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Frühe LGBTIQ-Szene Schweiz: Chronistin einer Parallelwelt

Die Fotografin Liva Tresch
Liva Tresch in ihrem Haus in Zürich. Klaus Petrus

Sie war eine Uneheliche, ein Pflegekind, eine Lesbe. Nach einer dunklen Kindheit fand Liva Tresch in der schwullesbischen Szene im Zürich der 1960er- und 70er-Jahre ihre Befreiung – und wurde zur Chronistin einer Parallelwelt, die über die Schweiz hinaus ausstrahlte.

Schön war sie, Silvia, mit ihrem kurzen dunklen Haar und den grossen braunen Augen, die ganze Nacht hatte sie diese Frau anschauen, sie mit den Augen streicheln müssen, während sie neben ihr schlief.

Als Silvia am nächsten Morgen aufwachte und sagte, «Wusste ich es doch, du bist eine Schwule», da war Liva auf und davon.

Was für ein Schafseckel der Herrgott doch ist, nun hat auch er mich hintergangen, hatte sie geflucht. «Ich war der Aussatz, ich war das Letzte von allen, war unehelich, dumm, und jetzt auch das noch: schwul. Am liebsten wäre ich nach Sisikon und hätte mich von der Axenstrasse in den Urnersee geworfen, das hätte wenigstens keine Sauerei gegeben.»

Aber sie hatte ja nicht mal Geld für den Bus.

Das war 1955 und Liva Tresch gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt, und was das eigentlich ist, das wusste sie nicht: schwul. Auch den Begriff «lesbisch» kannte sie nicht. Die anderen sagten, die sind ein Saupack, gruusig, abartig und krank.

Auch Liva Tresch ging zum Pfarrer nach dieser einen Nacht mit Silvia, sie beichtete, sprach das Vater Unser, zeigte Reue um Gottes Willen, sie weinte und schämte sich ganz fürchterlich. Dann rief sie einen Psychiater an, er sollte sie wieder «normal» machen.

Vierzig Franken pro Stunde wollte der Herr Doktor, 400 Stunden brauche er dafür. Nach ein paar Sitzungen meinte er, sie solle sich lieber ein für alle Mal damit abfinden.

Fasnacht im Barfüsser, Zürich
Ausgelassene Stimmung, schrille Kostüme, Zigaretten und Alkohol: Fasnacht in der Barfüsser Bar, Zürich, 1963. Liva Tresch/Sozialarchiv.ch

Als Liva Tresch im selben Jahr den Schwulenclub «Blauer Himmel» im Zürcher Niederdorf besuchte, das heutige Restaurant Turm, und diese Männer erblickte, da dachte sie bei sich: Die können doch nicht schwul sein, so herzige Jungs sind das, immer schick angezogen, immer höflich und gepflegt.

«Die haben dich nicht belästigt mit dummen Sprüchen oder angemacht wie die anderen Männer», erinnert sich Liva Tresch, «die schauten einem in die Augen, mit denen konnte man normal reden».

Das Männerbild der jungen Frau war geprägt von Erfahrungen einer Kindheit, die keine beschwingte war. Geboren 1933 in einem Fürsorgeheim in Hergiswil, ein Bauerndorf am Fusse des Pilatus, kannte Liva Tresch zeitlebens den eigenen Vater nicht. Die Mutter, eines von 18 Kindern und hochintelligent und schön und launisch, musste viel arbeiten für wenig Geld.

So kam Liva Tresch schon ein Jahr nach ihrer Geburt nach Flüelen im Kanton Uri zu den Portmanns, einer Pflegefamilie. Der alte Portmann war ein Flegel, er soff, machte anderen Frauen den Hof und versprach der kleinen Liva 50 Rappen, wenn sie ihm zwischen die Beine fasste, fest zupackte, ihn rieb.

Mit diesem Geld konnte sie das Bähnli von Flüelen nach Altdorf zu den Pfadfinderinnen nehmen, Flucht in eine Gemeinschaft, wo sie ein bisschen jemand war. Man nannte sie «Radio», so überdreht und laut war sie. Irgendwann erzählte sie ihrer liebsten Pfadifreundin von dem Geschäft mit den 50 Rappen, und Lisbethli sagte zur Liva: «Ätsch, dich fasse ich nie wieder an!»

Von da an ging sie dem Portmann aus dem Weg.

