Wer von der Schweizer Raumplanung profitiert, und wer verliert
Der nutzbare Boden in der Schweiz ist knapp. Das Gezerre um jeden Quadratmeter Land hinterlässt sowohl Gewinner als auch Verlierer. Der Staat versäumte es, für Gerechtigkeit zu sorgen.
Wenn ein Stück Landwirtschaftsland in Bauland umgewandelt wird, freut das den Eigentümer oder die Eigentümerin: Das Land ist schlagartig deutlich mehr wert. Ein Quadratmeter Landwirtschaftsland wird in der Schweiz zu 6 Franken gehandelt. Bauland kostet zwischen 200 und mehreren Tausend Franken pro Quadratmeter. Während Jahrzehnten wurden in der Schweiz auf diese Weise über Nacht Millionäre gemacht.
«Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 1970er-Jahre gab es einen gewaltigen Bauboom. Viele Kartoffelacker wurden in Bauland umgewandelt. Manch ein Bauer wachte als Millionär wieder auf, weil das Land nach der Einzonung tausend Mal mehr wert war», erzählt Rechtsprofessor Alain Griffel von der Universität Zürich, der sich unter anderem auf Raumplanungs-, Bau- und Umweltrecht spezialisiert hat. «Der Staat hat diese Mehrwerte zuerst überhaupt nicht abgeschöpft. Die unverdienten Millionen – die ich jedem gönnen mag – konnte der Landeigentümer zu 100% behalten.» Boden wurde zu Geld. Geld wurde zu Beton. Es war ein klassischer Fehlanreiz.
Es blieb nicht der einzige: Das Niedrigzinsumfeld führte in den letzten Jahren erneut zu einem Bauboom. «Für institutionelle Anleger war der Immobilienbau in der Schweiz sehr attraktiv», sagt Griffel. «Es wurde gebaut wie wahnsinnig, man nahm sogar Leerstände in Kauf.» Weil in früheren Jahren in manchen Kantonen überdimensionierte Bauzonen geschaffen und nie verkleinert worden seien, entstünden viele dieser Bauten nun an der Peripherie statt im Zentrum, also dort, wo man sie aus raumplanerischer Sicht eigentlich nicht haben will.
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Keine Steuern auf Gewinn
Der Gesetzgeber reagierte auf diese Fehlentwicklung. Seit 2014 muss nun vermehrt rückgezont werden: Bauland soll wieder unbebaubar werden. Das produziert Verlierer (aber zu denen kommen wir später). Der Gesetzgeber zwang die Kantone zudem, einen «Mehrwertausgleich» von mindestens 20 Prozent abzuschöpfen. Also eine Steuer zu erheben, wenn das Grundstück durch die Zonenänderung mehr wert geworden ist. Erst kürzlich kamen die letzten Kantone dem Auftrag widerwillig nach. Eigentlich hätten sie es schon seit 1980 tun müssen.
«20 Prozent ist nicht viel», findet Griffel. Und: «Was man verpasst hat, kann man nicht nachholen. Die Gesetzesänderung kommt Jahrzehnte zu spät.»
Auch Martin Vinzens, Chef Sektion Siedlung und Landschaft beim Bundesamt für Raumentwicklung ARE, findet 20 Prozent Mehrwertausgleich «relativ bescheiden». Vinzens und Griffel sind sich einig: Gewinner und Gewinnerinnen der Schweizer Raumplanung sind alle Bodeneigentümer, deren Land während der Boomphasen ein-, auf- oder umgezont wurde und dadurch an Wert gewonnen hat. Sie profitierten von einem willkürlichen Vermögenszuwachs, ohne dass sie etwas abgeben mussten.
Bauern als Profiteure
Laut Vinzens gehörte auch die Landwirtschaft gewissermassen zu den Profiteuren: «Die Raumplanung konnte dafür sorgen, dass Landwirtschaftsland nicht völlig überbaut wurde. Die einen profitierten also, weil sie mehr Geld bekamen, die anderen aber, weil etwas geschützt wurde.»
Landwirte profitieren laut Griffel noch auf andere Weise von der Raumplanung: «Bauern können auf billigem Landwirtschaftsland kleine Nebenbetriebe führen, beispielsweise eine Werkstatt oder ‹Schlafen im Stroh›. Gewerbetreibende oder Hoteliers zahlen in Gewerbe- oder Wohnzonen deutlich mehr für Räumlichkeiten.»
