschäftsquelle zugewandt: den Aktien chinesischer Unternehmen.
14 chinesische Unternehmen haben in den letzten 12 Monaten durch die Kotierung von Hinterlegungsscheinen – sogenannte Global Depositary Receipts (GDRs) – an der Schweizer Börse rund 4,4 Milliarden Franken eingenommen. Doch für die Schweiz hat sich dieses System noch nicht als Geldbringer erwiesen.
Unternehmen verwenden Hinterlegungsscheine, um Mittel in einem Land zu beschaffen, in dem andere Börsen- oder Rechnungsprüfungsvorschriften gelten als im eigenen Land, oder wenn ausländische Anleger:innen keine Aktien des Unternehmens direkt besitzen dürfen.
Es handelt sich dabei um Zertifikate, die Stammaktien eines internationalen Unternehmens repräsentieren und die die Komplexität des grenzüberschreitenden Handels und die Wechselkursrisiken verringern sollen.
Erstmals wurden gemäss der US Securities and Exchange Commission 1927 American Depositary Receipts (ADRs) ausgegeben.
Es folgten weitere Versionen wie European Depositary Receipts und die GDRs, die Global Depositary Receipts.
Für die SIX Group, das Betreiberunternehmen der Schweizer Börse, könnte die Ankunft chinesischer Unternehmen ein willkommener Schub für die Handelseinnahmen bedeuten. Aufgrund des Verhandlungspatts zwischen der Schweiz und der Europäischen Union darf die Schweizer Börse seit 2019 keine Aktien von Unternehmen aus der EU mehr handeln.
Um die Unterschiede in den Finanzvorschriften der beiden Länder zu umgehen, erlaubt die SIX chinesischen Unternehmen die Kotierung von ebensolchen GDRs. Bei diesen Hinterlegungsscheinen handelt es sich um Zertifikate, die für Aktien eines Unternehmens stehen und nach einer Sperrfrist von 120 Tagen in diese Aktien umgewandelt werden können.
Die Idee ist, dass Anleger:innen ihre GDRs weiterverkaufen und so ein Sekundärmarkt für dieses Finanzinstrument entsteht. Doch diese Neuheit hat sich noch nicht durchgesetzt, was zu einem mickrigen Handelsvolumen (Liquidität) führt – und zu geringen Einnahmen für die Börse.
Die Anleger:innen haben je nach Unternehmen zwischen 40 und 70% ihrer GDRs nach Ablauf der Sperrfrist von der Schweizer Börse abgezogen und in normale, in China notierte Aktien umgewandelt.
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Die Investor:innen machen sich dabei eine Besonderheit des Systems zunutze, die es ihnen ermöglicht, GDRs mit einem Abschlag auf normale Aktien auszugeben und dann die Differenz zu kassieren, wenn sie die GDRs in Aktien des Unternehmens umwandeln.
«Ob es in naher Zukunft mehr Liquidität auf dem Sekundärmarkt für GDRs geben wird, bleibt abzuwarten», sagt Christian Schneiter von der Anwaltskanzlei Vischer in Zürich gegenüber SWI swissinfo.ch.
Flauer IPO-Zeitraum
Die Börsenbetreiberin SIX Group hofft, dass die GDRs Handelsvolumen anlocken werden, sobald sich die Handelnden an das Finanzinstrument gewöhnt haben.
Einen Lichtblick sieht Schneiter in der Aufhebung der Covid-19-Sperren in China Ende letzten Jahres. Denn nun können chinesische Firmen Teams in die Schweiz schicken, um für ihre Unternehmen und die Investitionsmöglichkeiten in GDRs zu werben.
Gong Weiyun, geschäftsführender Direktor der China Construction Bank in Zürich, betont, dass bei der schlechten Handelsperformance von GDRs die politischen Spannungen zwischen China und dem Westen keine Rolle gespielt haben.
«Europäische Investierende wissen wenig über diese Akteure, ihre Aktivitäten, ihre Marktanteile, ihre Wachstumsraten und ihre Projekte», sagte er der Nachrichtenagentur AWP. «Wenn die Anlegenden mehr über chinesische Unternehmen wüssten und mehr Informationen hätten, würde der Handel mit diesen Wertpapieren sicherlich anziehen.»
Eine Win-Win-Situation?
Auf dem Papier ist dieses China-Switzerland Stock Connect Programm, das im Juli 2022 eingerichtet wurde, eine Win-Win-Situation. Chinesische Unternehmen erhalten Zugang zu europäischen Anleger:innen, die ihre Portfolios mit chinesischen Anlagen diversifizieren können.
