Nigeria, eine Quelle der Inspiration für Netzneutralität?
Seit die USA die Netzneutralität abgeschafft haben, ist die Debatte über das freie Internet auch in der Schweiz entbrannt. In Nigeria konnten Aktivisten die Verankerung der Netzneutralität in einem Gesetz erreichen. Ein zentrales Thema für den afrikanischen Kontinent.
In einer Welt ohne Internet-Neutralität könnte das Surfen im Amazon-Online-Shop viel schneller sein als der Besuch der Seite eines lokalen Kleinanbieters.
Zugangsprovider hätten mit anderen Worten die Möglichkeit, die Ströme nach eigenem Ermessen zu steuern. Es stünde ihnen frei, gegen Entgelt einen schnelleren Zugang zu bestimmten Websites zu gewähren oder von den Inhalte-Anbietern für eine rasche und qualitativ hohe Datenübertragung Extragebühren zu verlangen. Ein System, das die Kleinsten bestraft, die nicht über die Mittel der vier Internet-Riesen Google, Apple, Facebook und Amazon verfügen, um den Breitbandzugang zu ihren Websites zu gewährleisten.
Diese Welt, die den Weg für eine Zweiklassengesellschaft im Internet ebnet, ist in den Vereinigten Staaten seit dem 11. Juni 2018 Realität. Es ist die Folge einer Entscheidung der Eidgenössischen Kommission für Kommunikation vom Dezember letzten Jahres, die für die Abschaffung der Netzneutralität gestimmt hat.
Selbstregulierung in der Schweiz
Alarmiert durch die amerikanische Debatte hat ein Nationalrat Anfang März eine parlamentarische InitiativeExterner Link lanciert, die die Verankerung dieses Prinzips in der schweizerischen Bundesverfassung fordert. Der Text postuliert, dass die Web-Neutralität als ein Grundrecht betrachtet wird, ebenso wie die Meinungsfreiheit.
Im Moment steht es Schweizer Betreibern frei, das zu tun, was sie für richtig halten. Sie haben einen VerhaltenskodexExterner Link erlassen, der festlegt, dass «Internetnutzer sich im Internet frei bewegen und betätigen können». Sie haben auch eine Schlichtungsstelle für NetzneutralitätExterner Link eingerichtet, die sich mit allfälligen Konsumentenbeschwerden befasst.
Für den Verfasser der parlamentarischen Initiative, Mathias ReynardExterner Link von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP), ist diese Form der Selbstregulierung unzureichend. «Da es kein Gesetz gibt, könnten wir durchaus Betreiber haben, die sich für einen Technologiewechsel entscheiden», sagte er am Schweizer Radio RTS. Seine Argumente haben auch Parlamentarier aller politischen Richtungen überzeugt, die den Text mitunterzeichnet haben.
Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des afrikanischen Kontinents
Während sich die Debatte in der Schweiz noch in einem frühen Stadium befindet, denken andere Länder bereits seit einigen Jahren über Massnahmen nach. Dies ist insbesondere in Nigeria der Fall, wo beide Parlamentskammern ein Gesetz über digitale Rechte und Freiheit (Digital Rights and Freedom Bill) verabschiedet haben, das die Neutralität des Internets garantiert. Der Text muss noch von Präsident Muhammadu Buhari angenommen werden, bevor er in Kraft treten kann.
Hinter diesem Kampf steht ein Mann, ‹Gbenga Sesan, der Geschäftsführer von Paradigm InitiativeExterner Link, einem sozialen Unternehmen, das Menschen aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Informations- und Kommunikationstechnologien ausbildet. «Als ich Student war, hatte ich kein Geld und meine zweite Priorität nach jener des Essens war das Internet», erklärte er während einer Debatte über Netzneutralität auf dem Global Media Forum vom 11. bis 13. Juni in Bonn. So beschloss er, für die Demokratisierung des Internets zu kämpfen.
In Nigeria beträgt die Internetdurchdringung gemäss neusten Daten (2016) der Internationalen FernmeldeunionExterner Link nur 25,7%. Zudem verschlechtert eine schlechte Infrastruktur oft die Qualität der Verbindung. «Ein Video auf einem Smartphone anzusehen ist schwierig», sagt Sesan. Eine echte Bremse für die Entwicklung eines Landes, in dem den Universitäten der Platz fehlt, um Studenten aufzunehmen.
Darüber hinaus glaubt der Aktivist, dass einige Regierungen absichtlich versuchen, den Zugang zum Internet zu beschränken, um ihre Kontrolle über die Bürger zu erhöhen. Der Jahresbericht der Paradigm Initiative über digitale Rechte zeigt eine Verschlechterung der Situation im Jahr 2017 auf. Auf der Website der Organisation erklärt ihr Geschäftsführer: «Wir haben 21 Länder in Afrika beobachtet, und wir haben gesehen, dass es immer schlimmer wird. Ausreden, wie die nationale Sicherheit, werden benutzt, um das Internet abzuschalten.»
Dabei wäre der Internetzugang ein entscheidender Faktor für die Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des afrikanischen Kontinents. «Alles, was die Freiheit des Internets schützt, schützt auch die wirtschaftliche Freiheit. Wer Zugang zum Internet hat, hat bessere Chancen, sein Leben und das seiner Familie zu verbessern», sagt Sesan.
Der nigerianische Gesetzentwurf garantiert nicht nur die Netzneutralität. Er regelt auch die Vertraulichkeit der Daten, will den Zugang zu hochwertigen Infrastrukturen gewährleisten, um die Online-Bildung zu erleichtern, und verbietet es den Behörden, das Internet abzuschalten. Und Sesan ist entschlossen, für die Durchsetzung des Gesetzes zu sorgen: «Wir werden die Bevölkerung informieren und einen Ausschuss von Rechtsexperten bilden, um die Bürger vor Verletzungen zu schützen.»
«»Wir haben eine alte Technologie benutzt, um eine neue zu verteidigen. Wir haben Tausende Fax an Mitglieder des Europäischen Parlaments geschickt.» Thomas Lohninger
Tausende Fax erregen Aufmerksamkeit
Um sein Projekt durchzusetzen, musste Sesan einige Aufklärungsarbeit leisten. «Die Schwierigkeit besteht darin, der Bevölkerung zu erklären, dass dies einen wirklichen Einfluss auf ihr tägliches Leben hat», stellt er fest. Auch in der Europäischen Union konnte 2016 eine Verordnung zum Schutz der Netzneutralität nur dank grosser Lobbyarbeit verabschiedet werden.
Thomas Lohninger, Direktor der österreichischen Nichtregierungsorganisation epicenterExterner Link, nahm an der Kampagne teil. «Wir haben eine alte Technologie benutzt, um eine neue zu verteidigen. Wir haben Tausende Fax an Mitglieder des Europäischen ParlamentsExterner Link geschickt. Das war effektiver als E-Mails, die leicht ignoriert werden können», sagt er.
Nach Ansicht des Aktivisten hat die Internet-Neutralität den Vorteil, dass sie Politiker sowohl von links als auch von rechts mobilisiert. Die Linken sind sensibel für den gleichberechtigten Zugang zum Netz, während die Rechten die Netzneutralität eher als Mittel zur Förderung der Innovation sehen.
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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