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Johann Wettstein – der erste Diplomat der Schweiz

Johann Rudolf Wettstein
Johann Rudolf Wettstein (1594-1666) war Basler Bürgermeister und einziger Schweizer Gesandter am Westfälischen Friedenskongress. Er wird als der "erste Diplomat der Schweiz" bezeichnet. Schabkunst von Johann Jacob Haid nach Zeichnung von Johann Ulrich Schellenberg, zw. 1730-1760. wikipedia.org

Vor 370 Jahren endete mit dem Friedenskongress von Münster der Dreissigjährige Krieg (1618-1648). Obschon die Eidgenossenschaft beinahe unversehrt blieb, bot sich am Verhandlungstisch die einmalige Chance, endlich Klarheit zu schaffen – über Handel und fremde Richter, über Machtpolitik und darüber, ob es die Eidgenossenschaft überhaupt gibt. Solche Herkulesaufgaben verlangen nach klugen Diplomaten. Johann Rudolf Wettstein war so einer.


Das Jahr 2018 lässt die Erinnerung an zwei epochale Friedensschlüsse wiederaufleben: Der nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) beschlossene Vertrag von Versailles und der Westfälische Friede von 1648, der den Dreissigjährigen Krieg beendete. Während ersterer als folgenschwerer Misserfolg in die Geschichte einging, gilt der Westfälische Friede noch heute als eines der wertvollsten und nachhaltigsten Vertragswerke der europäischen Geschichte. Swissinfo.ch sprach mit Andreas WürglerExterner Link, Professor für mittelalterliche und frühneuzeitliche Schweizer Geschichte an der Universität Genf über den Krieg, den Frieden und den grossen Schweizer Unterhändler Johann Rudolf Wettstein, den diese Zeit hervorgebracht hat.

Der Dreissigjährige Krieg war – auf das 17. Jahrhundert bezogen – ähnlich verheerend wie der erste Weltkrieg. Es gab Gegenden in Europa, in denen durch den Krieg und den Hunger und die Seuchen, die er mit sich brachte, die Hälfte der Bevölkerung ums Leben kam. Nach dreissig Jahren und Millionen von Toten endete das Schlachten. An dessen Stelle trat das «Westfälische System».

Diese Mächteordnung stehe nicht nur für den Frieden, sondern für einen regelrechten europäischen Paradigmenwechsel, so Würgler. Vor 1648 habe es eine klare Hierarchie in den Herrschaftsverhältnissen in Mitteleuropa gegeben: der Papst und der Kaiser zuoberst, darunter die Könige, Fürsten und Adeligen, zuunterst die Bauern. Die Schweiz gehörte damals noch zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, war somit ebenfalls Teil dieser Hierarchie und folglich kein formell selbstständiger Staat – etwa im Gegensatz zu Frankreich. Die Eidgenossenschaft war bloss ein loser Bund von Kantonen, die für sich selber sorgten.

Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 1648. Die Eidgenossenschaft (unten links) war bis Ende des Dreissigjährigen Krieges Teil dieses von den Habsburgern dominierten «Flickenteppichs». zvg.

Ein Bürgermeister zieht los

In diese Welt wurde Johann Rudolf Wettstein am 27. Oktober 1594 hineingeboren. Er studierte kurz in Basel, machte eine Kanzleiausbildung in Genf, absolvierte einen Söldnereinsatz in Italien und arbeitete sich als Beamter der Stadt Basel beständig bis zum Bürgermeister hoch. «In seiner Biographie vereinen sich alle nützlichen Erfahrungen, die man im 17. Jahrhundert brauchte, um eine diplomatische Rolle einzunehmen – obwohl er ein Emporkömmling war» erklärt Würgler.

1646, als Johann Rudolf Wettstein 52-jährig zum Friedenskongress nach Münster reiste, ging es ihm vor allem um seine Stadt. Wettstein habe in den Friedensverhandlungen zunächst eine Möglichkeit gesehen, die Interessen Basels zu verteidigen, meint der Neuzeithistoriker.

Konkret wollte er den über hundert Jahre andauernden Streit um die Gerichtsbarkeit von Basler Händlern lösen. Basel war damals einer der wenigen Kantone, die es noch nicht geschafft hatten, aus der Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts des Heiligen Römischen Reiches zu entkommen. Dort klagten deutsche Konkurrenten regelmässig Basler Kaufleute ein. Ihre Waren wurden konfisziert. «Das traf die Handelsstadt natürlich im Nerv», erzählt Würgler.