SIX Group hofft, in einer Zeit, in der mit Ausnahme Chinas weltweit nur wenig Börsengänge stattfinden, zu profitieren. Laut dem Beratungskonzern Ernst & Young (EY) gingen 2022 45% weniger Unternehmen an die Börse als 2021.
Während die Zahl der Börsengänge in Europa und den Vereinigten Staaten deutlich zurückging, blieb sie in China im vergangenen Jahr stabil. In einem Bericht vom Dezember erklärte EY, dass der Anteil Chinas am weltweiten IPO-Markt von 28% im Jahr 2021 auf 55% 2022 gestiegen ist.
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«Die Aktivität an der Schweizer Börse im Jahr 2022 war weitgehend von der Notierung von GDRs chinesischer Unternehmen geprägt», so EY und verwies auf insgesamt 13 Unternehmensnotierungen in der Schweiz, darunter acht chinesische Unternehmen.
Im Jahr 2023 wurden bisher drei Unternehmen an der Schweizer Börse kotiert – allesamt chinesische. Der Elektronikhersteller Kunshan Dongwei war das jüngste chinesische Unternehmen, das im Juni in der Schweiz Kapital aufnahm. Weitere 30 chinesische Unternehmen haben Berichten zufolge Interesse bekundet.
«Die Pandemie hat Schwachstellen in den globalen Lieferketten aufgezeigt», sagt Jürg Schneider, Sprecher der SIX Group, gegenüber SWI swissinfo.ch. «Um künftige Lieferunterbrechungen zu vermeiden, sind die Unternehmen zunehmend daran interessiert, lokale Produktionsstätten aufzubauen, um solche Risiken zu minimieren. GDRs dienen diesen Unternehmen als Mittel zur Kapitalbeschaffung, damit sie ihre ‹Brick-and-Mortar›-Strategie umsetzen können.»
Geopolitische Spannungen
Die Einführung chinesischer GDRs in der Schweiz fiel mit wachsenden Spannungen zwischen China und den USA zusammen, die sich auf ein ähnliches Wall-Street-Arrangement, die American Depositary Receipts (ADRs), auswirkten.
Die Pattsituation scheint im Dezember gelöst worden zu sein, als China einer Prüfung seiner ADRs durch die USA zustimmte. Aber davor drohten mehrere chinesische Unternehmen damit, sich vom US-Markt zurückzuziehen.
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Die Schweiz verlangt für GDRs keine solche Prüfung wie die USA und akzeptiert die chinesischen Rechnungslegungs- und Prüfungsgrundsätze im Rahmen des Stock Connect-Programms voll und ganz.
Jos Dijsselhof, CEO der SIX Group, weist Bedenken zurück, dass die Schweiz dadurch für chinesische Unternehmen zu weich werde, weil scharfe Rechnungslegungspraktiken auf Missetäter:innen zurückfallen würden.
«Wenn ein Unternehmen in die Luft fliegt und es einen Betrug gibt… wäre das wahrscheinlich das Ende der Initiative», sagte Dijsselhof Anfang 2023 gegenüber Nikkei Asia.
China hat sich auch mit Grossbritannien und Deutschland auf Stock-Connect-Programme geeinigt, aber in ersterem gab es bisher fünf, in zweiterem keine Börsengänge.
«Politische Erwägungen könnten bei der Entscheidung über eine Börsennotierung eine Rolle spielen», sagt Schneiter. Seine Kanzlei Vischer hat zahlreiche chinesische GDR-Börsengänge in der Schweiz beraten. «Die Tatsache, dass die Schweiz als politisch neutrales Land gilt, könnte eine gewisse Rolle spielen.»
Startschwierigkeiten
Obwohl die Schweiz die Sanktionspaketen der Europäischen Union gegen Russland übernommen hat, hat sie ihren neutralen Ruf verteidigt, weil sie sich weigerte, unilaterale Massnahmen zu ergreifen oder den Verkauf von in der Schweiz hergestellten Waffen an die Ukraine zuzulassen.
Das GDR-Experiment muss noch einige Startschwierigkeiten überwinden, bevor es beurteilt werden kann. China überprüft die Art und Weise, wie es solche Börsenkotierungen angesichts der schnellen Umwandlung von GDRs in normale Unternehmensaktien genehmigt.
Die regulatorische Überprüfung in China hat zu einem Engpass bei neuen GDR-Kotierungen geführt. Laut der SIX Group ist es noch zu früh, um zu beurteilen, wie sich dies auf das Börsensystem auswirken wird, weil «einige Elemente noch geklärt werden müssen».
Schneiter erwartet, dass die neuen Regeln zu längeren Wartezeiten für die Zulassung in China führen werden: «Wie viel länger, bleibt abzuwarten.»
Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl
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