«Die USA sind gegenüber der Schweiz nicht brutal»
Die US-Justiz bekämpft den Steuerbetrug zu Recht so scharf. Das sagt jener US-Richter, der im letzten Frühling die älteste Schweizer Bank Wegelin in die Knie zwang, im Interview mit swissinfo.ch.
Im März verdonnerte Richter Jed Rakoff die St. Galler Traditionsbank zu einer Busse von über 65 Mio. Franken, weil sie US-Bürgern half, Steuern am Fiskus vorbei zu schleusen.
Bereits letztes Jahr hatte Wegelin das Nicht-USA-Geschäft an die Raiffeisen-Gruppe verkauft. Die Bank bekam das volle Gewicht der US-Gesetze zu spüren, und die Verantwortlichen werden von der US-Justiz als Flüchtige betrachtet.
Seither hat die Schweizer Regierung ein Abkommen unterzeichnet, das allen Banken erlaubt, der US-Justiz Kundendaten zu liefern. Auf diese Weise können sie Prozesse vermeiden. Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf hatte die Regelung als «bestmögliches Resultat» bezeichnet.
swissinfo.ch: Schweizer Banken halfen jahrelang US-Kunden beim Steuerbetrug. Ist die US-Justiz zur politischen Behörde geworden?
Jed Rakoff: Dies trifft keineswegs zu. Es herrschten jahrzehntelange Spannungen zwischen den beiden Ländern, weil die Schweiz Steuerbetrügern ein sicherer Hafen war.
Die US-Behörden zogen zuletzt die Schrauben an, weil sie das Gefühl hatten, dass Schweizer Banken ihre Dienste zum Steuerbetrug sehr aggressiv anboten.
Dem US-Justizministerium ging das zu weit: Die Banken boten nicht nur Hand zum Steuerbetrug, sondern machten gar noch aktiv Werbung dafür.
swissinfo.ch: Ist es korrekt, wenn die USA der Schweiz ihre Gesetze aufzwingen?
J.R.: Es ist ein trauriger Fakt der Weltgeschichte, dass starke Nationen gegenüber Schwächeren ihre Macht ausspielten. Das ist hier aber nicht der Fall.
Welches Recht hat ein Land zur Durchsetzung seines Rechts gegenüber einem anderen Staat? Das ist eine alte Diskussion. Die USA dürfen dies nicht tun, ausser ein Land fügt uns Schaden zu.
In der Wahrnehmung der USA stellt das Bankgeheimnis eine ökonomische Entscheidung der Schweiz dar, um ihren starken Bankensektor zu stärken. Das legitimiert sie aber nicht, uns mit massiver Steuerflucht zu schaden.
swissinfo.ch: Weshalb haben die wenigen Schweizer Banker, die vor US-Gerichten standen, keine strengeren Gefängnisstrafen erhalten?
J.R.: In meiner langen Praxis habe ich gelernt, dass es ein Fehler ist, wenn man für das ‹Verbrechen X› eine Strafe von so und so vielen Jahren fordert.
Einige Angeklagte mögen ausgekochte Betrüger sein. Andere haben einen grossen Fehler gemacht, aber sonst ein rechtschaffenes Leben geführt.
Für die Öffentlichkeit ist es sehr schwierig, ein Gefühl für den Menschen zu erhalten, der vor dem Richter steht. Menschen sind manchmal so übel, dass man sie für Jahre hinter Gitter bringen muss. Bei anderen aber ist eine differenziertere Beurteilung angebracht.
swissinfo.ch: Wegelin aber hat für den Bruch des US-Gesetzes den höchsten Preis bezahlt.
J.R.: Als die Grossbank UBS zustimmte, die ungesetzliche Praxis zu stoppen, hatte es die Wegelin-Bank den bewusst auf diese frei werdenden Kunden abgesehen. Die Bank als solches stand hinter diesem Entscheid, es handelte sich nicht um einen Betrug, der von ein paar Individuen vereinbart wurde.
Aber am Ende des Tages sind es immer einzelne Menschen, die sich für den Bruch des Gesetzes entscheiden. Diese sollten das erste Ziel der Ermittlungen sein.
swissinfo.ch: Wie schlimm sind die Vergehen der Schweizer Banken im Vergleich zu den vielen anderen Fällen, die Sie beurteilten?
J.R.: Es gab viel schlimmere Finanzverbrechen, etwa WorldCom und Madoff. Hier begingen Menschen einen Betrug in gigantischem Massstab.
Niemand sieht den Fall der Schweizer Banken auf dieser Stufe, aber niemand stuft ihn auch als unbedeutend ein. Es ging um grosse Summen, und keine Regierung kann funktionieren, wenn die Bürger ihre Steuern nicht zahlen.
swissinfo.ch: Man hört, dass einige Kantonalbanken als staatseigene Institute Immunität verlangen. Was wäre der Vorteil dieser Strategie?
J.R.: Das US-Gesetz gewährt staatseigenen Institutionen mit kommerziellem Zweck keine Immunität. In der früheren Sowjetunion konnte praktisch jedes Unternehmen für Alles und Jedes Immunität verlangen. Man kann Immunität beanspruchen, wenn man sich staatlich verhält, nicht kommerziell.
swissinfo.ch: Wie stark müssen sich Schweizer Unternehmen vor dem US-Justizsystem fürchten?
J.R.: Durch die territoriale Ausdehnung der Anwendung des US-Gesetzes über die Landesgrenzen hinaus wurde die private Rechtsverfolgung in den USA vorsichtiger.
Ein Privater kann nicht auf Betrug klagen, wenn die wichtigen Handlungen ausserhalb der USA stattfanden. Vor 20 Jahren wäre dies noch möglich gewesen. Das Gesetz wurde also für ausländische Investoren vorteilhafter, was Privatprozesse angeht.
Was Verfahren des Staates betrifft, muss man die US-Gesetze einhalten, wenn man hier aktiv sein will. So halten es die meisten Länder.
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)
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