«Die Klagen gegen Basler Kaufleute am Reichskammergericht trafen die Handelsstadt im Nerv.»

Wettstein sah die Gelegenheit gekommen, Basel endlich aus dem Joch der fremden Richter zu befreien.

Als er sich in Münster intensiv mit französischen und niederländischen Gesandten austauschte, begriff er indes bald, dass an diesem Friedenskongress Grösseres verhandelt wurde. «Er wusste, dass es für die Eidgenossenschaft um viel mehr ging als nur um Handelsstreitigkeiten, nur um Basel – er merkte, dass hier ein Europa souveräner Staaten konstruiert wurde», so Würgler. Deshalb drängte er darauf, ein umfassendes Mandat für die ganze Eidgenossenschaft zu bekommen.

Die Eidgenossen halten sich raus

Ein Blick auf die Schweiz von damals zeigt, wie kühn dieses Unterfangen war. Denn die Kantone der Eidgenossenschaft waren weder eng verbunden, noch waren sie sich eins. Es war die Zeit der letzten grossen Konfessionskriege, aber auch der europäischen Hegemonial- und Staatsbildungskonflikte. Katholiken und Protestanten standen sich gegenüber, aber auch rivalisierende Systeme, allen voran das mächtige Haus Habsburg mit seinem Netz an Vasallen und das unabhängige und absolutistische Frankreich.

Mit Ausnahme von Wettsteins Basel hatte sich die restliche Eidgenossenschaft zu dieser Zeit bereits deutlich vom Heiligen Römischen Reich entfernt und fühlte sich in militärischen Belangen nicht mehr dem Kaiser Untertan. Würgler erinnert jedoch daran, dass die konfessionell gespaltene Eidgenossenschaft insofern vom Krieg bedroht war, als dass die protestantischen und katholischen Reichsgebiete ihre Glaubensbrüder in der Schweiz auf ihre Seite ziehen wollten.

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So sei schnell und deutlich klar geworden, dass sich die Eidgenossen nicht auf eine gemeinsame Kriegsposition würden einigen können. Genau so wenig seien einzelne Kantone auf einen Kriegseintritt erpicht gewesen. Denn sonst hätten sich Katholiken und Protestanten nicht nur wie gewohnt als Söldner im Ausland bekämpft, sondern plötzlich auch zuhause. Und am Beispiel des im Dreissigjährigen Krieg von Frankreich und den Habsburgern umkämpften Graubünden sahen die Eidgenossen aus nächster Nähe, wie verheerend sich der Krieg auswirkte.

Die Eidgenossenschaft als Ganze hielt sich also aus dem Blutvergiessen heraus. Von einer gemeinsamen eidgenössischen Neutralitätspolitik war man aber noch weit entfernt:

«Katholische und protestantische Kantone blockierten sich aus Angst vor dem jeweils anderen gegenseitig.»

«Es gab Kreise, die die Zurückhaltung befürworteten, weil die Eidgenossenschaft im Falle eines internen Konfessionskriegs jeglichen Einfluss in Europa verloren hätte. Es gab aber auch Kreise, die die Einmischung wollten. Die Zürcher Geistlichkeit wünschte beispielsweise ein Bündnis mit dem protestantischen Schweden. Die katholischen Kantone unterzeichneten schon Ende des 16. Jahrhunderts einen Bündnisvertrag mit Spanien im Falle eines protestantischen Angriffs. Letztlich blockierten sich die Kantone aus Angst vor dem jeweils anderen gegenseitig.»

Die Schweiz war zwar keine Kriegspartei, verdiente aber sehr gut am Handel mit Kriegsgütern und mit dem Export von Nahrungsmitteln. «Dank ihrer glücklichen Situation als unversehrtes Land inmitten von kriegstreibenden Mächten erlebten der Schweizer Handel und die Landwirtschaft einen regelrechten Boom», sagt Würgler.

