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Christoph Blocher: «Alle sind gegen die Mehrheit des Volks»

Die SVP sei die einzige Partei, welche die Interessen der Bevölkerung vertrete, sagte Christoph Blocher an der traditionellen Albisgüetli-Tagung im Januar. Keystone

Die Politiker machen nicht, was das Volk will, sagt Christoph Blocher. Deshalb brauche es die Durchsetzungsinitiative. Regierung, Parlament, zahlreiche Richter, der Wirtschaftsdachverband lehnen die Initiative ab. Der "Classe politique" gehe es um einen reinen Machtkampf, sagt der ehemalige Bundesrat der wählerstärksten Partei der Schweiz.

Der Volkswille werde nicht umgesetzt, kritisierte die Schweizerische Volkspartei (SVP) nach der Annahme ihrer «Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer» 2010. Noch bevor das Parlament ein Umsetzungsgesetz verabschieden konnte, lancierte die SVP die sogenannte Durchsetzungsinitiative.Externer Link Am 28. Februar entscheidet das Stimmvolk darüber.

Mit der Initiative würde direkt anwendbares Recht in der Verfassung formuliert und damit das Parlament als gesetzgebende Instanz ausgehebelt. Im Interview mit swissinfo.ch rechtfertigt SVP-Chefstratege Christoph Blocher den Schritt.     

swissinfo.ch: Herr Blocher, das Volk hat nicht immer recht, oder?

Christoph Blocher: Natürlich nicht. Volkes Stimme ist nicht Gottes Stimme. Aber die der Politiker auch nicht. Die Frage ist eine andere, dort wo das Volk entscheidet, soll der Entscheid gelten, auch wenn Politiker finden, es sei falsch.

swissinfo.ch: Haben Sie keine Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Bürger? 

Chr.B.: Auf jeden Fall keine grösseren Zweifel als bei Politikern. Aber sagen Sie mir, wo hat denn das Volk in den letzten 150 Jahren in wichtigen Dingen so falsch entschieden? Nirgends. Das kann man in all den Ländern, wo die Politiker entschieden haben, wirklich nicht sagen. Das Beispiel aus der Neuzeit: Nur dank dem Volksentscheid ist die Schweiz nicht Mitglied der EU. Wäre es nach den Politikern gegangen, wäre die Schweiz heute längst Mitglied!

In unserem Staat ist der oberste Gesetzgeber die Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger.

swissinfo.ch: In Ihrer Rede an der traditionellen Albisgüetli-Tagung haben Sie gesagt, dass die SVP für die Schweiz Partei nimmt. Immerhin rund 70% der Bürger wählen nicht die SVP. Diese Wählenden haben vielleicht eine andere Vorstellung davon, was die Schweiz ist?

Chr.B.: Wenn es um die Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und die direkte Demokratie geht, ist die SVP leider die einzige Partei. Darum ist sie zur stärksten Partei geworden. Und bei Sachabstimmungen, wo es um diese Werte geht, hat sie das Schweizer Volk hinter sich.

swissinfo.ch: Wissen nur Sie, was die Schweiz ausmacht?

Chr.B.: Nein, aber Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und die direkte Demokratie sind unsere Grundwerte – auch in der Verfassung. Ohne diese Staatssäulen ist die Schweiz nicht mehr die Schweiz. Ich wehre mich dagegen, dass die Behörden – die Politiker – sich nicht mehr ans Volksmehr halten, weil sie behaupten, dass sich das Volk irrt. Das geht nicht.

swissinfo.ch: Gehören Sie als ehemaliger Bundesrat nicht auch zur Classe politique?

Chr.B.: Nein. Ich habe diesen Begriff 1992 geprägt, aber immer negativ. In der Schweiz darf es keine Classe politique geben, die sich über die Bürgerschaft erhebt.  Aber es gibt sie leider immer mehr. Da gehören auch massgebliche Wirtschaftskreise dazu, so auch Banken, Wirtschaftsverbände etc. Alles was «Rang und Namen hat», gegen die Mehrheit der Bürger, ist unschweizerisch.

swissinfo.ch: Bisher war es in der Schweizer Demokratie so, dass das Volk in der Verfassung nicht Details, sondern die Richtung vorgab, und das Parlament den Auftrag mit einem Gesetz umsetzen musste. Weshalb wollen Sie das ändern?

Chr.B.: Ich will es nicht ändern. Aber weil Behörden und Parlament – und neuerdings auch das Bundesgericht, das vom Volk bestimmte geltende Recht und die Verfassung missachten, ist eine Durchsetzungsinitiative notwendig, um den Volksentscheid von 2010 durchzusetzen.

swissinfo.ch: Das Parlament aber hatte anders entschieden. Missachtet die SVP damit nicht die Gewaltentrennung, die ein wichtiger Pfeiler der Schweizer Demokratie ist?

