Diese globalen Ungerechtigkeiten führen zu Hunger
Der globale Norden trägt mit unfairen Regeln zu Mangelernährung in Asien, Afrika und Lateinamerika bei.
Krieg, Naturkatastrophen, schlechte Regierungsführung – manche Ursachen von Hunger lassen sich auf die Situation im betroffenen Land selbst zurückführen.
Aber es gibt auch Systemfehler, Ungerechtigkeiten sowie Machtungleichgewichte und Verflechtungen, die eine Entwicklung ärmerer Weltregionen behindern oder direkt zu Hunger führen.
Wenn wir eine wachsende Weltbevölkerung unter den Bedingungen des Klimawandels satt machen wollen, müssen wir laut Uno unsere Ernährungssysteme ändern. Sie lädt daher am 23. September 2021 in New York zu einem Gipfel. SWI swissinfo.ch widmet dem Thema eine Serie.
Beispielsweise die Nahrungsmittelspekulation: Wenn Investorinnen und Investoren aus der Schweiz an den Börsen Reis kaufen, um diesen später zu höheren Preisen wieder zu verkaufen, dann führt das dazu, dass Menschen in Ländern des Globalen Südens sich das Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten können. Wir werfen im Folgenden einen Blick auf die wichtigsten Fehlentwicklungen im Hinblick auf die Welternährung.
Nutztiere fressen Menschen das Essen weg
In den Industriestaaten und zunehmend auch in Schwellenländern wird zu viel Fleisch konsumiert. Tiere fressen über Monate Futter, das angepflanzt werden muss. Deshalb verbraucht die Fleischproduktion für vergleichbare Nährwerte deutlich mehr Boden und Wasser als die Produktion von Getreide, Gemüse oder Hülsenfrüchten. Zudem stossen Nutztiere Treibhausgase aus und tragen somit zum Klimawandel bei.
Eine der grössten Ungerechtigkeiten unserer Zeit ist der Klimawandel: Während reiche Länder seit der Industrialisierung mit ihrem CO2-Ausstoss am meisten zum Klimawandel beigetragenExterner Link haben, leiden die ärmeren Länder am stärksten unter den Auswirkungen wie Bodenerosion, Wasserknappheit und Dürren – die zu Ernteausfällen führen.
Verschwendung von importierten Gütern
Ein Drittel der weltweit produzierten Nahrungsmittel wird weggeworfen. In Ländern des Globalen Südens verderben Lebensmittel nach der Ernte häufig wegen mangelhafter Lagerung, fehlenden Kühlmöglichkeiten oder unzureichender Verkehrsinfrastruktur. In den reichen Ländern des Nordens hingegen sind viele Konsumierende genug wohlhabend, um einen Teil ihres Essens in den Müll zu werfen.
«Es werden Lebensmittel ans andere Ende der Welt transportiert und dort verschwendet», klagt Yvan Schulz von der Schweizerischen Stiftung für Entwicklungszusammenarbeit Swissaid. Foodwaste ist für ihn einer der Fehler in den heutigen Ernährungssystemen, die zu Armut und Hunger führen.
Import – Export
Besonders stossend ist Foodwaste, wenn die verschwendeten Lebensmittel aus Ländern importiert wurden, wo Menschen mangelernährt sind. «Es gibt viele Bodenflächen, die nicht dazu verwendet werden, die lokale Bevölkerung zu ernähren, sondern für Exportprodukte wie Bananen, Kaffee, Kakao oder Palmöl, die auf dem internationalen Markt landen», sagt Schulz. «So sind die Bauern von den Preisschwankungen der internationalen Märkte abhängig. Wenn es schlecht läuft, haben sie nicht genug Geld, um in die nächste Stadt zu fahren und sich dort Essen zu kaufen.» Von Palmöl oder Kaffee werde niemand satt.
«Der Mensch braucht verschiedene Lebensmittel, um sich zu ernähren. Nicht einmal Kartoffeln reichen allein aus», sagt Schulz. Das System von Exporten und Importen kann also zu Hunger führen. Laut Schulz wäre es wichtig, lokal zu produzieren und unabhängig von Lieferketten zu werden. Dann würden auch die Gewinne im Land selbst bleiben und nicht via Grosskonzerne mit Sitz in Europa oder den USA ins reiche Ausland abfliessen.
Landgrabbing
Besonders problematisch wird es, wenn Konzerne oder internationale Investorinnen und Investoren im grossen Stil fruchtbares Land aufkaufen und in Monokulturen Rohstoffe oder Biosprit für den Export produzieren.
Die Konzerne haben laut Schulz kein Interesse an einer Lebensmittelproduktion für die lokale Bevölkerung, da die Kaufkraft vor Ort sehr niedrig sei. Ein Kilo Kaffee lässt sich in der Schweiz für ein Vielfaches dessen verkaufen, was man für ein Kilo Tomaten in Kolumbien bekäme.
Teil des Problems ist, dass viele Staaten den Umgang mit Besitz und Boden nicht regulieren. «In der Schweiz garantiert das bäuerliche Bodenrecht, dass nur Bauern oder Bäuerinnen Land kaufen können und nicht Firmen – das ist in den meisten anderen Ländern nicht der Fall», sagt Christine Badertscher, Grünen-Nationalrätin und Stiftungsrätin bei Swissaid.
Westliche Länder schaffen ungleiche Spiesse
Kleinbäuerinnen und Kleinbauern aus Ländern des Globalen Südens konkurrieren mit internationalen Grosskonzernen. Das Welthandelssystem benachteiligt dabei die Kleinen.
