Darf ein Bundesrat zwei Pässe haben?
Die Doppelbürgerschaft von zwei Kandidaten im Rennen um die Nachfolge von Didier Burkhalter im Bundesrat stiess auf Kritik der Rechtskonservativen. Ignazio Cassis hat seinen italienischen Pass aufgegeben, und Pierre Maudet ist bereit, auf seinen französischen Pass zu verzichten. Ein Entscheid, der die Gemüter erhitzt.
Offiziell gibt es keine Vorschrift, die einen Schweizer Minister daran hindern würde, gleichzeitig Bürger eines anderen Staats zu sein. Den sieben Mitglieder der Landesregierung (Bundesrat) ist es aber untersagt, ausländische Titel oder Orden anzunehmen; gemäss Gesetz dürfen sie auch keine offiziellen Funktionen für ausländische Staaten ausüben.
In der Geschichte der modernen Schweiz gibt es mindestens einen bekannten Fall eines Doppelbürgers im Bundesrat. Es war der Basler Emil FreyExterner Link (1891-1897), der kurz vor Ausbruch des Sezessionskriegs nach Amerika ausgewandert war und in der Armee der Nordstaaten als Major gedient hatte.
«Emil Frey wurde ausgezeichnet und erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz begann seine politische Karriere hier, die ihn bis in die Landesregierung führte. Seine Doppelbürgerschaft war in der damaligen Zeit kein Problem, sie wurde vielmehr als Vorteil betrachtet», erklärt Hans-Ulrich Jost, Historiker und emeritierter Professor der Universität Lausanne.
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Doch als sich der Erste Weltkrieg abzuzeichnen begann und mit dem Erstarken der nationalistischen Kräfte in Europa wurde die Identifikation eines Politikers als Bürger eines weiteren Landes in der Schweiz zum Gegenstand steter Kontroversen, wie Jost sagt. «Gewisse Bundesräte hatten zwar einen Schweizer Pass, von ihren Empfindungen her standen sie aber entweder Deutschland oder Frankreich näher. Das war zum Beispiel der Fall bei Arthur HoffmannExterner Link (1911-1917). Er stand klar hinter dem Nachbarn im Norden und versuchte, zusammen mit dem Schweizer Sozialisten Robert Grimm auf eigene Faust einen Friedensschluss zwischen dem revolutionären Russland und dem Deutschen Reich zu vermitteln. Ein Skandal, der ihn schliesslich zum Rücktritt zwang», erklärt der Historiker.
SVP gegen Doppelbürgerschaft
Bis heute reitet die nationalkonservative Rechte (Schweizerische Volkspartei, SVP) immer wieder Attacken gegen die Doppelbürgerschaft, obschon diese in der Schweiz seit den frühen 1990er-Jahren ohne Einschränkungen zugelassen ist. So hatte die stärkste Partei des Landes 2004 versucht, mit Vorstössen im Parlament die Doppelbürgerschaft zu verbieten. Vier Jahre später kam sie erneut auf das Thema zurück, diesmal mit der Forderung, dass Eingebürgerte auf ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit zu verzichten hätten. Doch auch dieser Vorstoss kam nicht durch.
Gegen 900’000 Personen – rund 17% der Schweizer Staatsangehörigen – besitzen neben dem roten Pass mit weissem Kreuz noch den eines anderen Landes. Im Bundesparlament, einem Spiegel der Schweizer Gesellschaft, sitzen denn auch viele Abgeordnete, die ihre französische, italienische, spanische oder auch türkische Staatsangehörigkeit behalten haben, die sie von ihren Eltern erbten.
Zu ihnen gehörte auch Ignazio Cassis, der Fraktionschef der FDP.Die Liberalen im Bundesparlament und Kronfavorit im Rennen um die Nachfolge von Didier Burkhalter im Bundesrat. Letzte Woche gab der Tessiner bekannt, dass er auf seine italienische Staatsbürgerschaft verzichte, die auf seinen Vater zurückging. «Das ist eine persönliche Entscheidung, die ich traf, als ich mich entschied, als Kandidat für die Bundesratswahl anzutreten», erklärte er gegenüber dem Westschweizer Radio RTS.
«Das ist eine persönliche Entscheidung, die ich traf, als ich mich entschied, als Kandidat für die Bundesratswahl anzutreten.»
Ignazio Cassis
Um seinen Entscheid zu begründen, verwies Ignazio Cassis auf das Beispiel der Diplomaten. «Von unseren Botschaftern verlangen wir, dass sie nur eine Staatsbürgerschaft haben. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass ihr Chef zwei haben könnte», erklärte der Politiker, der im Fall seiner Wahl am 20. September in den Bundesrat der neue Chef des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) werden könnte. Eine ungenaue Aussage: Das Verbot ist zu Beginn des Jahres vom Bundesrat aufgehoben worden.