Chr.B.: Die Gewaltentrennung gilt für die Staatsgewalten. Parlament, Regierung – also Bundesrat und Verwaltung – und die Justiz. Aber alle drei Gewalten unterstehen dem Recht, das sich die Bürger gegeben haben. Das ist das Besondere an der Schweiz. Sie ist das einzige Land auf der Welt, wo die Bürgerinnen und Bürger die Gesetzgebung bestimmen. Und sie hat sehr gute Erfahrung damit gemacht. Gerade darum geht es der Schweiz besser.

«Secondos sind Ausländer und Bürger eines anderen Landes.» (Christoph Blocher)

Bei der Ausschaffungsinitiative haben Volk und Stände [Kantone, N.d.R.], sich für die automatische Ausschaffung ausländischer Verbrecher entschieden. Dagegen haben Volk und alle Kantone damals den Gegenvorschlag verworfen, dass die Richter – wie heute entscheiden sollen, ob dies für den Kriminellen zumutbar sei. Und nun verabschiedet das Parlament ein Gesetz, das dem abgelehnten Gegenvorschlag von damals entspricht – mit einer Täterschutzklausel, die man als Härtefallklausel bezeichnet. Ausländische Verbrecher sollen damit das Aufenthaltsrecht nicht automatisch verlieren. So wird die Demokratie ausgehebelt. Dies will die Durchsetzungsinitiative verhindern.

swissinfo.ch: Laut Justizministerin Simonetta Sommaruga werden Ausländer gemäss dem vom Parlament verabschiedeten Gesetz schon jetzt bei schweren Verbrechen wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung konsequent ausgeschafft (vgl.unten).

Chr.B.: Hier sagt die Justizministerin nicht die Wahrheit. Mit der im Gesetz vorgesehenen Täterschutzklausel werden eben gerade auch Mörder, Totschläger, Vergewaltiger und andere Schwerverbrecher nicht automatisch ausgewiesen. So bekommt man die verheerende Ausländerkriminalität nie in den Griff.

swissinfo.ch: Manche Verbrecher kann man nicht ausweisen, weil die Herkunftsländer diese Leute nicht aufnehmen wollen.

Chr.B. Das ist nur vereinzelt der Fall. Ich spreche von jenen, die man nicht ausgewiesen hat, und nicht von jenen, die man nicht ausweisen konnte. Landesverweis und Einreiseverbot lassen sich durchsetzen.

swissinfo.ch: Aus welchen Gründen hat man diese kriminellen Ausländer nicht ausgewiesen?

 Chr.B.: Weil es für den Verbrecher zu hart gewesen wäre. Wer die Urteile über nicht ausgewiesene Verbrecher liest, dem stehen die Haare zu Berge. Aber an die Opfer von Gewaltverbrechen denkt niemand.

swissinfo.ch: Die Gegner Ihrer Initiative argumentieren, dass es in der Verfassung auch noch andere Bestimmungen hat, wie die Verhältnismässigkeit und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die vom Volk auch gutgeheissen wurden.

Chr.B.: Die Menschenrechte sind längst in der Verfassung und sollen auch weiter gelten. Die EMRK hat nicht Verfassungsrang. Sie wurde ohne obligatorisches Referendum beschlossen. Aber es gibt Verfassungsbestimmungen, die man nicht ändern kann. Das ist das sogenannte zwingende Völkerrecht. Das gilt auch für die Durchsetzungsinitiative. Es steht auch deutlich im Initiativtext, dass man z.B. niemand zurückschicken darf, in ein Land, wo der Betreffende an Leib und Leben bedroht ist.

swissinfo.ch: Und das Verhältnismässigkeitsprinzip?

Chr.B.: Auch das gilt mit der Durchsetzungsinitiative. Der Verfassungsgeber hat die Verhältnismässigkeit mit der Ausschaffungsinitiative entschieden. Aber rechtliche und vermeintliche Widersprüche in der Verfassung kann es stets geben. Darum gilt der Grundsatz, dass die neue Bestimmung der älteren vorgeht. Und die spezielle Bestimmung geht der allgemeineren vor. 

swissinfo.ch: Sie wollen auch Ausländer zwingend ausweisen, die Delikte wie Hausfriedensbruch in Verbindung mit Sachbeschädigung begangen haben. Ist das verhältnismässig?