«Handelsabkommen sind meist unfair, reiche Länder und internationale Konzerne nutzen die Länder des Südens aus», sagt Schulz von Swissaid. Entwicklungsländer exportieren vor allem Rohstoffe. Wegen des strukturellen Machtungleichgewichts müssen Produzenten und Produzentinnen aus dem Globalen Süden laut Schulz häufig für zu niedrige Preise verkaufen, weil sie schnell an Geld kommen müssen.
Und nicht nur das: Dank Subventionen, Zöllen und Produktstandards können industrialisierte Länder die eigenen Produkte günstig auf dem Weltmarkt anbieten. Die lokalen Produzentinnen und Produzenten sind deshalb trotz niedrigerer Produktionskosten nicht einmal auf dem eigenen Markt noch konkurrenzfähig. «Westliche Länder machen mit subventionierten Produkten teilweise lokale Märkte kaputt», sagt Schulz.
Zum Beispiel den Geflügel-Markt in Ghana:
Gleichzeitig schützen Industrieländer wie die Schweiz ihre eigene Landwirtschaft mit hohen Zöllen. Patrick Dümmler vom wirtschaftsnahen Think Tank Avenir Suisse regt sich auf: «Es ist doch zynisch, dass wir auf der einen Seite Milliarden in die Entwicklungshilfe stecken, gleichzeitig als Schweiz aber den Import ausländischer Agrargüter mit den welthöchsten Zollsätzen und umständlichen administrativen Vorschriften behindern.» Exporte aus weniger entwickelten Ländern hätten so kaum eine Chance.
Laut Beat Werder von der Syngenta Group sollte gerade Afrika sich dank guten Böden und Wetter eigentlich selbst ernähren können und brauche keine teuren Lebensmittelimporte.
Werder sieht den Fehler aber auch bei den afrikanischen Ländern selbst: «Als wir in der letzten Heuschreckenplage mit einigen unserer Produkte helfen wollten, scheiterte das daran, dass sie in Afrika nicht zeitgerecht zugelassen werden konnten.» Es sei daher zentral, dass diese Länder ihre Produktregistrationsprozesse modernisieren könnten. «Dazu kann auch die offizielle Schweiz über ihre Entwicklungsprogramme einen Beitrag leisten.»
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Abhängigkeit von Saatgut und Pestiziden
Laut Simon Degelo von Swissaid sind manche Bäuerinnen und Bauern des Globalen Südens abhängig von internationalen Grosskonzernen, weil sie Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel von diesen beziehen. Das Problem dabei: «Die Bauern müssen das Saatgut jedes Jahr neu kaufen, sie dürfen es wegen des Sortenschutzes nicht selbst weiterzüchten.»
Die rechtlichen Bestimmungen in vielen Entwicklungsländern kriminalisieren laut Swissaid die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern beim Züchten, Tauschen und Weiterverkaufen eigener Sorten. Obwohl diese meist besser an versalzene Böden und das lokale Klima angepasst seien als die kommerziellen Sorten.
Nigeria und Ghana beispielsweise haben kürzlich beide ein strenges Sortenschutzgesetz verabschiedet. Wenn man als Bäuerin oder Bauer geschütztes Saatgut weiterzieht, riskiert man in Ghana zehn Jahre Gefängnis, in Nigeria ein Jahr. Deutschland ist deutlich milder: Hier müssen Züchterinnen und Züchter entgangene Lizenzgebühren zivilrechtlich einfordern.
Den Vorwurf, Syngenta mache Kleinbauern abhängig von kommerziellem Saatgut, synthetischen Düngemitteln und Pflanzenschutzmitteln und treibe sie in die Schulden, weist der Agrochemiekonzern dezidiert von sich: «Fakt ist, dass die Landwirtschaft heute mit viel weniger Pflanzenschutzmitteln höhere Erträge erreichen kann als früher», sagt Werder. «Wir bringen den Landwirten in den Entwicklungsländern bei, wie das geht.» Syngenta nehme dafür Bodenproben und helfe, das genau passende Saatgut zu finden und die richtigen Mittel zur Schädlingsbekämpfung auszuwählen.
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In einem Punkt sind sich die NGO Swissaid und der Pestizid-Weltführer Syngenta aber einig: Die meisten Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Entwicklungsländern kaufen kein kommerzielles Saatgut. «In vielen Ländern stammen 80 bis 90 Prozent des Saatguts aus bäuerlicher Produktion», so Degelo von Swissaid. Der Markt für kommerzielles Saatgut ist laut Werder von Syngenta in den meisten afrikanischen und einigen asiatischen Ländern sehr schwach entwickelt.
«Die meisten Kleinbäuerinnen müssen das Saatgut vom Vorjahr ‹gratis› wiederverwenden», so Werder. Aufgespartes Saatgut habe oft erhebliche Nachteile gegenüber dem, was Firmen verkaufen würden. «Es bietet keinerlei Ertragssicherheit und es werden Krankheiten vom Vorjahr mitgeschleppt.»
Laut Werder wird durch modernes Saatgut auch nicht «altes Kulturgut» verdrängt, wie Syngenta teilweise vorgeworfen wird. «Vielmehr pflanzen und ‹recyclen› Kleibäuerinnen Sorten, die vor 20 bis 30 Jahren aus der öffentlichen Forschung kamen», sagt der Syngenta-Sprecher.
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