Neuordnung Europas

Auf seinen ausdrücklichen Wunsch erhielt Wettstein im Februar 1647 das Mandat, die gesamte Eidgenossenschaft zu vertreten. Was er aus Münster zurückbrachte, war die «Exemtion», eine verbriefte Ausnahmeregelung für den Sonderfall Schweiz. Konkret: eine politische Loslösung aus dem Heiligen Römischen Reich. De jure war die Eidgenossenschaft nun ein souveräner Staatenbund. Um den Handelsstreit mit dem deutschen Kaiser endlich zu beenden, reiste er 1650 nach Wien, um die leidigen Klagen gegen Basler Handelsleute endgültig einstellen zu lassen. 

Sein ursprüngliches Ziel hatte Wettstein damit erreicht. Aber noch viel mehr: Die Schweiz war von nun an souverän, den Einflüssen des Kaisers und seinen Gerichten entzogen. Nach dem westfälischen Frieden galt nunmehr das Prinzip der «Gleichheit der Staaten», erste Ideen eines «Völkerrechts» entstanden. Die Bezeichnung «souveräner Staat» wurde neu jedem politischen Gebilde, das seine Unabhängigkeit ökonomisch und militärisch verteidigen konnte, zugestanden.

«Das Völkerrecht definiert die Staaten primär als gleichwertige, souveräne Subjekte. Die Diplomaten geben sich anstelle einer unterwürfigen Verbeugung gegenseitig die Hand. Doch wie sich die Staaten tatsächlich untereinander verhalten, war damals und ist auch heute noch massgeblich eine Frage der Macht», fasst Würgler zusammen.

Für den Historiker ist die Schweizer Souveränitätsfrage denn auch eng mit der Neutralitätsfrage verknüpft. Die Schweiz musste sich als Kleinstaat neu positionieren. Neutralität sei bis ins 17. Jahrhundert bloss als Abmachung auf Zeit verstanden worden, nicht aber als dauerhafte Doktrin, wie sie heutzutage im öffentlichen Bewusstsein verankert ist. Die Schweizer hätten erst in den 1670er-Jahren angefangen, sich auf ihre im Krieg erfolgreiche neutrale Haltung zu berufen und den damals noch geächteten Begriff aufzuwerten.

Abbildung der Wettsteinbrücke um 1900
Die nach dem Unterhändler benannte Wettsteinbrücke in Basel. Abbildung von 1900 aus der Sammlung von Thomas Meyer, Edition Photoglobe Zürich. wikipedia.org/

«Schweizer Nationalhelden sind typischerweise vor- oder überkonfessionell – man denke an Tell, Winkelried oder Bruder Klaus.»

Wettstein, ein Held der Moderne?

Neutralität, Souveränität, Überkonfessionalität: All diese Schweizer Errungenschaften waren Produkt jahrhundertelanger Kämpfe und Diskurse. Wettsteins Erfolg in Münster bildet einen Meilenstein in dieser Entwicklung.

«Er war alleine in Münster und vertrat somit als einziger ‹Diplomat› die gesamte Eidgenossenschaft», ordnet Würgler ein. «Seine grösste Leistung war, dass er schnell begriffen hat, was beim Friedenskongress auf dem Spiel stand.» Er habe die Zeichen der Zeit, den Wechsel zum Westfälischen System, rechtzeitig erkannt.

Die Eidgenossenschaft aber tat sich lange schwer, Wettstein Achtung zuzusprechen. Einerseits habe es noch fast fünfzig Jahre gedauert, bis sich alle Kantone wirklich bewusst wurden, dass sie nun vom Kaiser exemt – also entbunden – waren. Andererseits habe Wettstein daheim viele Sympathien verloren, als er als Bürgermeister von Basel im Bauernkrieg von 1653 hart gegen die Bauern vorging, erklärt Würgler.

«Und obschon sich Wettstein selber bereits für die konfessionelle Verständigung in der Eidgenossenschaft eingesetzt hat, blieben Schweizer Nationalhelden typischerweise vor- oder überkonfessionell – man denke an Tell, Winkelried oder Bruder Klaus. Wettstein konnte als Protestant für die Katholiken kein wirklicher Held sein.»

Erst mit der Aufklärung und dann vor allem mit der Gründung des Bundesstaates 1848 und der konfessionellen Aussöhnung besann sich die Schweiz wieder auf Wettstein. 1881 wurde zu seinen Ehren eine neue Brücke in Basel benannt. Die elegante Wettsteinbrücke.

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