Chr.B.: Sie meinen Einbruchdiebstahl. Das ist Diebstahl verbunden mit Hausfriedensbruch. Angesichts der vielen Opfer und dem hohen Anteil krimineller Ausländer ist dies dringend nötig.

swissinfo.ch: Und das soll auch für einen vorbestraften Secondo gelten, wenn es nach Ihnen geht?

Chr.B.: Ja. Secondos sind Ausländer und Bürger eines anderen Landes.

swissinfo.ch: Und jugendliche Ausländer, sollen sie auch betroffen sein.

Chr.B.: Nein, für das Jugendstrafrecht gilt die automatische Ausschaffung nicht. Jugendliche Täter können schon heute ausgewiesen werden, aber nicht automatisch.

swissinfo.ch: Es ist nicht einfach, die Ausschaffungsinitiative umzusetzen. Allein mit der Auflistung von Delikten, welche die automatische Ausschaffung bedeuten, ohne dass die Umstände genauer betrachtet werden, wird man der Komplexität nicht gerecht.

Chr.B.: Ausschaffung setzt ein rechtmässiges richterliches Urteil voraus. Die Umstände zieht der Richter selbstverständlich bei der Beurteilung des Delikts in Erwägung. Ein Ausländer wird, genau wie ein Schweizer durch einen Gerichtsbeschluss verurteilt, aber der Ausländer verwirkt sich bei schweren Delikten seine Aufenthaltserlaubnis.

swissinfo.ch: Für den Schweizer ist die Sache ausgestanden, wenn er nach ein paar Monaten aus dem Gefängnis kommt, der Ausländer, auch der Secondo, wird in ein Land ausgeschafft, das ihm vielleicht sehr fremd ist.

Chr.B.: Das ist der Sinn des Bürgerrechtes. Wenn der Schweizer ein solches Delikt in England begeht, wird er nachher auch heimgeschickt, weil er kein Engländer ist. Jedes Land muss für seine eigenen Landsleute schauen.

Justizministerin Simonetta Sommaruga Keystone

swissinfo.ch: Wieso will die Classe politique die ‹kriminellen› Ausländer, auch Schwerstverbrecher, unbedingt in der Schweiz behalten?

Chr.B.: Jetzt ist ein Machtkampf im Gange. Sollen die Bürger oder die Classe politique entscheiden? Das Volk will, dass endlich gegen diese Ausländerkriminalität vorgegangen wird und die Opfer geschützt werden. Aber die Classe politique will allein entscheiden.

Das sagt die Justizministerin

«Die Schweiz hat heute eines der strengsten Ausschaffungsgesetze in Europa», sagte Justizministerin Simonetta Sommaruga in der TV-Sendung Arena. «Das Parlament hat Gesetze verabschiedet, wonach Ausländer, die schwere Straftaten begehen, konsequent ausgeschafft werden. Aber die Durchsetzungsinitiative führt dazu, dass sogar Secondos automatisch ausgeschafft werden, auch wegen Bagatellen.»

Den Einwand, das Volk habe 2010 entschieden, dass es keine Härtefallklausel geben soll, liess die Bundesrätin nicht gelten: «Das ist falsch. In der Ausschaffungsinitiative stand nicht, dass man keine Härtefallklausel anwenden dürfe.» Diese Klausel sei eine Notbremse, die es in jedem Rechtsstaat gebe. Die Hürden für deren Anwendung seien sehr hoch, aber das Parlament habe deutlich gesagt, dass bei Raub, Mord, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung eine konsequente Ausschaffung erfolgen müsse.

«Aber wenn es um eine Bagatelle sowie um einen schweren persönlichen Härtefall geht und die betreffende Person kein Sicherheitsrisiko ist, dann soll der Richter hinschauen dürfen. Das steht einem Rechtsstaat gut an.»

Die Mehrheit des Stimmvolks entscheide, was in der Bundesverfassung steht. Sie habe auch entschieden, dass sie verhältnismässige Entscheide wolle, dass ein Richter den Einzelfall prüfen soll. Und «die Bevölkerung hat auch entschieden, dass wir eine Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wollen.»

Auf die Frage, ob die Härtefallklausel auch gelte, wenn die Durchsetzungsinitiative angenommen wird, sagte Sommaruga: «Dann wird der Richter entscheiden müssen, ohne Gesetz, sondern nur aufgrund der Bundesverfassung. Und dort stünden einerseits die EMRK und andererseits die automatische Ausschaffung ohne Härtefallklausel. Also ein Widerspruch.»

Wenn man immer mehr Widersprüche in die Bundesverfassung schreibe, werde die Rechtssicherheit aufs Spiel gesetzt. Eines der Probleme dieser Initiative sei, «dass sie verlangt, dass das Volk die Rolle des Parlaments übernimmt und selber Gesetze macht».

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