Diese Ungleichheit sorge bei den Nichtbauern zuweilen für Unmut, obwohl das Bauernsterben zeige, dass es den Landwirten nicht gut gehe. «Strukturelle Probleme in der Landwirtschaft kann man aber nicht mit raumplanerischen Mitteln bekämpfen», sagt Griffel. «Es gibt nicht zu wenig Landwirtschaftsland, sondern die Produktionstätigkeit lohnt sich nicht mehr.»
Keine Entschädigung für Verlierer
Auf der Verliererseite stehen laut Griffel Landschaft, Natur und Biodiversität. «Das Antlitz der Schweiz hat sich seit den 1950er-Jahre rasant verändert, stärker als jemals zuvor.»
Nicht ganz so dramatisch sieht es Vinzens: «Wir haben immer noch offene Landschaften, die nicht überbaut sind, die der Landwirtschaft zur Verfügung stehen, aber auch der Naherholung für die Menschen dienen. Das ist ein Gewinn.»
Bleiben noch jene, die durch Raumplanungsentscheide real Geld verlieren: Landeigentümer, deren Grundstück rückgezont wurde. Seit einer Gesetzesänderung 2014 muss überdimensioniertes Bauland rückgezont werden. Aussicht auf Entschädigung besteht dabei kaum: Das Bundesgericht fällte dazu restriktive Leitentscheide.
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Tatsächlich findet sich in der Entschädigungspraxis ein eigentlicher Teufelskreis. Zwar sieht die Rechtsprechung auch dann Entschädigungen vor, wenn Grundeigentum nicht weggenommen wird – wie beispielsweise beim Bau einer Eisenbahn –, sondern nur an Wert verliert, wie bei einer Rückzonung. Man spricht von einer sogenannten materiellen Enteignung. Aber als diese Rechtsprechung entwickelt wurde, dachte laut Griffel niemand daran, dass ab den 1980er-Jahren grossflächig rückgezont werden sollte. Die Hürden für eine materielle Enteignung seien entsprechend hoch.
«Der Gesetzgeber hätte stattdessen klar bezifferbare Entschädigungen vorsehen sollen», findet Griffel. «Denn die Unklarheiten rund um die Entschädigungen sind ein Hemmschuh für Rückzonungen.» Anders gesagt: Um nicht zu viele Verlierer zu produzieren, wird lieber weiter zersiedelt.
Selbst schuld?
Doch wer sind denn eigentlich diese Verlierer und Verliererinnen? Rückgezont wird, was in den folgenden 15 Jahren nicht gebraucht wird. Also jenes Land, für das kein Baugesuch gestellt wurde.
«Man könnte die Eigentümer dieses Landes als Verlierer bezeichnen», sagt Vinzens. «Man könnte aber auch so argumentieren: Sie haben bei der Einzonung etwas bekommen, was sie nicht gebraucht haben und jetzt zont man zurück. Die Person hat am Ende also nichts gewonnen und nichts verloren.»
Selbst schuld, könnte man also sagen. Aber ganz so einfach ist es nicht: Manche Eigentümer konnten kein Baugesuch stellen, weil aufgrund einer etappenweisen Erschliessung das Land noch nicht baureif war. Ohne Zufahrt und Anschluss an die Wasser-, Energie- und Abwasserleitungen gibt es nämlich keine Baubewilligung.
«Man kann es nicht immer selbst steuern», sagt Griffel. «Manche haben auf Vorrat Bauland gekauft und warten darauf, dass die Gemeinde das Land erschliesst.»
Wenn die Gemeinde das Land nicht erschliessen will, sondern zurückzont, so kann es durchaus der Fall sein, dass der Eigentümer für das Land einen erheblich niedrigeren Preis erzielt, als er selbst dafür bezahlt hat.
Das betrifft laut Vinzens beispielsweise Baufirmen, die sich Land auf Reserve sichern wollten. «Manche haben auch Bauland geerbt und nicht sofort bebaut», erzählt Vinzens. «Aus Sicht dieser Person ist eine Rückzonung natürlich ein Verlust.» Andere hätten Bauland als Rückversicherung für eine Hypothek behalten. Wenn es rückgezont werde, dann genüge dieses Land der Bank nicht mehr als Sicherheit. «Damit werden natürlich schon Probleme geschaffen», räumt er ein.
Serie Raumplanung
In einer Serie gehen wir aktuellen raumplanerischen Fragen in der Schweiz nach, hier die anderen Beiträge:
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