Mit sechs Jahren kehrte Liva Tresch zu ihrer Mutter nach Gurtnellen im Kanton Uri zurück, die hatte inzwischen den verwitweten Bauer Butzensepp geheiratet, sieben Kinder brachte der mit in die Ehe. Liva wurde eingeschult, sollte ordentlich erzogen werden.

Nach aussen wurde der Schein gewahrt. Das Mädchen trug weisse Röckchen und eine Schleife im Haar («Was habe ich diesen Haarbändel verflucht, alles Trug, eine verlogene Welt»), daheim aber teilte die Mutter, hoffnungslos überfordert, Schläge aus.

Einer der Söhne vom Butzensepp war immer hinter der kleinen Liva her, «figge, figge», rief er ihr zu, doch sie konnte ihm entwischen. «Dann ist er halt über die Hühner und Schafe, so war das auf diesen Höfen», sagt Liva Tresch. «Für mich waren alle Männer verdammte Hurenböcke.»

Als ihre Mutter sie einmal fast bewusstlos schlug, kehrte Liva, trostloses Kind, nach einem Jahr zu den Portmanns zurück. Dort wurde sie weder misshandelt noch musste sie Hunger haben. Sie schlief bei der Pflegemutter.

Die Portmanns hatten getrennte Schlafzimmer, alle wussten, dass der Mann bei anderen Frauen war. Gleichwohl kam er immer wieder, des nachts, er riss die Türe auf, schrie «Dori, hopp!». Da ist die Pflegemutter auf und in sein Zimmer. Später kam sie mit verheulten Augen zurück ins Bett geschlichen.

Liva Tresch bewunderte ihre Pflegemutter, wie sie dieses düstere Leben meisterte neben einem Mann, der seine Finger nie bei sich lassen konnte.

Und sie mochte es, wenn Frau Portmann mit ihren weichen, warmen Händen ihr das Kleid am Rücken zuknöpfte. Oder sie mit dem Waschlappen einseifte. Berührungen waren rar.

«Ich war die Uneheliche, die Unehrliche, eine Unreine, die man nicht anfasst.» Bei Zärtlichkeiten dachte sie an eine Mutter, liebevoll und nachsichtig, die sie nicht hatte.

So wurde der Körper der Frau für Liva Tresch zur Heimat.

Dabei wäre das Mädchen lieber ein Bub gewesen. Mit vierzehn betete sie zum Bruder Klaus, ein Wunder möge bitteschön geschehen und es wachse auch bei ihr so ein Ding zwischen den Beinen heraus. Den Buben konnte ja nichts passieren, die waren nicht Freiwild.

Schon als Kind war Liva kräftig, sie konnte anpacken, prügelte sich mit Jungs, den Mädchen half sie beim Schulsacktragen. Röcke hasste sie, sie trug Hosen, auch später noch, aus Manchester, dazu dicke Pullover, Heilandsandalen, selbstgestrickte Wollsocken.

Vielleicht munkelte man auch deshalb, die Tresch, das sei doch eine Lesbe.

Dass Liva Tresch homosexuell war, war ihr damals – sie war sechzehn und wollte sich umbringen, Schluss machen – nicht klar. «Ich habe schwul gelebt, ohne es gewusst zu haben. Ich hatte keinen Begriff dafür, ich ahnte bloss: Da ist eine Sehnsucht nach Nähe in mir, die ich nur mit Frauen stillen konnte.»

Mit Sexualität hatte das nichts zu tun, die machte bloss alles kaputt. Dachte Liva daran, hatte sie dieses grosse, harte, widerliche, violette Ding vom alten Portmann vor Augen.

Auch später wird Liva Tresch ihre Freundinnen streicheln und verwöhnen, ohne sich selbst hinzugeben. «Ich hatte in meinem Leben nur einen Orgasmus, ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es meinen Freundinnen gefallen könnte, mich zu berühren.»

Lust war für sie wie ein Appetit, den man stillt, prompt und ohne Aufheben. «Vor dem Ausgang machte ich mir es schnell selber, das dauerte keine zwei Minuten, tä-täm. Dann war Ruhe im Stall.»

Einmal, im Jahr 1951, fuhr Liva Tresch über Nacht ins Tessin, sie musste weg, wollte atmen, in Bellinzona fand sie einen Job als Dienstmädchen, in Giubiasco arbeitete sie in einer Fabrik, für 32 Rappen die Stunde, der Hunger schwellte ihren Bauch auf, ein Horror, sagt Liva Tresch heute.