Offenbar will Ignazio Cassis auch den kleinsten Zweifel an seiner Loyalität gegenüber der Schweiz vermeiden, vor allem im Fall von Konflikten mit anderen Staaten. «Es geht um die Glaubwürdigkeit unserer Institutionen», begründet er seinen Entscheid.
Diskretion war angesagt
Der Genfer Pierre Maudet, der ebenfalls für den frei werdenden Sitz von Didier Burkhalter in der Regierung kandidiert, ist französisch-schweizerischer Doppelbürger. «Ich bin in der Schweiz geboren, habe hier meine Schulzeit verbracht und meinen Militärdienst absolviert. Ich fühle mich also ganz als Schweizer. Ich kann aber nicht ausradieren, dass ein Teil meiner Familie aus Frankreich stammt. Das ist ein Teil meiner Persönlichkeit», bekräftigt Maudet gegenüber swissinfo.ch.
Der Genfer ist aber bereit, seinen französischen Pass zumindest vorübergehend abzugeben, falls sich die Landesregierung so entscheidet. «Ich verstehe, dass dies einen Teil der Bevölkerung stört. Wenn der Gesamtbundesrat findet, dass es zu Problemen führen und Kontroversen auslösen könnte, vor allem falls ich das Departement für auswärtige Angelegenheiten oder das Verteidigungsdepartement leiten würde, werde ich diesem Entscheid gerne nachkommen», erklärt er.
«Ich kann aber nicht ausradieren, dass ein Teil meiner Familie aus Frankreich stammt.»
Pierre Maudet
Bevor sie ins Rennen um die Nachfolge von Didier Burkhalter im Bundesrat stiegen, waren Pierre Maudet und Ignazio Cassis sehr diskret gewesen, wenn es um ihre Doppelbürgerschaft ging. Der Tessiner hatte erst in aller Öffentlichkeit darüber gesprochen, nachdem ein Artikel im Mattino de la Domenica, der Gratiswochenzeitung der Lega dei Ticinesi, der populistischen, rechtskonservativen Partei, darüber berichtet hatte.
«Erbärmlicher» Entscheid
«Die SVP betrachtet Doppelbürger als schlechte Schweizer oder als Schweizer zweiter Klasse. Deshalb hängen viele Politiker, die Karriere machen wollen, ihre Zugehörigkeit zu einem anderen Land als dem, in dem sie gewählt wurden, nicht freiwillig an die grosse Glocke», sagt der Historiker Hans-Ulrich Jost.
Gewisse Linke und Vertreter der politischen Mitte werfen Ignazio Cassis, und in geringerem Masse auch Pierre Maudet nun vor, dem Druck der SVP zu rasch nachgegeben zu haben. «Es ist erbärmlich, wenn man seine Identität aufgibt», erklärte zum Beispiel der christlichdemokratische Walliser Staatsrat (Mitglied der Kantonsregierung) Christophe Darbellay im Westschweizer Radio RTS.
«Wir haben hier zwei Männer, die seit Jahren ihrem Land dienen, und nun möchte man sie praktisch wegen Verrats anklagen?», empörte sich die Waadtländerin Ada Marra auf Twitter. Die italienisch-schweizerische Doppelbürgerin sitzt für die Sozialdemokratische Partei im Nationalrat.
«Das Signal, das er [Ignazio Cassis] damit aussendet ist sehr schlecht: nämlich eine Inkompatibilität zwischen der Schweizer und der italienischen Identität, obwohl die transalpine Immigration unser Land und insbesondere unsere Infrastruktur gestaltet hat», liess sich die Grüne Liza Mazzone, die ebenfalls die italienisch-schweizerische Staatsbürgerschaft hat, in der Westschweizer Tageszeitung 24heures zitieren.
Auf jeden Fall beabsichtigen die Rechtskonservativen, aus der in den letzten Tagen ausgebrochenen Kontroverse Kapital zu schlagen. Der Tessiner SVP-Nationalrat Marco Chiesa kündigte an, er werde zwei parlamentarische Vorstösse zu dem Thema einreichen: Der erste zielt auf ein Verbot der Doppelbürgerschaft für Mitglieder des Bundesrats ab, mit dem zweiten Vorstoss sollen die Abgeordneten verpflichtet werden, ihre Staatsbürgerschaften im Register der Interessenverbindungen des Parlaments einzutragen.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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