Trotzdem denkt sie gerne an diese Zeit zurück, die Leute waren gut zu ihr, eine Handvoll wenigstens, man sagte liebevoll matta, pero santa zu ihr, eine Verrückte, aber Heilige sei sie gewesen.

Jahre danach fand Liva Tresch in Zürich eine Stelle in einem Fotogeschäft, sie verbrachte viel Zeit in Schwulenbars und wurde bald zur Szenefotografin. Als eine der wenigen dokumentierte sie das Zürcher Milieu der Schwulen und Lesben in den 1960er- und 70er-Jahren. Sie fühlte sich wohl dort, sie gehörte dazu, tanzte, trank.

Die Szene, ihre Ersatzfamilie. Mit einer Frau ins Bett mochte Liva Tresch zu jener Zeit nicht. «Jede machte mit jeder rum, sie gingen dir an die Brüste und wollten sofort mit dir in die Pfanne. In der einen Woche hiess es dann «Ich liebe dich», in der Woche darauf «Ich hasse dich», dann kam die nächste dran. Doch nie war von Respekt die Rede, das stiess mich ab.»

Liva Tresch hat zwischen 1963 und 1973 die Zürcher Lesben- und Schwulenszene beim fastnächtlichen Verkleidungs- und Maskentreiben fotografiert. Entstanden ist eine eindrückliche Dokumentation. Die entstandenen Fotografien geben einen spannenden Einblick in die Schwulen- und Lesbenszene dieser Jahre, sie zeigen die Durchmischung dieser beiden Szenen und deren Veränderung. Das Archiv umfasst weit über 6000 Negative, die Liva Tresch dem Schweizerischen Sozialarchiv überlassen hat.

Vielleicht sei das halt so, sagt Liva Tresch: «Wenn man immer ausgegrenzt wird und einem alle einreden, wie gruusig man ist, verliert man am Ende den Respekt vor sich selbst.»

Meist waren die Bars gemischt, Männer und Frauen. Manche lebten ihre Homosexualität offen und selbstbewusst aus, andere wollten sich bedeckt halten. Sie waren verheiratet, mochten nicht ausgegrenzt oder angefeindet werden.

«Der Blaue Himmel, die Älpli-Bar, das Musique, der Barfüsser: In den 1950er- und 60er-Jahren gab es eine richtige Szene in Zürich, es kamen auch Leute aller Gattung aus den benachbarten Ländern.»

«Diese Bars waren der einzige Ort, wo man sich zeigen konnte, wie man wirklich war. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen. Aber damals kamen Homosexuelle in der Gesellschaft gar nicht vor. Es gab keinen Platz für uns, es durfte uns nicht geben. Wir waren unsichtbar.»

Besonders für Frauen war wenig Raum für Lebensformen abseits des bürgerlichen Ideals als Ehefrau und Mutter. Umso wichtiger war Verschwiegenheit, und die Fotografin Liva Tresch war verschwiegen. Manchmal kamen Herren auf sie zu, in feinen Anzügen, mit Schnauz und Hut, sie boten ihr viel Geld für Bilder, wohl, um die darauf Abgebildeten zu denunzieren.

Oder es tauchte die Polizei auf, um das Homosexuellenregister mit Informationen aufzufüllen (dieses Register wurde erst 1978 abgeschafft). Geredet wurde aber auch in den eigenen Kreisen.

Oft war nicht das gesellschaftliche Umfeld das Problem, der Feind hockte in der eigenen Szene. Missgunst, Eifersucht, der fehlende Respekt voreinander, das habe viel kaputtgemacht, erinnert sich Liva Tresch.

Von ihren Freundinnen waren einige politisch aktiv und gingen auf die Strasse, Liva Tresch aber wollte das nicht einleuchten: «Lesbischsein hat mit Politik nichts zu tun», fand sie damals. Lesbische Frauen organisierten sich in Zürich bereits Anfang der 1930er-Jahre, eine politische Bewegung hat sich aber erst wieder ab 1970 formiert.

In diese Zeit fällt auch die Gründung der Homosexuellen Frauengruppe in Zürich, die Liva Tresch miterlebt hat. «Mir waren diese Kreise zu abgehoben, zu elitär. Viel Gerede, wenig dahinter.»

Heute sieht sie das anders. «Politische Prozesse brauchen Geduld, schliesslich kann man einem grünen Apfel am Baum auch nicht befehlen, ab heute bist du eine reife Berner Rose.» Das Engagement der lesbischen Frauen in den 1970er- und 1980er-Jahren habe viel zum Ausbau der Rechte von Homosexuellen beigetragen, wie sie heute im Gesetz verankert sind.

1968 eröffnete Liva Tresch zusammen mit Katrin in Zürich ein Fotogeschäft mit eigenem Labor. Sie hatte die Frau einige Jahre davor kennen und lieben gelernt.

Die Beziehung hielt zwanzig Jahre, war voller grosser Wunder und kleiner Freuden, dann verliess Katrin sie wegen einer anderen Frau. Sex wollte sie all die Jahre keinen, Liva akzeptierte das, aus Respekt und aus Liebe.

Die Jahre nach der Trennung waren hart. Heute haben sich die Frauen ausgesöhnt, sie trinken am Morgen gemeinsam Kaffee.

Als Katrin wegzog, richtete sich Liva Tresch in ihrer Wohnung ein Fotostudio ein und arbeitete weiter. Bis sie 1997, sie war 64, an einer Thrombose auf dem rechten Auge erkrankte und fast erblindete.

Sie musste die Fotografie aufgeben und das Geschäft, verlor aufs Mal ihr Einkommen und den Mut. «Damals war ich noch einmal richtig tief unten. Der Fotoapparat war mir das Wichtigste.»

Fast ein ganzes Leben habe sie gebraucht, um zu sich selbst zu finden, sagt Liva Tresch. Um zu erkennen: Wer sich verleugnet, zerbricht daran. Das klingt schrecklich pathetisch, sie, die inzwischen Gelassene, weiss das.

«Ich habe mich versöhnt mit mir, mich lieben gelernt. Und habe die Wut auf meine Widersacher verloren, von denen ich in meinem Leben genug hatte.»

Zu oft ist sie, die sich mit einer Alpenrose vergleicht, für andere Abschaum gewesen. «Aber das ist vorbei. Ich bin nicht mehr Opfer, dieser Haufen Elend, den man beschützen und bemitleiden muss.»

Dass sie wegen der Schmerzen kaum noch Schlaf findet, habe sein Gutes. «Ich verbringe meine Nächte mit brösmele, mit philosophieren über Gott und die Welt».

Vor dem Tod hat sie keine Angst, ach was, der kann kommen, sagt Liva Tresch, inzwischen neunzigjährig. «Meinen Körper habe ich dem Anatomischen Institut in Zürich vermacht, meine Seele lebt weiter. Wie genau? Das weiss ich doch nicht.»

An manchen Tagen fragt sich Liva Tresch, was sie in ihrem Leben geleistet hat und was sie noch bieten kann. «Meine Liebe, was sonst», sagt sie dann, leiser als üblich. Die Frau hält hohe Stücke auf ein authentisches Leben, eines, das auf Selbstachtung baut und darauf, nur das zu tun, was im Einklang steht mit den eigenen Überzeugungen und Gefühlen.

Berichtet Liva Tresch aus ihrem Leben, erzählt sie auch die Geschichte von Li und Vera, sie waren lange ein Vorbild: Beide waren ledig, sie lebten in einer gemeinsamen Wohnung, hatten Arbeit, die eine war Krankenschwester, die andere Büroangestellte, sie waren unabhängig, offen, selbstbewusst, hatten ihre Liebe gelebt, ganz so, als wäre es das Normalste auf der Welt.

Freundinnen
Komplizierte Liebe. Liva Treschs zeigt ein Foto von Li und Vera. Klaus Petrus

Liva Tresch dachte oft: So müsste es doch sein.

Als ihr Li vor ein paar Jahren zufällig begegnete, nach dieser langen Zeit, auf der Strasse, hier im Quartier, da sprach sie davon, dass Vera sie verlassen habe wegen einer anderen Frau. Wie Katrin Liva verlassen hatte wegen einer anderen Frau, nach zwanzig Jahren und einfach so.

«Li war traurig, sie war ein gebrochener Mensch», sagt Liva Tresch und rückt den Feldstecher auf ihrem Tisch näher zu sich. Sie weiss, gleich kommt dieses Abendlicht und legt sich über die Dächer auf der anderen Seite der Strasse. Vögel suchen aufgeregt nach einem Platz in den Bäumen. Vielleicht putzen sie sich bloss ihre Federn. Vielleicht bleiben sie die ganze Nacht.


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